Sabine Rückert "Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen" ausgewählt für die "Juristischen Bücher des Jahres"

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 11.11.2008

Seit fast 15 Jahren trifft sich ein Kreis bekannter Ordinarien, um einer breiteren juristischen Öffentlichkeit "Juristische Bücher des Jahres" zur Lektüre zu empfehlen. Die aktuelle Auswahl behandelt Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg, in NJW 2008, 3331. Darunter findet sich auch das Buch von Sabine Rückert " Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen". Gegenüber den bisherigen Empfehlungen fällt diese in gewisser Weise aus dem Rahmen; denn hier handelt es sich nicht um eine abgewogene Abhandlung oder einen pointierten Essay zu Grundfragen des Rechts oder der Rechtsentwicklung. Spannend, ja aufrüttelnd wird vielmehr aus der Perspektive einer Journalistin die erschütternde Geschichte zweier Fehlurteile beschrieben.

Das Buch, das ich schon vor einiger Zeit an anderer Stelle besprochen und jedem Juristen und angehenden Juristen zur Lektüre empfohlen habe, erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die Vater und Onkel beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Beide verbüßen nach ihrer Verurteilung mehrjährige Freiheitsstrafen - zu Unrecht, wie sich später herausstellt. Wie es zu diesen beiden Justizirrtümern kommen konnte, schildert die Autorin, die maßgeblich zur Aufklärung des falls beigetragen hat, in ebenso eindringlicher wie bedrückender Weise, dass es schwer fällt, das Buch aus der Hand zu legen, wenn man mit der Lektüre begonnen hat. Das Schicksal des vermeintlichen Opfers wird "zum Spiegel der dunklen Seite des Feminismus" (S. 80). Nachdem die Gepflogenheiten, überall Kindesmissbrauch zu wittern, ihn mit großer Entschlossenheit inquisitorisch aufzudecken und das Aufgedeckte strafrechtlich zu verfolgen, in den achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer regelrechten Zwangsvorstellung geworden war, erfasste die wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen auch Europa. In Deutschland kam es zu spektakulären Freisprüchen (Mainz, Münster, Worms). Zu den wenigen, die die heraufziehende Gefahr schon früh erkannten, gehören die beiden langjährigen Gerichtsreporter des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, der inzwischen verstorbene Gerhard Mauz und seine Nachfolgerin Gisela Friedrichsen (ihr vor kurzem erschienenes Buch "Im Zweifel gegen den Angeklagten. Der Fall Pascal - Geschichte eines Skandals" will ich demnächst hier vorstellen).

Die Geschichte, wie die beiden Fehlurteile bei unvoreingenommener Betrachtung der Beweislage hätte vermieden werden können, sollte bereits für die Studenten an den juristischen Fakultäten gleichsam eine studienbegleitende Pflichtlektüre sein. Der Leser erfährt viel über Glaubwürdigkeitsgutachten. Mehrmals wird auf die beiden zentralen deutschen Standardwerke eingegangen: Peters "Fehlerquellen im Strafprozess" und Bender/Nack/Treuer "Tatsachenfeststellung vor Gericht". 

Fehlurteile kommen in allen Ländern vor und auch die Ursachen der Fehlurteile sind in allen Ländern dieselben: Mängel in der Beweisaufnahme und im Verfahren, menschliche Fehlerquellen, Gesetzesmängel, aber auch in der Psychologie die Urteilsfindung kann die Ursache liegen. Nur: Fehlurteile sind nicht unvermeidlich. Aber nur wer die Ursachen kennt und sich mit ihnen auseinander setzt, kann dazu beitragen, dass Fehlurteile im Strafprozess möglichst vermieden werden. Noch etwas gelingt der Autorin in beeindruckender Weise, die herausragende Bedeutung der Unschuldsvermutung auch bei massiven Anschuldigungen deutlich zu machen!

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6 Kommentare

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Auch ich bin ganz begeistert von diesem Buch und habe es schon mehrfach empfohlen. Hier wird auch wieder einmal deutlich, warum der von der Öffentlichkeitkeit oft wenig geschätzte Beruf des Strafverteidigers eine so maßgebliche Rolle in unserem Rechtsstaat spielt. Ohne einen Strafverteidiger wie Johann Schwenn - auf den die Staatsanwaltschaften oft genug schimpfen (Stichwort Konfliktverteidiger) - hätte diese Geschichte noch viel schlimmer ausgehen können.

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Die Bewertung des Buches von Sabine Rückert ist vollkommen zutreffend. Trotzdem gibt es keine Sicherheit, nicht einmal eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, daß Ähnliches nicht morgen oder den nächsten Monat oder nächstes Jahr wieder geschieht. Eine der Ursachen für solche Fehlurteile(nicht nur bei Sexualstraftaten) liegt in einem der größten Fehler des deutschen Strafprozesses, nämlich in Folgendem:
Bevor die Richter, welche über Schuld oder Unschuld und gegebenenfalls über das Strafmaß entscheiden, den Angeklagten erstmals anhören, ihn überhaupt zu Gesicht bekommen, bevor ein einziger Zeuge seine Aussage beginnt, sogar bevor die Anklage in der Hauptverhandlung vorgetragen wird, haben diese Richter die gesamten Akten gelesen. Diese Akten enthalten sämtliche Berichte, Aussagen, Gutachten, Bewertungen und Zusammenfassungen der Ermittlungsbehörden. Sie enthalten auch Informationen über evtl. Vorstrafen des Angeklagten (Vorurteile in jedem Sinne dieses Wortes)und oft sogar die gesamten Akten dieser früheren Verfahren. Das alles lesen die Richter, bevor sie überhaupt mit dem beginnen, was alleine Grundlage ihrer Entscheidung sein soll, nämlich mit der Hauptverhandlung (§ 261 StPO). Was geschieht bei uns Menschen im Kopf aber, wenn wir Berichte usw. lesen über ein Geschehen, welches uns interessiert, ja interessieren muß? In unserem Kopf entsteht eine Meinung, wie "es wohl gewesen sein wird". Diese Meinung entsteht unausweichlich, ob wir das wollen oder nicht.
Es ist nun aber eine Tatsache, daß es unendlich schwierig ist, eine einmal gefaßte Meinung über einen Sachverhalt zu ändern. Oft ist das sogar unmöglich. Schünemann hat dies "Perseveranzeffekt" genannt(in Strafverteidiger 2000, S. 159). Daher kommt es, daß die Verteidigung oft bereits zu Beginn einer Hauptverhandlung den Eindruck hat, die Sache sei schon entschieden. Hinzu kommt das Phänomen der selektiven Wahrnehmung. Informationen, die zu dem im Kopf bereits existierenden Bild von den Ereignissen passen, werden schnell und leicht zur Kenntnis genommen. Informationen, welche diesem Bild widersprechen werden aber leicht unterbewertet, schnell vergessen oder erst garnicht registriert.
Abhilfe wäre nur möglich, wenn die Richter, die die Verhandlung leiten und schließlich auch entscheiden, dies tatsächlich nur aufgrund des Geschehens in der Verhandlung tun können, weil sie nur dies und nichts anderes wissen und kennen.

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@ Thomas Fischer:

Der Berliner Strafverteidiger Gerhard Jungfer hat einmal dafür den Begriff "Inertia-Effekt" gebraucht.

In Kenntnis dieser Problematik ist es Aufgabe des Verteidigers, so früh wie möglich diesem Effekt entgegen zu treten. Dies setzt natürlich eine rechtzeitige Übernahme des Mandats voraus, was leider nicht selten die Ermittler vermeiden möchten.

Ist der Verteidiger dann beauftragt, bekommt er erst nach Abschluß der Ermittlungen (§ 147 II StPO) vollständige Einsicht in die Akten. Dann sind die Messen meist schon gesungen. Und ohne die Ermittlungsbemühungen en detail zu kennen, kann eine Einflußnahme nicht (effektiv) stattfinden. Daß die Ermittlungen auch ohne Verteidiger in beide Richtungen - Be- und Entlastung - geführt werden, ist die Theorie des Gesetzes und der RiStBV; die Praxis sieht anders aus.

Gleichwohl gibt es im Prozeßrecht zwei Strohhalme, an die sich der Verteidiger in diesen "Perseveranz-/Inertia-Fällen" klammern kann: Das sind die beiden Schöffen, die aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpfen und die gleiches Stimmrecht wie die Berufsrichter haben. Die beiden darf ein Verteidiger nicht aus den Augen verlieren.

(In den Fällen vor dem Strafrichter ist es meist der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, der die Akten nicht kennt. ;-) )

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Zweifelsohne ist die "Voreingenommenheit" ein zentrales Problem unseres Strafprozesses. Aber ohne Vorurteile können wir nicht durchs Leben gehen; wir vertrauen eben an einer Fußgängerampel wartend darauf, nicht von hinten niedergestochen zu werden. Nur: Der Jurist muss sich seiner Vorurteile bewusst und deshalb auch bereit sein, diese zu revidieren - wie jede Nichteröffnung und jeder Freispruch zeigt, nachdem dem Angeklagten bereits durch das Gericht ein hinreichender Tatverdacht (in Haftsachen sogar dringender Tatverdacht = große Wahrscheinlichkeit späterer Verurteilung) "bescheinigt" wurde.

Das soll aber nicht heißen, dass mit Blick auf die zutreffend angesprochene Problematik unser Strafprozess nicht verbessert werden könnte. Hier wäre mir ein wichtiger Punkt, dass der schon vor langer Zeit gemachte Vorschlag umgesetzt wird, nämlich dass (lassen wir mal das AG aus) die Richter, die über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden, nicht auch diejenigen sind, die die Hauptverhandlung durchführen. Beim IStGH ist es etwa so!

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Hallo Frau Rückert,

ich habe Sie heute in der Holzklotz Angelegenheit in Oldenburg gesehen und mit bekommen wie Sie Herrn Koch Ihre Bücher gezeigt haben, ich wusste nicht das Sie diese Sabine Rückert sind ,daher möchte ich Ihnen nur kurz mitteilen das ich fast alle Ihre Bücher gelesen ,ich kann nur sagen weiter so.

Joachim Hoffmann
26123 Oldenburg
Bürgerstraße 18a

PS
Anwalt Koch hatdas geschafft was er durch seine ewigen Einlassungen wohl auch wollte ,beim nächsten Termin ist sein Kollege wieder dabei

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Hallo Frau Rückert,
Wie sie ja schon ein Buch über das Unrecht der Gerichte geschrieben haben, das ich nicht kenne, möchte ich mich trotzdem mit der Bitte um Hilfe an sie wenden.
Meine Freundien und ich wurden auch wegen sexuellem Missbrauch verurteilt, ohne eine ehrliche Chanz, unsere Unschuld zu beweissen. Seither geht der Kampf ums Recht weiter, doch ohne wirklicher Erfolgsmöglichkeit, da ein Wiederaufnahmeverfahren im vorfeld abgelehnt wird.
Auch über sämtlichen anderen Klagen, wird uns nur das Urteil gezeigt und dies ist für weitere verurteilungenausreichend.
Meine Freundin darf sich nun in Augsburg, wegen angeblicher FALSCHAUSSAGE rechtfertigen. Ihr wurde schon gesagt, dass das Urteil als Beweismittel zugelassen ist, ihre Beweisse und Zeugen allerdings nicht interessiren.
Dies ist wohl nicht der Kommentar, denn Sie erwartet hatten, für uns aber vielleicht ein Hilferuf, der gehör findet. Wir sind nämlich am Ende, nicht nur finanziel, denn Recht oder Unrecht ist eine teure angelegenheit.

Mit freundlichen Grüßen

Alexander Koller

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