Volkstümliche Irrtümer im Familienrecht (VIII)

von Hans-Otto Burschel, veröffentlicht am 23.07.2010
Rechtsgebiete: elterliche SorgeFamilienrecht10|8905 Aufrufe

Für den Fall, dass mir etwas zustößt, kann ich bestimmen, wem die elterliche Sorge für mein minderjähriges Kind zustehen soll.

Nein!

Kinder sind keine Sachen, die man vererben könnte.

Es ist zu unterscheiden:

Stand den Eltern die elterliche Sorge gemeinsam zu, so wird der überlebende Elternteil automatisch Alleininhaber der elterlichen Sorge (§ 1680 I BGB).

War einem Elternteil die Sorge gemäß § 1671 BGB übertragen worden, so überträgt das Gericht dem Überlebenden die elterliche Sorge, wenn dies dem Wohl des Kindes nicht widerspricht (§ 1680 II 1 BGB).

Stand die elterliche Sorge der Mutter gemäß § 1626a II BGB allein zu, so hat das Familiengericht die elterliche Sorge dem Vater zu übertragen, wenn dies dem Wohl des Kindes dient (§ 1680 II 2 BGB).

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10 Kommentare

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Eine solche "volkstümliche Erbschaftsregel" ist Beleg für die Missdeutung des Sorgerechts als Besitzrecht am Kind. Wer so denkt, muss sich schon sehr verstellen, um nicht wie selbstverständlich das Wohl des Kindes zu gefährden. Zum Entzug des Sorgerechts kommt es wegen dieser verbreiteten Einstellung Alleinsorgeberechtigter jedoch regelmäßig nicht.

Die Übertragung des (alleinigen) Sorgerechts auf den anderen Elternteil nach § 1680 BGB ist aber nicht nur im Todesfall möglich, sondern auch bei Entzug des Sorgerechts. Wieder lebendig werdende Tote sind eher selten, die Aufhebung eines Beschlusses zum Sorgeentzug häufiger. Was, wenn die Sorgeübertragung auf den anderen Elternteil bereits vollzogen wurde? Sind dann beide Eltern sorgeberechtigt oder entfällt das nach § 1680 BGB übertragene Sorgerecht trotz eines Vollzugs wieder? Welches Gesetz kommt wie zur Anwendung?

So ist in einer vom Kammergericht veröffentlichten Entscheidung zwar die Aufhebung des Sorgeentzugs beschlossen worden, aber die Rechtsfolgen des Vollzugs der Sorgeübertragung blieben unbestimmt.

Quelle: https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=FamRZ%202010,%...

     

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Also ohne vorherige eingehende Prüfung: Ist das Sorgerecht dem anderen Elternteil zur alleinigen Ausübung übertragen, ist im Grundsatz eine abweichende Entscheidung nur möglich, wenn sich die Lage geändert hat (1696 BGB). Inhaltlich gelten dann die gleichen Voraussetzungen wie bei der Erstentscheidung, also Kindeswohlgefährdung im Amtsverfahren oder Kindeswohldienlichkeit im Antragsverfahren.

Dies gilt aber nur dann, wenn die Überagung bereits rechtskräftig ist. Geht der Elternteil, dem die elterliche Sorge wegen einer Kindeswohlgefährdung entzogen worden ist, in die Beschwerde, wird der Entzug nicht rechtskräftig. Dann können auch die tatbestandlich an den Sorgeentzug anknüpfenden Entscheidungen, z.B. Die Bestellung eines Vormunds oder die Übertragung der Sorge auf den anderen Elternteil nach 1680 BGB noch nicht rechtskräftig werden. M.a.W. haben die durch die Folgeentscheidungen "Begünstigten" bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts keine gesicherte Rechtsposition. Hebt das Beschwerdegericht die Sorgerechtsentziehung auf, entfallen die daran anknüpfenden Folgeentscheidungen, ohne dass es insoweit einer Abänderung bedarf, es wird ja nicht in eine gesicherte Rechtsposition eingegriffen.

Allerdings ist anerkannt, dass eine Rückführung eines in eine Pflegefamilie eingegliederten Kindes dann jedenfalls vorläufig zu unterbleiben hat, wenn diese und der damit verbundene Beziehungsabbruch das Kind gefährden würden. Dies gilt auch dann, wenn die Kindeswohlgefährdung, die ursprünglich Grund für die Fremdunterbringung war, im Haushalt der leiblichen Eltern weggefallen ist oder nie bestanden hat. Aus Sicht des Kindes ist das klar, für die betroffenen Eltern aber natürlich grausam.

Insoweit würde ich vermuten, dass das Beschwerdegericht als zweite volle Tatsacheninstanz bei der Entscheidung über die Aufhebung der Sorgerechtsentziehung mittlerweile  eingetretene faktische Veränderungen berücksichtigt und auch einen rechtswidrig ergangenen Sorgerechtsbeschluss im Ergebnis aufrecht erhält, wenn der mit einer Aufhebung des Beschlusses verbundene Wechsel des Kindes vom anderen Elternteil in den Ursprungshaushalt nunmehr aufgrund der dort gewachsenen Bindungen eine Gefährdung des Kindes darstellen würde. M.E. Folgt dies schon daraus, dass aufgrund von Art. 6 GG kein Gericht eine Entscheidung erlassen darfst, die zu einer Kindeswohlgefährdung führt. In jedem Fall müsste der Wechsel Kindeswohldienlichkeit vorbereitet werden.

Habe einen solchen Fall aber noch nicht erlebt.

@ Torsten Obermann

Widersprechen die Erwägungen zur Rechtskraft nicht gerade dem § 1696 BGB und "Kinder sind keine Sachen"? Die gesetzliche Grundlage §§ 1696 BGB und 166 FamFG hebt auf triftige Kindeswohlgründe ab, also die tatsächlichen Verhältnisse und nicht auf formal-rechtliche Verhältnisse. Mit § 1696 I Satz 3 BGB wird die Sorgeübertragung nach § 1680 BGB von einer Abänderung oder Aufhebung sogar explizit ausgenommen. Auch hier wird nicht nach "Rechtskraft" der vorherigen Entscheidung unterschieden. Ist damit eine automatisierte oder stillschweigende Aufhebung der bereits vollzogenen Sorgeübertragung nicht nach dem Wortlaut und Sinn des Gesetzes ausgeschlossen, sowie nicht zuletzt nach Art. 6 GG mit den (gleichen) Eingriffshürden des Sorgeentzugs belegt?   

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Naja, formal gesehen stellt die Beschwerdeentscheidung eben keine Änderung einer Entscheidung im Sinne der zitierten Normen dar, da das Verfahren ja noch nicht beendet ist. Materiell ist der Schutz des Kindes dadurch verbürgt, dass die Beschwerdeentscheidung in der Situation, in der sie getroffen wird, keine Kindeswohlgefährdung zur Folge haben darf. Zur Sicherstellung kann das Beschwerdegericht etwa zeitgleich mit Aufhebung des Sorgerechtsentzugs eine befristete Verbleibensanordnung ausspricht, um einen abrupten Wechsel zu vermeiden. Mehr als eine Verhinderung einer Gefährdung darf das Bechwerdegericht aber im Amtsverfahren nicht. Eine lediglich "bessere" Lösung für das Kind können nur die Eltern im Antragsverfahren z.B. nach 1671 BGB herbeiführen. Das ist die Folge davon, dass sich der Staat von sich aus nur in Gefährdungsfällen in Familien einmischen darf, was ebenfalls in Art. 6 GG verankert ist.

Was die Rechtskraft angeht, so ist zu beachten, dass das Hin und Her bei Aufhebung einer erstinstanzlichen Entscheidung darauf zurückzuführen ist, dass diese - insoweit ausnahmsweise - sofort wirksam ist, also vor Rechtskraft bereits umgesetzt werden kann. Das ist in Gefährdungsfällen natürlich einsichtig, birgt aber andererseits die Gefahr, dass später etwa rückgängig gemacht werden muss, nachdem bereits Fakten geschaffen worden sind. Dies führt indes nicht dazu, dass bei der Entscheidung des Beschwerdegerichts die Abänderungsvorschriften anwendbar wären.

In den dagrestellten Folgen liegt i.Ü. der Grund dafür, warum OLGe in der Regel die sofortige Wirksamkeit von noch nicht durchegeführten Sorgerechtsentscheidungen für die Dauer des Beschwerdeverfahrens aufheben, dies aber nicht bei bereits durchgeführten Entscheidungen. Hierdurch kann jedenfalls ein weiterer Wechsel vermieden werden...

@ Torsten Obermann

Wenn ich mal versuche, das Problem zusammenzufassen:

1. Formal-rechtlich ist eine noch beschwerdefähige Sorgeentscheidung i.d.R. vollstreckbar. Hierdurch werden materiell-rechtlich Tatsachen und Rechtsfolgen ausgelöst. Diese bleiben nach § 47 FamFG auch dann wirksam, wenn eine formelle Rechtskraft nach § 45 FamFG nicht eintritt (z.B. Aufhebung/Abänderung).

2. Eine formal-rechtliche Rechtskraft gibt es bei Sorgeentscheidungen damit faktisch nicht, da § 1696 BGB jederzeit eine Abänderung aus materiell-rechtlichen Gründen möglich macht. Kriterium ist das Kindeswohl (materiell-rechtlich) und nicht die formelle Rechtskraft.

3. Der Entzug des Sorgerechts ist nur unter Anwendung konkreter Gesetze und Beachtung der Kindes- und Elternrechte nach GG möglich. Eine gesetzliche Unterscheidung des Sorgerechts in ein ungeschütztes, vorläufiges und ein geschütztes, rechtskräftiges Sorgerecht existiert nicht. Anwendbar für die Familiensache ist FamFG, BGB und GG. Die ZPO ist nicht anwendbar, da keine Ehesache und keine Familienstreitsache. 

4. Ein Sorgerechtsentzug kann aus verschiedenen Gründen wieder aufgehoben werden. Im verlinkten Beschluss des Kammergerichts wurde allein auf die Verletzung des Elternrechts der Mutter abgestellt, weil die vom Kammergericht festgestellte Kindeswohlgefährdung für einen Entzug der gesamten Sorge nicht ausreiche. Eine Kindeswohlgefährdung durch die vollzogene Sorgeübertragung auf den Vater wurde vom Kammergericht nicht festgestellt.  

Aus welchen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen (FamFG, BGB, GG) wird also ein automatisierter Entzug des ausgeübten und nicht kindeswohlgefährdenden Sorgerechts des Vaters abgeleitet oder vermutet, wenn der Entzug des Sorgerechts der Mutter wieder aufgehoben wurde?     

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Oje, das sind eine Menge schwerer Fragen, die ggf. eine gut recherchierte Antwort erfordern.

Zunächst vorweg: § 47 FamFG betrifft einen Sonderfall: Wenn der Elternteil, dem die Sorge übertragen wurde, in Ausübung der Vermögenssorge einen Kaufvertrag für das Kind abschließt, so bleibt dieser wirksam, auch wenn das Beschwerdegericht später anders entscheidet. Über die Fortwirkung der Sorgeentscheidung selbst sagt die Norm nix. Eine (rechtliche) Fortwirkung des von der Beschwerde angegriffenen und vom OLG abgeänderten Beschlusses darüber hinaus ist nicht vorgesehen. Dieser ist dann wirkungslos.

Bei der Rechtskraft wird zwischen der formellen und der materiellen Rechtskraft unterschieden; die formelle Rechtskraft, in § 45 FamFG geregelt, besagt nur, dass gegen den Beschluss kein weiteres Rechtsmittel möglich ist. Interessant ist die materielle Rechtskraft, zu der das FamFG keine Regelung enthält, und die letztlich im Sinne des Rechtsfriedens dafür sorgt, dass das Gericht - bei identischer Sachlage - ein Verfahren nicht noch einmal durchführen darf. Unumstritten ist, soweit ersichtlich, dass auch FamFG-Verfahren der Rechtskraft in diesem Sinne zugänglich sind, wobei im Einzelnen unklar ist, welche das sind. Das Bestehen einer Abänderungsvorschrift ändert daran nichts - dies zeigt sich z.B. bei Unterhaltsentscheidungen, die als Familienstreit(-ZPO-)Sachen unstreitig der Rechtskraft fähig sind, aber gleichwohl an veränderte Bedingungen angepasst werden können. § 1696 BGB spricht also nicht gegen die materielle Rechtskraft von Sorgeentscheidungen. M.E. erfordert auch das Interesse der Eltern, bei einer unveränderten Sachlage nicht erneut mit Sorgeverfahren überzogen zu werden, den Eintritt der materiellen Rechtskraft. Rechercheergebnisse dazu folgen.

§ 1680 BGB knüpft tatbestandlich an einen Entzug der Sorge des anderen Elternteils an. Die Entscheidung kann daher nicht endgültig werden, bevor nicht der Sorgeentzug "durch" ist. Die beiden sind miteinander verbunden. Eine feste Position, die abgeändert werden könnte, besteht vorher nicht. Auch dazu will ich gerne noch mal gucken. Ist ja kein einfaches Thema...

So, jetzt ein paar Rechercheergebnisse:
Lt. BGH und BVerfG erwachsen Sorgerechtsentscheidungen nicht in materieller Rechtskraft, weil das Kindeswohl immer das Interesse am Rechtsfrieden überwiegt. Ok. Lässt sich hören.

Allerdings beseitigt der kassatorische Teil der Beschwerdeentscheidung die Wirksamkeit des erstinstanzlichen Beschlusses rückwirkend (Zöller/Feskorn § 40 FamFG Rn. 6 m.w.N.); Ausnahme halt § 47 FamFG für Willenserklärungen, um den Rechtsverkehr zu schützen.

M.a.W.: Nach der abändernden Beschwerdeentscheidung ist - auch in Sorgerechtssachen - die Lage grundsätzlich so, als hätte es den ersten Beschluss nie gegeben. Formell stellt die Entscheidung des OLG daher keine Abänderung dar. Hieraus ergibt sich m.E. dann auch, dass die zuvor - während des Beschwerdeverfahrens eben unter dem Vorbehalt der rückwirkenden Aufhebung - stehende dem anderen Elternteil übertragene Sorge nicht den gleichen Schutz hat, wie diejenige, die bereits formell rechtskräftig bestanden hat.

So jedenfalls mein derzeitiger Stand...

Wenn ich die dargestellte Rechtsansicht zum automatisierten Entfall des übertragenen Sorgerechts erneut zusammenfasse:

1. Wegen nachgewiesener Kindeswohlgefährdung durch den bisher Sorgeberechtigten und Eilbedürfnis überträgt die 1. Instanz das Sorgerecht auf den anderen Elternteil.

2. Der andere Elternteil tritt vollumfänglich in die Pflichten und Rechte des Alleinsorgeberechtigten ein, was mit erheblichem Aufwand, Kosten, Pflichtbewusstsein und Lebensveränderungen verbunden ist. Eine Kindeswohlgefährdung wird dadurch nicht ausgelöst.

3. In der 2. Instanz wird der Entzug der kompletten Sorge des kindeswohlgefährdenden Elternteil als zu weitreichend festgestellt. Eine Verletzung des elterlichen Grundrechts des kindeswohlgefährdenden Elternteil wird festgestellt. Der Entzug der Sorge wird aufgehoben.

4. Aus formalen Gründen wird ohne Feststellung und automatisch das übertragene Sorgerecht des anderen Elternteils gegenstandslos. Die tatsächliche Ausübung des eigentlich grundrechtlich geschützten Elternrechts ist nach Auslegung von Kommentarliteratur wegen formaler, einfachrechtlicher Gründe nicht geschützt. Eine entsprechende Feststellung oder Beschlusslage ist juristisch nicht erforderlich, da die tatsächliche Übertragung und Ausübung des grundrechtlich geschützten Elternrechts nach Kommentarliteratur juristisch gar nicht erfolgte.

5. Eine Anwaltspflicht besteht in Sorgeverfahren nicht. Weder Gerichte, noch Fachanwälte für Familienrecht treffen Hinweis-, Beratungs- und Fürsorgepflichten. Betroffene können sich gegen erhebliches Entgelt Kommentarliteratur beschaffen und durch Auslegung versuchen, ihre Rechtsposition zu bestimmen.

Ich würde für 1.-5. gern eine prägende Bezeichnung finden, die das gut beschreibt. Mir fallen derzeit eigentlich nur Negationen ein. Nicht verbindlich, nicht angemessen, nicht gerecht, nicht widerspruchsfrei, nicht transparent, nicht verantwortungsvoll, nicht systematisch, nicht verfassungsgemäß, nicht rechtsstaatlich, nicht kindeswohldienlich, nicht gleichberechtigt, nicht tragbar. Es soll aber trotzdem juristisch korrekt sein. Meine Zweifel verstärken sich. Sowohl zur Korrektheit der konkreten Auslegung, als auch zur Angemessenheit und Systematik der juristischen Auslegungsmethoden im Allgemeinen.

 

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Um das an dieser Stelle von meiner Seite aus abzuschließen:

Die Punkte 1 - 4 dürften aus meiner Sicht eine zutreffende Beschreibung sein. Aber wie das bei Juristen so ist: wahrscheinlich lässt sich auch eine andere Lesart gut begründen. Zutreffend ist auch, dass keine Anwaltspflicht besteht.

Uneingeschränkt falsch ist, dass Anwälte keine der genannten Pflichten treffen würden, allerdings natürlich nur gegenüber der eigenen Partei.

Bei Gerichten ist die Lage etwas differenzierter: Einerseits sind sie schon verpflichtet, gerade bei Beteiligten ohne Anwalt Rücksicht zu nehmen. Andererseits findet diese Pflicht ihre (erforderliche) Grenze an der richterlichen Neutralität, sodass natürlich keine Rechtsberatung stattfinden kann: So dürfte zB das Gericht den Elternteil, bzgl. dessen im 1666-er Verfahren eine Übertragung der Sorge nach § 1680 BGB in Betracht kommt, nicht darauf hinweisen, dass er auch einen Antrag nach § 1671 BGB stellen könnte, der seine Stellung insoweit verbessern würde, als sich der Beurteilungsmaßstab verschieben würde: statt der Feststellung einer Kindeswohlgefährdung beim andern Elternteil würde ausreichen, dass eine Übertragung für das Kind besser ist... Tatsächlich gehen unsere Verfahrensordnungen davon aus, dass die erwachsenen Beteiligten in der Lage sind, ihre Ziele sachdienlich zu verfolgen und sich im Zweifel anwaltlichen Beistand holen. Uneingeschränkte Schutzpflichten der Gerichte bestehen gegenüber den Kindern.

Die Bewertung des Systems ist natürlich immer von eigenen Erfahrungen und subjektiven Maßstäben abhängig. Allerdings stellt sich die Lage nicht immer ganz einfach dar.

Familiengerichte stehen gerade in Sorgeentscheidungen häufig vor einem Dilemma im technischen Sinne. In Fällen vermuteter Kindeswohlgefährdung muss häufig ohne vorherige Möglichkeit weiterer Aufklärung entschieden werden, ob das Kind zunächst in der Familie bleibt - mit dem Risiko einer irreversiblen Schädigung -, oder ob ein - ebenfalls nicht wieder gut zu machender - Kontaktabbruch mit all den daraus folgenden Konsequenzen in Kauf genommen wird. Wird kurz vor den Ferien der eigentlich abgesprochene Urlaubsumgang vom betreuenden Elternteil mit der Begründung verweigert, dass beim Umgangselternteil eine Gefährdung befürchtet wird, muss - irreversibel - entweder dem Umgangselternteil und dem Kind das Urlaubs-Umgangsrecht verweigert werden oder aber dem Umgangselternteil die Möglichkeit einer Gefährdung der Kinder bis hin zu deren Entführung gegeben werden. Ähnlich problematisch ist oft die Entscheidung, bei welchem Elternteil das Kind während einer Begutachtung in streitigen Sorgeverfahren bleiben soll. In all diesen Fällen muss sich das Gericht zwischen zwei potentiell schädlichen Alternativen entscheiden, ohne endgültig ausreichend Faktenkenntnis zu haben. In allen Fällen besteht daher auch die Gefahr, dass die getroffene Entscheidung nach weiterer Aufklärung wieder zurückgenommen werden muss, was aufgrund der mittlerweile geschaffenen Fakten eine Menge Leid verursacht. Einen Weg, dies auszuschließen, sehe ich nicht.

Auch der Gesetzgeber steht mitunter vor einem Dilemma bei dem Versuch, durch die Ausgestaltung der Verfahrens- und materiellen Gesetzevorschriften zT widersprüchliche Aspekte der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Das Schöne ist, dass in der Demokratie die angebotenen Lösungen diskutiert und kritisiert werden dürfen...

So stellen die Regeln über Rechtsmittel und Rechtskraft den Versuch dar, den Rechtsfrieden, also das Interesse an einer möglichst schnellen und möglichst verbindlichen Entscheidung, einerseits mit dem Interesse an einer den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden und möglichst einheitlichen Rechtsanwendung andererseits auszugleichen. 

Um auf beide Aspekte im obigen Fall einzugehen: mE wird das Interesse des einen Elternteils daran, dass ihm die elterliche Sorge nicht rechtswidrig entzogen wird (Interesse an einer gesetzesmäßigen Entscheidung), bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft der Entscheidung höher bewertet, als das Interesse des anderen Elternteil am Erhalt der durch die rechtswidrigen Entscheidung entstandenen Status Quo (Rechtsfrieden), es sei denn es ergibt sich heiraus eine Kindeswohlgefährdung. Nach formeller Rechtskraft dreht sich dies um. Materiell mag dies durch die letztlich überschaubare Zeit bis zur formellen Rechtskraft gerechtfertigt sein. Dies ist allerdings nur meine persönliche Rechtsauffassung zur Frage der elterlichen Sorge nach Rechtsmitteleinlegung. Wenn es irgendeine Chance geben soll, hier klare Regeln zu entwickeln, dann dadurch, dass Obergerichte Entscheidungen treffen und veröffentlichen (Interesse an einer einheitlichen Rechtsprechung gegenüber Rechtsfrieden). Hier sehe ich im Grundsatz keine andere Möglichkeit, als irgendwo Grenzen zu ziehen.

Gleiches gilt auch für das durch das komplizierte System aus Amts- und Antragsverfahren im Bereich der elterlichen Sorge gesuchte Gleichgewicht zwischen Schutz der Autonomie der Familie und staatlichem Schutzauftrag gegenüber Kindern.

Man mag die im Einzelnen gesetzten Prioritäten und natürlich jede einzelne gerichtliche Entscheidung sicherlich falsch oder richtig finden. Ich persönlich sehe jedoch keinen Grund für eine pauschale Verdammung des Systems.

Der entscheidende Auftrag an Justiz und Anwaltschaft gerade im die Betroffenen persönlich so heftig treffenden Familienbereich dürfte darin liegen, die Entscheidungen und den Weg dahin transparent und verständlich zu machen.

Torsten Obermann, vielen Dank für Ihren engagierten Beitrag. Ohne in den Details mit Ihnen übereinzustimmen, ist Ihre Meinung bereichernd.

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