Sexueller Missbrauch - Verjährungsfristen verlängern?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 08.03.2010

Bei § 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Kindern) beträgt die Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB zehn Jahre, beginnt aber erst nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs (§ 78 b StGB). Angesichts des Verdachts von Missbrauchs- und Misshandlungsfällen in kirchlichen Einrichtungen und Internatsschulen, von denen einige bereits vor Jahrzehnten geschehen sein sollen, ist von einigen Politikern die Forderung erhoben worden, man solle die Verjährungsfristen verlängern (Schavan, Merk, Seehofer - CDU/CSU, Stegner - SPD).
Gegen solche Änderungen hat sich nun Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ausgesprochen (Quelle). Die Aufklärung eines Geschehens, das ja oftmals ohne Zeugen blieb, ist nach so langer Zeit schwierig, oft unmöglich. Für eine Verlängerung wird angeführt, dass sich Opfer oftmals erst Jahrzehnte später zur Strafanzeige durchringen, weil die psychischen Verletzungen durch die Straftat auch noch längere Zeit so schwer wiegen, dass sich das Opfer keiner offiziellen Stelle offenbaren möchte, und weil möglicherweise eine innere Loyalität zu der Institution auch noch lange Zeit später empfunden wird.

Welche Position ist hier die Richtige?
Die Forderung nach Verlängerung der Verjährung entspricht einem bekannten rechtspolitischen "Reflex" (der natürlich die jetzt schon verjährten Fälle sowieso nicht mehr erfassen kann), geht aber hier in die falsche Richtung. Durch die Verjährung wird nur eine individuelle Strafverfolgung gehindert, nicht aber die gesellschaftliche und vor allem institutionelle Aufklärung. Auf eine solche Aufklärung kommt es aber an, und dies unabhängig von der Strafjustiz. Eine individuelle Strafverfolgung könnte sogar das Gegenteil von dem bewirken, was jetzt erforderlich ist, nämlich eine Reduktion auf individuelle Schuld Einzelner bei gleichzeitiger "Entschuldigung" der institutionellen Rahmenbedingungen: Es muss aber debattiert werden,  was Institutionen künftig tun können, um Verhältnisse zu vermeiden, die solche Geschehensabläufe  erleichtern bzw. gar produzieren. Dies zeigt sich auch an Details der aktuellen Debatte. So wurde ja bekannt, dass bereits in den 60er/70er Jahren Missbrauchsvorwürfen bei den Regensburger Domspatzen nachgegangen wurde und hier sogar Verurteilungen erfolgten. Wenn nun dennoch heute Empörung laut wird, dann doch offenbar nicht, weil hier die Verjährung Strafverfolgung gehindert hat, sondern, weil man damals diese Fälle - trotz öffentlicher Verurteilung - nicht öffentlich diskutiert hat. Damals schützte man die Institution durch ein "Gebot des Schweigens" und sieht sich in der Folge erst heute insofern verspäteten Vorwürfen ausgesetzt. Der öffentliche Diskurs, so schmerzhaft und überzogen er häufig ist, wäre er damals schon geführt worden, hätte vielleicht schon bewirkt, dass man in den betr. Institutionen, v. a. der katholischen Kirche, besser auf mögliches Fehlverhalten der Erzieher und Pädagogen geachtet hätte.

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15 Kommentare

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Wenn jemand nach Jahrzehnten Strafanzeige stellt sind meistens die Täter längst 70+ alt oder tot, ein Strafverfahren würde ins Leere laufen. Denn diese Missbräuche finden ja wohl kaum durch junge Lehrer statt, sondern durch alteingesessene, die eine gefestigte Position in solchen Einrichtungen haben.

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Gegen die jetzigen Verjährungsregeln kann man nichts Essentielles einwenden. Denn wer vor seinem 28. Geburtstag nicht den Mut und den Abstand vor der Aufarbeitung hat, wird es wohl auch nicht mit 40 oder 50 haben. Wenn man sich entschieden hat, solche eigenen Sachverhalte zu verdrängen statt aufzuarbeiten, dann kann man später auch nicht mehr diesen Rechtsfrieden brechen und muss mit seiner Überlebensstrategie auch dann leben.

 

Nach 20 - 30 Jahren ist das Strafbedürfnis des Staates für die einzelne Tat nur noch sehr eingeschränkt vorhanden. Es ist sicherlich schwer vergleichbar, aber wenn man die Verjährung mit den Verjährungsfristen anderer Taten vergleicht, etwa beim Totschlag (30 Jahre, § 78 III Nr. 1) oder Mißhandlung Schutzbefohlener (10 Jahre, § 78 III Nr. 3), dann wäre eine deutlich höhere Verjährungsfrist für einen sexuellen Missbrauch zumindest objektiv betrachtet systemwidrig und unverhältnismäßig.

 

So schlimm solche Vergehen (!) sind, darf man nicht dazu gelangen, dass man bei besonders abstoßende Taten die Gesinnung hier besonders berücksichtigt, so dass man praktisch eine strafrechtliche "Sonderbehandlung" wg. populistischer Erwägungen genießt. Das Schweigen der Opfer ist ein soziales Problem, kein rechtliches. Die Verjährungsfrist ist mit maximal 28 Jahren lang genug. Wenn die Opfer dann immer noch schweigen, stimmt es in der Gesellschaft nicht (Hilfsangebote? Schweigekartelle? Schweigezahlungen?) und nicht im Strafrecht.

 

Ich sehe daher andere, bessere Ansatzpunkte:

 

- Man muss darüber nachdenken, ob sexuelle Straftaten in so einem Ausmaße im Rahmen von Schulausbildung oder durch Lehrer bzw. Erziehungspersonen anzeigepflichtig werden müssen bzw. die Nichtanzeige strafbar werden muss, siehe § 138 StGB.

 

- Die kath. Kirche sollte kirchenintern über eine andere Verjährungsnorm im Kirchenstrafrecht nachdenken. Soweit ich den Medien das entnehmen konnte, gilt für solche Straftaten eine kircheninterne Verjährung von nur 10 Jahren, beginnend mit dem Deliktszeitpunkt.

Ebenso sollte man kirchenintern das Recht prüfen, ob solche Personen nicht grundsätzlich vom Kontakt mit Kindern ausgeschlossen werden können. Die Versetzung auffällig gewordener Personen in andere Gemeinden entspricht nicht mehr dem Erkenntnisstand hinsichtlich dieser Erkrankung.

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1. Prof. Müller stellte folgende These auf:

"Eine individuelle Strafverfolgung könnte sogar das Gegenteil von dem bewirken, was jetzt erforderlich ist, nämlich eine Reduktion auf individuelle Schuld Einzelner bei gleichzeitiger "Entschuldigung" der institutionellen Rahmenbedingungen: Es muss aber debattiert werden,  was Institutionen künftig tun können, um Verhältnisse zu vermeiden, die solche Geschehensabläufe  erleichtern bzw. gar produzieren."

Dem stimme ich zu, warne aber zugleich vor der Annahme, dass diesem Argument im nun folgenden rechtspolitischen Diskurs größerer Erfolg beschieden sein könnte. Gerade von konservativer Seite wird die These bestritten, dass die Durchsetzung eines extensiven Strafanspruchs gegenüber dem regelverletzenden Individuum zugleich die (strukturellen) Verantwortungsbeiträge gesellschaftlicher Institutionen aus der "Schusslinie" nehme und die Institutionen mithin unbillig entlaste. Der Konservative hält dem erstens seine beinharte Verantwortungslehre entgegen, nach welcher es nur allzu gerecht ist, den Strafanspruch gewissermaßen im regelverletzenden Individuum als einzigem Zurechnungsobjekt zu monopolisieren. Zweitens aber wird er auch meinen, dass strukturelle Defizite am besten durch die Angst des Einzelnen vor einer Strafe bewältigt werden könnten.

Es ist ein seltsamer und durchaus beschämender Umstand, dass es immer noch hochgescheite Menschen in Politik und Wissenschaft gibt, die das Strafrecht für das erste und naheliegendste Instrument zur Herstellung adäquater gesellschaftlicher Verhältnisse erachten...   

2. egal schrieb:

"Man muss darüber nachdenken, ob sexuelle Straftaten in so einem Ausmaße im Rahmen von Schulausbildung oder durch Lehrer bzw. Erziehungspersonen anzeigepflichtig werden müssen bzw. die Nichtanzeige strafbar werden muss, siehe § 138 StGB."

Ich glaube kaum, dass es mit einer solchen Strafandrohung für Mitwisser gelingen kann, die Kartelle des Schweigens in manch kirchlicher Organisation aufzubrechen. Der Mitwisser, der nicht zugleich Mittäter ist, wird in aller Regel ein glasklares Verwerflichkeitsurteil über sexuellen Missbrauch der bekannt gewordenen Art fällen. Einer Verstärkung des Unrechtsbewusstsein durch § 138 StGB bedarf es nicht. Davon abgesehen warne ich auch davor, den § 138 StGB, der aus gutem Grund nur eine sehr kleine Anzahl sehr schwerer Straftaten erfasst, zum Gegenstand rechtspolitischer Reflexe zu machen.

3.  egal schrieb:

"Die kath. Kirche sollte kirchenintern über eine andere Verjährungsnorm im Kirchenstrafrecht nachdenken. Soweit ich den Medien das entnehmen konnte, gilt für solche Straftaten eine kircheninterne Verjährung von nur 10 Jahren, beginnend mit dem Deliktszeitpunkt."

Richtig, es wird Zeit, dass die katholische Kirche als Institution ein Zeichen setzt. Dazu gehört sicher auch ein klares und unmissverständliches Bekenntnis, klare Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaften abzugeben. H. J. Jaschke, der Weihbischof des Erzbistums Hamburg, hatte diesbezüglich erschreckende Angaben in der Sendung "Hart aber fair" vom 24.02.2010 gemacht (http://www.wdr.de/tv/hartaberfair/sendungen/2010/20100224.php5?akt=1). Darin hat er sich zu einem laxen Umgang der Kirche mit der Abgabe an die Staatsanwaltschaft bekannt; man könne nicht erwarten, dass jeder Verdachtsfall abgegeben werden. Das alles klang sehr danach, dass die Kirche im Zweifel die Staatsanwaltschaft nicht hinzuziehe. Das jedenfalls ist ein ungeheuerliches Missstand, da sich die Kirche damit als Institution zumindest partiell der staatlichen Strafgewalt entzieht.

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Es ist schon erschreckend, wie menschenverachtend Juristen argumentieren können.  Während die Kirche zum Handeln aufgefordert wird, sollen staatliche Stellen weiter so machen wie bisher.

Die Aufhebung der Verjährungsfrist ist für die Betroffenen mehr als nur die Genugtuung, dass die Täter betraft werden. Sie soll ein Mittel der Abschreckung sein.

In der Schweiz gibt es keine Verfährungsfrist bei sexuellem Mißbrauch. Warum nicht bei uns? Oder ist das Leben bei uns weniger wert als in der Schweiz?

Eine Aufhebung der Verfährungsfrist wäre auch ein Zeichen der Achtung vor der körperlichen Unversehrtheit der Kinder.

 

 

 

 

 

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@demokrat:

Ich möchte zu Ihren Vorwürfen kurz antworten:

"sollen staatliche Stellen weiter so machen wie bisher"

Wenn die kirchlichen Stellen in der Vergangenheit nicht oftmals ihnen bekannt gewordene Verdachtsmomente verschwiegen hätten, dann hätten Staatsanwaltschaften auch reagiert.

"Die Aufhebung der Verjährungsfrist ist für die Betroffenen mehr als nur die Genugtuung, dass die Täter betraft werden."

Sie übersehen offenbar, dass für die jetzt schon Betroffenen eine Aufhebung der Verjährungsfrist nichts bringt, da einmal verjährte Straftaten nicht nachträglich wieder "aufleben" können.

"Sie soll ein Mittel der Abschreckung sein."

Die These, dass eine längere Verjährungsfrist bzw. deren völlige Aufhebung abschreckend wirke, also einen Täter von der Straftat abhält, ist sehr fernliegend, kriminologisch geradezu abwegig. Wenn überhaupt, ist es die Furcht vor Strafe und Ansehens- und Berufsverlust, die einen Täter "abschreckt". Dass diese Abschreckung offenbar nicht durchgehend gewirkt hat, lag möglicherweise auch daran, dass in den betr. Institutionen zum Teil ein "Schweigegebot" galt, weshalb zum Teil konkrete Verdachtsmomente seitens der Leitungen nicht an die Staatsanwaltschaften gemeldet wurden. Das ist genau der Punkt, den ich oben angesprochen habe.

"In der Schweiz gibt es keine Verfährungsfrist bei sexuellem Mißbrauch."

Meines Wissens (Stand 1. Januar 2010) gibt es auch in der Schweiz eine Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch. (update: Im Januar 2009 war eine "Unverjährbarkeitsinitiative" durch Volksabstimmung in der Schweiz erfolgreich, die Aufhebung der Verjährung ergibt sich aber noch nicht aus Art. 97 StGB Schweiz, Stand vom 1.1.2010)

 

 

Nun ist sie also auch hier zu lesen, die "law and order"-Fraktion, wie man sie sonst nur aus Kommentaren von welt-online kennt: Abschreckung, Kuscheljustiz, Justiz des Täterschutzes, Todesstrafe, lebenslänglich (die Opfer haben auch "lebenslängliche"), Abschaffung der Verjährung sind deren Lieblingsvokabeln. So auch beim hier zu lesenden "Demokraten", dessen Ansichten allerdings erschreckende Resonanz in der Bevölkerung finden. Kein Wunder, dass mittlerweile fast alle Politiker auf diesen populistischen Wagen aufspringen (müssen).

Was eine solche unreflektierte Hysterie bewirken kann, hat man am besten anlässlich der Wormser Missbrauchsprozesse gesehen. Da wurden -zig Menschen zu Unrecht des Kindsmissbrauches bezichtigt und  wirtschaftliche (und teilweise auch physische) Existenzen vernichtet.

Nicht jeder von einem Kind beschuldigte Lehrer hat auch tatsächlich Missbrauch betrieben. Meiner Kenntnis nach halten sich echte und falsche Beschuldigungen in etwa die Wage. Aber nur eine möglichst zeitnahe Ermittlung, Vernehmung und Aufklärung kann die Wahrheit ans Licht bringen. Dies sollte also möglichst zeitnah geschehen, nicht 30 Jahre später.  Da dies aber nicht immer möglich ist, so hat der Gesetzgeber die Verjährungsfristen bis weit ins Erwachsenenalter verlängert, nämlich je nach Schwere 5-10 Jahre nach Volljährigkeit. Damit ist sichergestellt, dass ein Kind, welches sich zunächst in Abhängigkeit befindet und deshalb schweigt, auch als Erwachsener noch gegen den Missbrauch vorgehen kann. In erster Linie wurde diese Art der Verjährung (erst nach Volljährigkeit) natürlich geschaffen für Missbrauchsfälle durch die eigenen Eltern. Denn bei einem intakten Elternhaus werden durch Lehrer missbrauchte Kinder frühzeitig ihre Eltern informieren.

Genau da gilt es anzusetzen: bei der Prävention. Kindern muss beigebracht werden, sich (verbal) zu wehren, und insbesondere früh das Gespräch mit Vertrauenspersonen zu suchen, sei es der Vertrauenslehrer, seien es die Eltern. Es gilt einerseits die Infrastruktur des Verschweigens, Wegsehens und Vertuschens zu zertören, andererseits aber eine Infrastruktur zur Vorbeugung und frühzeitigen Hilfe aufzubauen. Daran fehlte es zumindest in den früheren Jahrzehnten. Neben Vertrauenslehrern, Schulpsychologen, Eltern können auch anonyme Telefonberatung für Kinder eine Hilfe sein. Das kostet natürlich alles etwas Geld.

Der (zugegeben nahezu kostenlose und somit wirklich sehr billige) Ruf nach Verlängerung der Verjährungsfristen, oder gar "Unverjährbarkeitsinitiaven" oder reflexhafte populistische Forderungen nach härteren Strafen werden hingegen so gut wie nichts bringen.

 

 

 

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gerne würde ich mit Ihrem gefachsimpel mithalten und noch mal die pros und cons einer verlängerung der verjährungsfrist aufzeigen.

ich wollte es jahrlang (20 Jahre) nicht wahrhaben. konnte alles verdängen, wollte meine familie nicht verraten.

seit dem wunsch eine eigenen familie haben zu wollen kamen die erinnerungen, die sich leider nicht länger verdrängen ließen und für diese es keine verjährung gibt.

ich bin jetzt bereit mit 31 jahren klarheit zu verschaffen nicht länger schuldiger zu sein und seit 10 jahren räumlicher distanz zu dem Peiniger.

ICH BIN FÜR DIE VERLÄNGERUNG, WEIL OPFER ERST NACH LANGER ZEIT DARÜBER REDEN UND FREUNDE UND FAMILIE ZUM TEIL DADURCH AUCH ÜBER EIGENEN ERLEBNISSE ZU REDEN BEGINNEN.

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Die Ansicht, die sich gegen die Verlängerung von Verjährungsfristen wendet, schaut zu wenig auf die Opfer.

Richtig ist, daß ein gesellschaftlicher Reflex besteht, wenn man bei bestimmten Taten nach Veränderungen- wie u.a. hier der Verlängerung der Verjährungsfristen - ruft. Aus Sicht der Täter sind die jetzigen Verjährungsfristen sehr dankbar - und aus Sicht der Opfer zu kurz. 

Das Argument, die Verlängerung der Verjährungsfristen habe auf die zurückliegenden Taten keine Auswirkung, ist sachlich richtig, doch hilft es den Opfern dies es in der Zukunft gibt.

Es mag richtig sein, daß in anderen Ländern die Verjährungsfristen anders - länger oder kürzer - sind. Doch wozu sind diese Vergleich gut? Sie bringen nichts. Den Opfer hilft dies ebenso wenig.

Die Verlängerung der Verjährungsfrist ist m.E auch nicht systemwidrig. Vor dem Hintergrund, daß die Opfer häufig als Kinder oder junge Jugendliche mißbraucht worden sind, und daher sehr lange Zeit benötigen, um sich überhaupt zu öffnen, halte ich eine Verlängerung der Frist für notwendig. Es wurde in den Medien über Fälle berichtet, in denen Kinder von 9 oder 10 Jahren mißbraucht wurden. In diesem Alter versuchen die Kinder die Erlebnisse zu verdrängen, weil sie auch noch garnicht einordnen können, was genau passiert ist. Erst nach Jahren oder Jahrzehnten können sich die Betroffenen öffnen. Ich bin froh, daß ich dies nie persönlich erlebt habe.

Im Grunde sieht es rechtlich so aus: Die mißbrauchten und mißhandelten Opfer haben keine juristische Handhabe, weder zivilrechtlich noch strafrechtlich. Das Argument lautet: Verjährung.

Ein interessanter Beitrag. Aufgefallen ist mir folgende Passage:

Ich erzähle seit Jahren in Interviews von meinen Domspatzen-Erlebnissen, auch der Presse. Das fand man allenfalls interessant, mehr passierte nicht. „Jeder hat’s gewusst“, sagen auch die Odenwald-Schüler. Aber die Kirchen und die anderen Institutionen verhalten sich wie abgeschlossene Zirkel, wie Sekten innerhalb dieser Gesellschft: Sie wollen nicht zu viel nach außen dringen lassen, um sich selbst nicht zu gefährden. Doch nicht die Verfehlung von Vertretern der Kirche oder der reformpädagogischen Internate ist das Problem – der Mensch ist fehlbar –, sondern der verlogene und vertuschende Umgang damit.

Warum hatte also die Presse bisher kein Interesse daran, sich dieses Themas anzunehmen? Mir scheint, heutzutage wird nur publiziert, wenn man von anderen abschreiben kann oder aber die Meldungen direkt von Polizei und Staatsanwaltschaft kommen. Vor eigenen Recherchen hat die Presse mittlerweile Angst, selbst wenn solche guten Insider-Informationen wie hier zur Verfügung stehen. Gibt es keinen eigenen Enthüllungsjournalismus mehr? Ist man so obrigkeitsgläubig geworden, dass man nur noch Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft veröffentlicht?

Zitat aus dem Bolgartikel:

Durch die Verjährung wird nur eine individuelle Strafverfolgung gehindert, nicht aber die gesellschaftliche und vor allem institutionelle Aufklärung. Auf eine solche Aufklärung kommt es aber an, und dies unabhängig von der Strafjustiz. Eine individuelle Strafverfolgung könnte sogar das Gegenteil von dem bewirken, was jetzt erforderlich ist, nämlich eine Reduktion auf individuelle Schuld Einzelner bei gleichzeitiger "Entschuldigung" der institutionellen Rahmenbedingungen: Es muss aber debattiert werden,  was Institutionen künftig tun können, um Verhältnisse zu vermeiden, die solche Geschehensabläufe  erleichtern bzw. gar produzieren.

 

Es ist absolut richitg, dass eine gesellschaftliche Aufklärung richtig und wichtig ist. Aber warum sollte eine individuelle Strafverteidigung dem gesellschaftlichen Diskurs entgegenstehen? Dieses Argument leuchtet mir nicht ein und erscheint mit ein wenig konstruiert. Es sind ohnehin Hilfsorganisationen, die die Debatte immer wieder neu entfachen. Denen ist "ihr" Thema viel zu wichitg, als dass sie es "stillegen", sobald sich die Rechtslage verbessert. 

 

Zitat Blogeintrag Nr. 2 - Zitat:

Wenn man sich entschieden hat, solche eigenen Sachverhalte zu verdrängen statt aufzuarbeiten, dann kann man später auch nicht mehr diesen Rechtsfrieden brechen und muss mit seiner Überlebensstrategie auch dann leben.

 

Es ist ja nicht so, dass die Opfer sich aussuchen, wann die Erinnerung zurückkehrt. Menschen, die nicht traumatisert sind, können sich das vermutlich nur schwer vorstellen, aber in sehr vielen Fällen tritt das Erinnern erst ein, wenn das Opfer eine stark emotionale Phase durchlebt. Also z. B. ein Familienmitglied stirbt oder eine Beziehung zerbricht. Manche erinnern sich nie, leiden aber lebenslang unter schweren Angstzuständen und Panikattacken, für die sie keine Erklärung finden.

 

Eine Verlängerung der Firsten würde den Opfern zumindest siganilisieren, dass die staatliche Rechtordnung nicht aufhört, ihre Menschenwürde zu verteidigen. Ferner würden Opfer davor geschützt werden, vom Täter der Verleumdung bezichtigt zu werden. Das Opfer würde also auch davor geschützt werden, vom Täter unter Druck (und zum schweigen) gebracht zu werden.

 

 

 

 

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Verjährungsfristen ein „schwerwiegender Makel des deutschen Rechts“

Der britische Kronanwalt Geoffrey Robertson ist Gründer und Leiter der größten britischen Kanzlei für Menschenrechte. Er war in zahlreichen Ländern als Anwalt in bedeutenden verfassungs-, straf- und völkerrechtlichen Fällen tätig. Er leitete Missionen für Amnesty International und vertrat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Robertson ist Mitglied der angesehenen Anwaltsvereinigung Middle Temple. 2008 wurde er als herausragender Jurist zum Mitglied des Internal Justice Council der UNO ernannt.

In seinem Buch „Angeklagt: Der Papst“ (2011) nennt Robertson die deutschen Verjährungsfristen bei sexuellem Kindesmissbrauch „einen schwerwiegenden Makel des deutschen Rechts“.

„Die europäischen Länder müssen ihre unsinnigen, dem Code Napoléon zu verdankenden Verjährungsfristen für die Strafverfolgung von Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern abschaffen“, schreibt der Menschenrechtsanwalt. Es gebe „keinerlei Rechtfertigung für eine Verjährung von Verbrechen, die den Opfern eine derartige Scham einflößen, dass viele erst 20 oder 30 Jahre später darüber sprechen können.“ Das englische Common Law kenne keine solchen Fristen, so Robertson, und es gebe „erdrückende Beweise dafür, dass die zeitliche Beschränkung der Strafverfolgung in den französischsprachigen Ländern es Hunderten von Missbrauchstätern erlaubt hat, der Gerechtigkeit zu entgehen.“ (Robertson, S. 319)

Robertson hält Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ausführlich erläutert Robertson in „Angeklagt: Der Papst“ sowohl die komplexen rechtlichen und völkerrechtlichen Hintergründe zu dieser seiner Einschätzung, wie er ebenso ausführlich darlegt, wieso der Vatikan kein Staat ist und dementsprechend Papst nicht immun.

Es könne „mit einiger Sicherheit gesagt werden, dass der sexuelle Missbrauch kleiner Kinder durch Artikel 7 der Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) implizit abgedeckt werde. Dieser definiert „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unter Einschluss von „Vergewaltigung“ und „sexueller Sklaverei“ oder „jeder anderen Form sexueller Gewalt vergleichbarer Schwere“ sowie „andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.“ (Robertson, S. 246)

Sexueller Missbrauch hat, so Robertson, „nachweislich schwere Auswirkungen auf die geistige Gesundheit und verursacht durchaus seelische Pein“, geschehe er doch „unter Verrat der Fürsorgepflichten“ und sei „häufig gegen sehr junge und sehr verletzliche Personen gerichtet. Nach dem Explanatory Memorandum des IStGH sind derartige Verbrechen „besonders abstoßende Verbrechen dahingehend, dass sie einen schwerwiegenden Angriff auf die menschliche Würde oder eine schwere Demütigung oder Herabsetzung eines oder mehrerer Menschen darstellen. Diese Vorkommnisse treten nicht isoliert oder sporadisch auf, sondern sind Teil einer breit angelegten Verübung von Gräueltaten, die von einer Regierung oder einer De-facto-Autorität toleriert oder gebilligt werden.“ (Robertson, S. 247)

Die Vorstellung, hier seien nur Verbrechen gemeint, die sich in Kriegs- oder bewaffneten Konfliktsituationen vollziehen, hat die Berufungskammer des IStGH für das frühere Jugoslawien laut Robertson zurückgewiesen: Die Kammer hat festgestellt, dass es mittlerweile eine feste Regel im Völkergewohnheitsrecht ist, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit keines Zusammenhangs mit einem internationalen bewaffneten Konflikts bedürfen. (Robertson, S. 244)

Daher fasst Robertson schließlich (u.a.) zusammen: „Der Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche weltweit stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar oder entspricht einem solchen Verbrechen, dessen Strafverfolgung nach internationalem Recht nicht durch Verjährungsfristen beschränkt werden kann“. (Robertson, S. 319)

Die in Deutschland geltenden straf- und zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch, wonach beispielsweise jemand, der mit 12 Jahren missbraucht wird, dies spätestens mit 28 Jahren offenlegen muss, andernfalls der Täter nie mehr (!!) strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird und er auch nur dann einen zivilrechtlichen Schadensersatz erhält, wenn er sich spätestens mit 24 Jahren meldet, nennt der renommierte Menschenrechtsanwalt „einen schwerwiegenden Makel des deutschen Rechts“.

Diese [deutschen] Verjährungsvorschriften, so führt Robertson aus, stammten aus dem römischen Recht (erstmals erschienen sie 450 vor Chr. Auf den „Zehn Tafeln“). Zitat Robertson: „Deutschland muss Kindesmissbrauch ernst nehmen, ob er von Priestern verübt wird oder von anderen Personengruppen. Da wir heute im Gegensatz zu den alten Römern wissen, dass es sich hier um Verbrechen handelt, das die Opfer häufig erst lange nach dem Missbrauch zur Anzeige bringen, sollte der deutsche Gesetzgeber dringend handeln, um sämtliche Verjährungsfristen für die Verfolgung dieses Verbrechens abzuschaffen – Verjährungsfristen, die so vielen Missbrauchstätern ein Entkommen ermöglicht haben.“ (Robertson, S. 320)

 

(Quelle: Geoffrey Robertson QC, „Angeklagt: Der Papst“, Gabriele-Verlag 2011, unbedingt lesenswert auch für nicht durch die katholische Kirche Betroffene und andere Interessierte!)

 

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Weshalb sind schwerste Jahre andauernde psychische Krankheiten wie schwerste Posttraumatische Belastungsstörung, schwerste Dissoziationen, schwerste Psychosen etc. nach zB. Mißbrauch und andere sexuelle Straftaten mit jahrelanger Arbeitsunfähigkeit und langen Klinikaufenthalten, dass Furchtbares stattgefunden hat, keine Beweise, wenn die Opfer vorher kerngesund waren ?

 

 

 

 

  

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Sehr geehrter Gast,

solche Belastungen können zwar Hinweise auf  Schädigungen sein, sie stellen aber keine Beweise für (eine) konkrete Tat(en) durch einen bestimmten Täter dar. Dies wäre aber für Anklage und Verurteilung notwendig.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

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