Kein Erfolg für Kindsmörder Gäfgen beim EGMR

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 30.06.2008

Der wegen Ermordung des 11 Jahre alten Bankierssohns Jakob von Metzler  - die Tat geschah im September 2002 - zu lebenslanger Haft verurteilte Magnus Gäfgen  kann nicht auf eine baldige Wiederaufnahme seines Verfahrens und damit auf ein milderes Urteil hoffen. Die auf Verletzung des Folterverbots und Verletzung des fairen Verfahrens, Art. 3 und 6 EMRK, gestützte Individualbeschwerde des zwischenzeitlich 33 Jahre alten Gäfgen wies der EGMR in Straßburg mit sechs Stimmen zu einer Stimme heute zurück. Gegen das Urteil ist noch Einspruch möglich.

Gäfgen  wollte eine Verurteilung Deutschlands wegen Verstoßes gegen die EMRK erreichen. Er hatte den EGMR angerufen, weil ihm die Polizei bei seiner Vernehmung im Jahr 2002 angedroht hatte, ihm Schmerzen zuzufügen. Die Straßburger Richter entschieden nun anders: Gäfgen könne nicht mehr behaupten, Opfer von Folter oder unmenschliche Behandlung gewesen zu sein. Auch sein Recht auf ein faires Verfahren sei nicht verletzt worden, weil keines der durch die Folterdrohung erwirkten Geständnisse im Strafprozess verwertet wurden  (laut FAZ.NET von heute).

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11 Kommentare

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Soweit ich mich erinnere, hatte er sein Geständnis im Prozess wiederholt, anstelle einfach von seinem Recht zu schweigen gebraucht zu machen, und schauen was geschieht. Moralisch war das gut, prozesstaktisch aber wohl schlecht.

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Sehr geehrter Herr Prof. Dr. v. Heintschel-Heinegg,

Sie schreiben "Gäfgen könne nicht mehr behaupten, Opfer von Folter oder unmenschliche Behandlung gewesen zu sein"; dies trifft meines Erachtens so nicht zu: Er ist Opfer von Folter bzw. unmenschlicher Behandlung gewesen, er ist es aber jetzt nicht mehr. Vgl. Sie dazu die Rn. 82: "Therefore, the applicant can no longer claim to be the victim of a violation of Article 3.", wo das Gericht die Form "to be a victim" - also den Präsens - verwendet.

Dagegen war Gäfgen bis zu den Entscheidungen durch die deutschen Gerichte durchaus Objekt unmenschlicher Behandlung (Rn. 70).

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Zudem kann das "can no longer claim" auch dahingehend verstanden werden, dass er nicht länger für sich in Anspruch nehmen kann, als Opfer von Folter behandelt zu werden (to claim bedeutet ja nicht nur behaupten). Dieser Einwand ist ihm nun juristisch verwehrt. Nicht aber die (nichtjuristische) Tatsachenfeststellung, die auch der EGMR getroffen hat, dass er Opfer von Folter wurde.

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[...] zum Fall gibt es hier beim mephisto-blawg, natürlich sagt auch RTL Aktuell was dazu, der Beck-Blog inkl. Kommentaren, Magnus Becker ist auch nicht sehr zurück haltend während Jurabilis wie immer sehr korrekt [...]

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Sehr geehrter Herr Eckstein, sehr geehrte Herren,

da ich die Entscheidung zeitnah in den Blog einstellen wollte, musste ich mich auf das verlassen, was ich als die tragenden Gründe z.B. bei FAZ.NET fand.

Natürlich stutzt man, wenn es heißt, die Opferrolle sei entfallen. Dazu: Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR entfällt die Opfereigenschaft unter zwei Voraussetzungen, nämlich wenn der beklagte Staat den Verstoß "anerkennt" und "angemessen" wieder gutmacht. Sowohl das LG Frankfurt/Main als auch das BVerfG haben in klaren Worten "anerkannt", dass gegen das Folterverbot verstoßen wurde. "Angemessen" entschädigt wurde Gäfgen nach Auffassung des Gerichts dadurch, dass die betreffenden Polizeibeamten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden und das das unter Zwang erpresste Geständnis in der Hauptverhandlung nicht verwertet werden durfte. Ob das als Kompensation reicht, gibt sicher Anlass zu einer Diskussion.

Mit freundlichen Grüssen
Bernd von Heintschel-Heinegg

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Vorweg eine Nachfrage: Kann ich das tatsächlich so verstehen, dass die Opferrolle nur rein rechtstechnisch entfallen ist, er sie also in folgenden Prozessen nicht mehr geltend machen kann? Oder soll die von den Medien verwendete Formulierung tatsächlich darauf hindeuten, dass er nicht mehr von sich sagen dürfe, dass er ein Opfer von Folter geworden ist?

Ob die Verurteilung von Daschner überhaupt eine Kompensation darstellt halte ich für fragwürdig. Zum einen enthält das Schuldurteil ja zu wesentlichen Teilen eben keine opferbezogenen, sondern präventions- und damit mehrheitlich täterbezogene Aspekte. Zudem würde diese Argumentation darauf hinauslaufen, dass selbst eine schwersverletzte Person (z.B. bei realer Folterausübung) durch ein unheimlich zurückhaltendes Urteil ihren Opfertstatus verlieren würde.
Zu beachten ist aus meiner Sicht auch, dass eben nur Daschner verurteilt wurde. Er selbst hat aber in Ausübung seiner Amtstätigkeit gehandelt. Auch den Benefit aus seinen rechtswidrigen Handlungen hat nicht er erlangt, sondern die Bundesrepublik bzw. das Bundesland, für das er gehandelt hat. Insofern kann - selbst wenn man der Annahme des EGMR grundsätzlich folgen will - eine tatsächliche Kompensation erst dadurch eintreten, dass der Begünstigte verurteilt wird. Eine solche Überleitung ist meines Erachtens auch deshalb notwendig, weil die Beamten (und Angestellte) von dem Hoheitsträger mit besonderen, an sich hoch risikoreichen Befugnissen (Ausübung des staatlichen Machtmonopols) ausgestattet wurden.
Als juristische Person ist Deutschland aber nicht strafrechtlich verfolgbar. Daher müsste in einem solchen - wohl recht häufig auftauchenden - Fall als Ersatz eine finanzielle Entschädigung treten, die ebenso wie das Strafrecht auch präventive Bezüge aufweist.

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Zu Ihrer Nachfrage: Die Bundesrepublik Deutschland wurde deshalb nicht verurteilt, weil nach Auffassung des EGMR der Beschwerdeführer kein Opfer (mehr) ist. Verständlich wird dies vor dem Hintergrund des lediglich subsidiären Rechtsschutz durch die MRK. Die Konvention gilt unmittelbar für alle Mitgliedstaaten des Europarats. Die Gerichte der einzelnen Mitgliedsländer prüfen, ob ein Konventionsverstoß vorliegt. Es erfolgt also gleichsam eine Vorprüfung durch die nationalen Gerichte, so dass der jeweilige Staat Konventionsverstöße korrigieren und damit die Opferrolle als Voraussetzung für eine Verurteilung des Mitgliedsstaats durch den EGMR in Wegfall bringen kann.

Hinter der Kompensation steht - wie schon bemerkt - (noch) ein großes Fragezeichen. Da bin ich noch am Grübeln.

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Das "endgültige" Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird am 1. Juni verkündet werden. Wie das Verfahren nunmehr ausgeht, erscheint völlig offen. Umso mehr bin ich auf die Entscheidung mit ihrer Begründung gespannt

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