BGH: Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf Grundlage des Patientenwillens nicht strafbar

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 27.06.2010

 

 

Auf die Entscheidung haben viele schon lange gespannt gewartet, die Rechtspolitiker sind sich in der Bewertung nicht ganz einig: Mit Urteil vom 25. Juni 2006 (Az.: 2 StR 454/09; die schriftlichen Urteilsgründe liegen noch nicht vor; Pressemitteilung des BGH hier) hat der 2. Strafsenat des BGH den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen für nicht strafbar angesehen, wenn er dem Willen des Patienten entspricht. Die Richter sprachen einen wegen versuchten Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilten Rechtsanwalt frei, der einer Frau geraten hatte, den Schlauch für die künstliche Ernährung ihrer Mutter durchzuschneiden. Die im Koma liegende schwerkranke Frau hatte zuvor mündlich den Wunsch geäußert, die künstliche Ernährung einzustellen.

Sachverhalt 

Der Angeklagte ist ein auf dem Gebiet des Medizinrechts spezialisierter Rechtsanwalt. Er beriet die beiden Kinder der 1931 geborenen schwerkranken Frau. Diese lag seit Oktober 2002 in einem Wachkoma. Sie wurde in einem Pflegeheim über einen Zugang in der Bauchdecke künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Gesundheitszustands war nicht mehr zu erwarten. Entsprechend eines von der Patientin im September 2002 mündlich für einen solchen Fall geäußerten Wunschs bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu Betreuern ihrer Mutter bestellt worden waren, darum, dass die künstliche Ernährung ihrer Mutter eingestellt wird, um ihr ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss. Das Heimpersonal sollte sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten. Nachdem die Tochter am 20.12.2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäftsleistung des Gesamtunternehmens am 21.12.2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Patientin wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte der angeklagte Rechtsanwalt der Tochter der Patientin am gleichen Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen. Diese schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde die kranke Mutter auf Anordnung der Staatsanwaltsschaft gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen später eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.

Verurteilung des Rechtsanwalts durch das Landgericht wegen versuchten Totschlags

Das LG hat erstinstanzlich das Handeln des Angeklagten als einen gemeinschaftlich mit der Tochter begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun – im Gegensatz zum bloßen Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung durch Unterlassen – gewürdigt, der weder durch eine mutmaßliche Einwilligung der Patientin noch nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt sei. Auch auf einen entschuldigenden Notstand könne sich der Angeklagte nicht berufen. Soweit er sich in einem so genannten Erlaubnisirrtum befunden habe, sei dieser für ihn als einschlägig spezialisierten Rechtsanwalt vermeidbar gewesen. Die Tochter hat das LG freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe.

 BGH spricht frei und sieht sich an frühere Entscheidungen nicht gebunden

Der BGH hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten jetzt aufgehoben und den Anwalt freigesprochen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen sei, sei zur Tatzeit durch miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Entscheidungen des BGH noch nicht geklärt gewesen. Divergenzen in der Rechtsprechung beträfen die Verbindlichkeit so genannter Patientenverfügungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig sei, daneben auch das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung einer Entscheidung des gesetzlichen Betreuers über eine solche Maßnahme. Der Gesetzgeber habe diese Fragen durch das Patientenverfügungsgesetz mit Wirkung vom 01.09.2009 aber ausdrücklich geregelt. Der Senat habe daher entscheiden können, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein.

Einwilligung der Patientin war bindend

Im Ergebnis zutreffend sei das LG davon ausgegangen, dass die durch den Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig gewesen sei und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme als rechtswidriger Angriff gegen das Selbstbestimmungsrecht der Patientin gewertet werden habe können. Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die ihre Betreuer geprüft und bestätigt hätten, habe bindende Wirkung entfaltet und stelle sowohl nach dem seit September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gelte jetzt, wie inzwischen § 1901 a Abs. 3 BGB ausdrücklich bestimme, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung.

Einwilligung der Patientin rechtfertigt auch aktives Tun

Dagegen trifft nach Auffassung der BGH-Richter die Bewertung des LG nicht zu, der Angeklagte habe sich durch seine Mitwirkung an der aktiven Verhinderung der Wiederaufnahme der Ernährung wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht. Die von den Betreuern – in Übereinstimmung auch mit den inzwischen in Kraft getretenen Regelungen der §§ 1901 a, 1904 BGB – geprüfte Einwilligung der Patientin habe nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung gerechtfertigt, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung gedient habe. Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten werde dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf ließen.

Nach dem Urteil: Rechtspolitiker befürchten Automatismus für andere Fälle

Aufgrund des nunmehr vorliegenden Urteils befürchten Rechtspolitiker weitreichende Konsequenzen zur Sterbehilfe. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und der CDU-Innenpoliker Wolfgang Bosbach sagten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (dort heute S. 1), sie begrüßten zwar die Entscheidung, sie dürfe aber keinen Automatismus für andere Fälle nach sich ziehen. Im Zweifel müsse immer "für das Leben" gelten, so Frau Nahles gegenüber der Zeitung. Dagegen bezeichnete die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) die Entscheidung als wegweisend.

Meine persönliche Bewertung

Mit dem vorliegenden Urteil hat der BGH im Grundlagenbereich in sehr begrüssenswerter Weise einige für das Medizinrecht wichtige Klarstellungen getroffen. Das Patientenverfügungsgesetz bildet dabei die Grundlage. Hinter der strafrechtlichen Bewertung der Sterbehilfe stehen ethische und rechtsphilosophische Fragen, die das Urteil insofern aufgreift, als ist eine an Äußerlichkeiten orientierte Unterscheidung von Tun und Unterlassen verwirft und beides unter dem Begriff "Behandlungsabbruch" fasst. Dieser Punkt der Entscheidung wird sicher zu rechtsdogmatischen Diskussionen führen.

Nicht Gegenstand der Revisionsentscheidung ist die Frage, ob eine vor vielen Jahren abgegebene Patientenverfügung ohne weiteres gültig bleibt . Nicht entschieden sind auch die Fälle, in denen der Wille der Patienten/des Patienten weniger klar feststeht, aber gleichwohl ein Angehöriger die Behandlung eigenhändig unterbricht, um dem mutmaßlichen Willen Rechnung zu tragen.

Eine ganz andere Frage ist, die ich deshalb demnächst auch gesondert aufgreifen will, inwieweit Anwälte ihre Fälle dazu nutzen dürfen, Aufmerksamkeit auf bestimmte Anliegen zu ziehen, um damit einen Wandel in der Rechtsauffassung herbeizuführen.

 

Aktuelle Literatur

Hoppe, Patientenverfügungen – eine Stellungnahme aus ärztlicher Sicht, FPR 2010, 257

Ludyga, Der Abbruch lebensverlängernder oder -erhaltender Maßnahmen auf Grund von Patientenverfügungen und die Genehmigung des Betreuungsgerichts, FPR 2010, 266

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2 Kommentare

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Nun ja, abgesehen von der grundsätzlichen Frage nach der Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen :

 

Dass ein lediglich mündlich geäußerter Wille/Wunsch ausreichen soll, oder aber eine privatschriftliche Patientenverfügung halte ich für zweifelhaft.

Wenn man sieht, mit welcher Verbissenheit Auseinandersetzungen über bloße Vermögenswerte (Erbstreitigkeiten und Erbscheinsverfahren) geführt werden, in denen die Testierfähigkeit auch bei notariellen Testamenten angezweifelt wird, Zeugen zum Geisteszustand gehört und darauf basierend Gutachten eingeholt werden;  angebliche mündlich vereinbarte Handschenkungen zu Lebzeiten und Ähnliches einmal ganz außen vor, halte ich es für äußerst bedenklich, aufgrund eines irgendwann angeblich "ernstlich" geäußerten Willens eine Rechtfertigung zum Abschalten anzunehmen und die (gegenüber dem Vermögen) viel gravierendere Frage von Leben und Tod auf derart unsicherer Basis zu entscheiden.

ME öffnet dies Tür und Tor für Angehörige/Erben/sonstige Interessierte, aufgrund einer behaupteten Einwilligung den Ausknopf zu betätigen. Während man beim Nachlass aus Beweisgründen und wegen etwaiger Manipulationsgefahr noch nicht einmal ein maschinenschriftliches und selbst unterschriebenes Testament gelten lässt, kann über das Leben aufgrund von möglicherweise dubiosen Zeugenaussagen über irgendwann einmal dahingesagte Erklärungen entschieden werden.

Das bereitet mir einige Bauchschmerzen.

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Ihre "Bauchschmerzen" teile ich. Meines Erachtens ist es nun an der Zeit, dass der Gesetzgeber tätig wird. Damit meine ich indes nicht, dass § 216 StGB geändert werden sollte. Die von der Rechtspraxis gefundenen Regeln über die Zulässigkeit indirekter und passiver Sterbehilfe halte ich im Großen und Ganzen für vernünftig (s. JZ 2009, 600 ff.). Vielmehr sollten Rechtsnormen geschaffen werden, die das nähere Verfahren bei Gewährung von Sterbehilfe regeln. Dazu existieren bereits Vorschläge aus dem Kreis der Rechtswissenschaftler, die vor fünf Jahren den sog. Alternativentwurf Sterbehilfe vorgelegt haben (s. Goltdammers Archiv 2005, 553, Link: http://www.alternativentwurf.de/pages/home/ae-entwFCrfe/ae15.php). In diesem neu zu schaffenden rechtlichen Zusammenhang könnte man auch eine Sanktionsnorm (Ordnungswidrigkeit oder Kriminalstrafe) für diejenigen Fälle schaffen, in denen Private statt Ärzte lebenserhaltende Geräte abschalten, um einen ausdrücklich oder in einer Patientenverfügung geäußerten oder nur mutmaßlichen Behandlungsbeendigungswillen des Patienten umzusetzen. Liegt ein solcher Behandlungsbeendigungswille des Patienten vor, dann verwirklichen die privaten Sterbehelfer zwar kein Tötungsunrecht (kein Delikt gegen die Person), wohl aber könnte man einen "Formfehler" darin sehen, dass sie und nicht qualifizierte Ärzte dies tun. Diesen Formfehler selbständig zu sanktionieren hielte ich zur Abwehr von Missbrauchsgefahren für kriminalpolitisch sinnvoll.

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