Europäischer Haftbefehl - Missbrauch im Fall Assange? (mit Updates 9.12. und 10.12.)
von , veröffentlicht am 08.12.2010Vorausgeschickt: Ich stehe wikileaks und ihrem "Macher" Assange durchaus kritisch gegenüber und hätte mir gewünscht, Wikileaks / Assange wären etwas (selbst)kritischer bei der Veröffentlichung dieser Leaks vorgegangen (siehe hier ). Aber die derzeitigen Vorgänge in London, Schweden und den USA eröffnen einen besonderen Blick über die Möglichkeiten der diplomatischen Einflussnahme in Justizangelegenheiten, auch über diesen Fall hinaus.
Die Regeln über den Europäischen Haftbefehl ermöglichen es der Exekutive des ersuchenden Staates, darauf Einfluss zu nehmen, ob ein Haftbefehl erlassen wird - sofern die Anklagebehörden hierarchisch in die Exekutive eingeordnet sind. Dies stellt ein mögliches Einfallstor für außenpolitische Interessen im Ermittlungsverfahren dar: Wenn ein wirtschaftlich und politisch starker (auch außereuropäischer) Staat es darauf anlegt, kann er einen EU-Staat dazu "ermuntern", einen Haftbefehl gegen eine Person zu erlassen, die sich in einem weiteren EU-Staat aufhält. Die Möglichkeit einer außenpolitischen Einflussnahme bestand natürlich auch schon vor der Installation des Europäischen Haftbefehls, doch beschränkte sie sich weitgehend auf die bilateralen Beziehungen (Auslieferungsabkommen) zwischen zwei Staaten. Der Europäische Haftbefehl erleichtert es jetzt, sozusagen "im Dreieck" vorzugehen. Das ist in etwa das Szenario, das Assange und sein Verteidiger wohl beklagen.
Dass ähnliche Einflussnahmen seitens der USA in Europa schon mit teilweisem Erfolg stattgefunden haben, ist - mit umgekehrter Tendenz - gerade von einem der Wikileaks-Diplomatenberichte - belegt worden (dazu mehr hier). In der Tat wäre es wohl eine Illusion anzunehmen, demokratische Staaten würden untereinander jederzeit die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Justizorgane respektieren.
Ob aber im konkreten Fall diplomatischer Druck auf die schwedische Regierung ausgeübt wurde, die Ermittlungen gegen Assange wieder aufzunehmen und einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, ist derzeit noch Spekulation. Deren zukünftige mögliche Bestätigung oder Widerlegung muss wikileaks oder anderen leakern vorbehalten bleiben, der schwedische Außenminister hat entsprechende Vermutungen selbstverständlich zurückgewiesen (Quelle). Aber es ist schon "merkwürdig", dass das aufgrund der Strafanzeigen der beiden Frauen in Schweden aufgenommene Ermittlungsverfahren zunächst noch innerhalb eines Tages eingestellt wurde, um sodann wieder aufgenommen zu werden (Spiegel Online Anfang September).
Die bislang bekannt gewordenen Anschuldigungen (detailreiche Darstellung hier) würden wohl in den meisten europäischen Ländern den Vorwurf der Vergewaltigung nicht erfüllen; von einer Gewaltanwendung oder -drohung ist jedenfalls bisher nicht die Rede. Nach den Regeln über den Europäischen Haftbefehl (pdf-Link) ist aber unerheblich, ob nach britischem Recht eine Vergewaltigung gegeben wäre, denn nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses kommt es für 32 Delikte (einschl. Vergewaltigung) ausdrücklich nicht auf die beiderseitige Strafbarkeit an: Großbritannien muss also ausliefern, wenn der Haftbefehl auf einem Vergewaltigungsverdacht nach schwedischer Gesetzesversion beruht. Das Europäische Haftbefehlsverfahren sieht vor der Auslieferung zudem nur eine formelle Prüfung vor. Nicht geprüft wird, ob der hinreichende Tatverdacht tatsächliche Grundlagen hat. Der dem Haftbefehl zugrunde liegende Tatvorwurf wird lediglich auf Schlüssigkeit und "offensichtlichen Missbrauch" geprüft. Für eine auch materielle Prüfung spricht zwar Art. 8 lit e) des Rahmenbeschlusses, doch ist diese nach allg. Auffassung auf "evidenten Missbrauch" beschränkt. Diese Evidenz ist hier sicherlich nicht erreicht, und selbst wenn sie es aus Sicht der britischen Behörden wäre, würde es der europa- und außenpolitische Comment verbieten, die schwedische Justiz eines missbräuchlichen Vorgehens zu bezichtigen.
Einer Weiter-Auslieferung an die USA durch Schweden stehen allerdings (so zutreffend Kommentator OG und Stadler, s.u.) Art. 27 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses entgegen, wonach die Auslieferung auf den im Haftbefehl bezeichneten Tatvorwurf und auf den ersuchenden Staat beschränkt ist). Auch die schwedische (und auch die europäische) öffentliche Meinung würden entgegenstehen, zudem ist bislang fraglich, ob Assange in den USA verurteilt werden könnte oder als Journalist die dort traditionell weite Meinungsfreiheit genösse. Sarah Palin ficht das nicht an - ganz in der Art und Weise einer muslimischen Fatwa hat sie Assange bereits praktisch für vogelfrei erklärt (Quelle).
Update 1: Hier die schwedischen Vorschriften in engl. Übersetzung (Quelle):
On Sexual Crimes
Section 1
A person who by violence or threat which involves, or appears to
the threatened person to involve an imminent danger, forces another
person to have sexual intercourse or to engage in a comparable
sexual act, that having regard to the nature of the violation and the
circumstances in general, is comparable to enforced sexual
intercourse, shall be sentenced for rape to imprisonment for at least
two and at most six years. Causing helplessness or a similar state of
incapacitation shall be regarded as equivalent to violence.
If having regard to the nature of the violence or the threat and
the circumstances in general, the crime is considered less serious, a
sentence to imprisonment for at most four years shall be imposed.
If the crime is gross, a sentence to imprisonment for at least four
and at most ten years shall be imposed for gross rape. In assessing
whether the crime is gross, special consideration shall be given to
whether the violence involved a danger to life or whether the
perpetrator caused serious injury or serious illness or, having regard
to the method used or the victim's youth or other circumstances,
exhibited particular ruthlessness or brutality. (Law 1998:393)
Section 2
A person who, under circumstances other than those defined in
Section 1, makes someone engage in a sexual act by unlawful
coercion shall be sentenced for sexual coercion to imprisonment for
at most two years.
If the person who committed the act exhibited particular
ruthlessness or if the crime is otherwise considered gross, a sentence
of at least six months and at most four years shall be imposed for
gross sexual coercion. (Law 1992:147)
Schwedisch-deutsche Übersetzung (von hier)
Brottsbalken, Kap. 6, §1
Den som genom misshandel eller annars med våld eller genom hot om brottslig gärning tvingar en person till samlag eller till att företa eller tåla en annan sexuell handling som med hänsyn till kränkningens art och omständigheterna i övrigt är jämförlig med samlag, döms för våldtäkt till fängelse i lägst två och högst sex år.
Schwedisches Strafgesetzbuch, Kapitel 6, §1
Wer einen Menschen durch Mißhandlung oder sonstwie mit Gewalt oder durch Androhung von Verbrechen zum Geschlechtsverkehr oder dazu zwingt, eine andere sexuelle [körperliche] Handlung vorzunehmen oder an sich zu dulden, die im Hinblick auf die Art der Erniedrigung und die Umstände mit Geschlechtsverkehr zu vergleichen ist, wird wegen Vergewaltigung zu mindestens zwei und höchstens sechs Jahren verurteilt.
Update 2: Nach einem Bericht der Deutschen Welle erwägen die USA unmittelbar die Auslieferung aus Großbritannien zu verlangen.
Update 3: Hintergründe der Vorwürfe gegen Assange in diesem RTL/SpiegelTV-Report (via YouTube)
Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
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30 Kommentare
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"Einer Weiter-Auslieferung an die USA durch Schweden könnte allerdings die schwedische (und auch die europäische) öffentliche Meinung entgegenstehen"
Die öffentliche Meinung in allen Ehren, aber steht dem nicht in erster Linie der auslieferungsrechtliche Spezialitätsgrundsatz entgegen (Art. 27 Abs. 2 Rahmenbeschluß)? Oder übersehe ich etwas?
Dr. Klaus Graf kommentiert am Permanenter Link
Ich stimme der Analyse zu, in meinem Blog wird auch zu Assange debattiert:
http://archiv.twoday.net/stories/11445533/
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
@OG: Sie haben Recht. Ich habe meinen Satz entspr. geändert (s.o.)
Weiteres: Ich habe oben eine englische Übersetzung der schwedischen Vergewaltigungsvorschrift eingefügt. Allerdings ist die Vorschrift nur schwer einzuschätzen, ohne zugleich die gerichtliche Auslegungspraxis in Schweden zu kennen. Insbesondere erscheint mir fraglich, welche Gewalt-Definition in Schweden bei dieser Norm einschlägig ist. Diese ist ja schon im deutschen Strafrecht nicht unproblematisch - ich erinnere an die Diskussion um den Gewaltbegriff in § 240, resp. § 177 StGB. Ähnliche Diskussionen dürften auch in Schweden geführt werden, möglicherweise mit anderen Ergebnissen.
Auf Hinweise und Fragen anderer Leser: Zu berücksichtigen ist auch - wenn auch für den Einzelfall weniger relevant - eine in Schweden möglicherweise andere Bedeutung der Strafanzeige wegen Vergewaltigung: Schweden weist im Vergleich zu anderen europäischen Staaten in den Statistiken eine drei- bis fünfmal höhere Zahl von Vergewaltigungen auf. Was dies bedeutet, ist kriminologisch nicht eindeutig zu beantworten, weiterführend ist ein Artikel von Hanns von Hofer, Crime Statistics as Constructs: The Case of Swedish Rape Statistics in: European Journal on Criminal Policy and Research (Vol. 8/2000), S.77 (Quelle)
Vier mögliche Erklärungen:
1. In Schweden werden tatsächlich mehr Vergewaltigungen begangen
2. In Schweden werden mehr Vergewaltigungen aus dem Dunkelfeld geholt, die höhere Anzeigequote würde dann die Realität besser reflektieren als in den übrigen Staaten.
3. Die rechtliche Definition und statistische Erfassung ist in Schweden anders als in den Vergleichsstaaten (dazu v.a. der oben genannte Artikel)
4. Die hohen Anzeigezahlen beruhen auf einer höheren Anzahl von Falschanzeigen.
Wahrscheinlich beruhen die hohen Zahlen auf einer Kumulation mehrerer dieser Gründe.
Georg kommentiert am Permanenter Link
Ein Interview zur Auslieferung Assanges nach Schweden gab heute auch Prof. Martin Heger (HU-Berlin) der Tagesschau: http://www.tagesschau.de/inland/interview118.html . Die Knappheit der Darstellungen ist natürlich dem begrenzten Platz in einer Sendung der Massenmedien und dem anderen Rezipientenfokus geschuldet, dennoch ist es schön und seriös von eben dem Medium, die Massen auf diesem sachlichen Niveau zu informieren. Die Ausführungen hier im Blog von Prof. Müller finde ich vor dem Hintergrund der Rechtswirklichkeit und politischen Realität noch darüber hinaus weit erhellender, gerade was die von Vielen vermutete Dreickecksbeziehung betrifft.
Stadler kommentiert am Permanenter Link
Was ist mit Art. 28 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses?
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
@Thomas Stadler: Dieser hat konkret dieselbe Folge wie auch Art. 27 Abs.2: Der Europ. Haftbefehl gilt grds. nur für die beteiligten EU-Staaten (ersuchende/vollstr. Seite, Ausnahme für Mitgliedsstaaten Art. 28 Abs.1) und nur für die darin angeführten Tatvorwürfe, also nicht für andere Delikte (also etwa Geheimnisverratsvorschriften etc.) und nicht für die Weiterlieferung an Drittstaaten. Dies schließt aber den von mir beschriebenen - möglichen - Zusammenhang nicht aus, nämlich dass ein Drittstaat politischen Druck ausübt, um einen Europ. Haftbefehl eines Staates zu bewirken, um dessen Festnahme und Bestrafung in diesem Staat zu befördern.
Übrigens: Ich halte die darüber hinaus gehende auf einigen Internet-Seiten z.T. vertretene Vermutung, Assange sei in eine bewusst (etwa von Geheimdiensten) gestellte "Falle" gegangen, für sehr fernliegend. Dafür sind die Vorwürfe zu gering und die Vorgehensweise der beiden Frauen bei der Anzeigeerstattung erscheint dazu etwas zu planlos.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Diese Meldung der Deutschen Welle zeigt, was auch noch möglich ist, nachdem Assange aufgrund des schwedischen Haftbefehls nun einmal festgenommen ist: Die USA prüfen nun, ob sie ihn - sozusagen in Konkurrenz zu Schweden - direkt von Großbritannien ausliefern lassen. Momentan kann ich zu den rechtlichen Implikationen noch nichts sagen, d.h. welche "Konkurrenzregeln" greifen, wenn mehrere Staaten wegen untersch. Vorwürfe die Auslieferung aus GB begehren, aber dies lässt sich sicher noch aufklären.
Siehe jetzt unten Kommentar #26
Georg kommentiert am Permanenter Link
Die DW-Meldung ist interessant, seltsamerweise überraschts sie mich irgendwie auch nicht, vielmehr war damit eigentlich zu rechnen. Und wenngleich es heisst
"Die US-Justizbehörden prüfen derzeit, ob sich gegen Assange eine Anklage aufgrund eines Spionagevergehens konstruieren lässt. Das einschlägige Spionage-Gesetz ist allerdings kompliziert und stammt aus dem Jahr 1917. Ob sich die Veröffentlichung von Geheimdienstprotokollen auf einer Internet-Plattform mit der klassischen Spionagetätigkeiten konventioneller Art vergleichen lässt, erscheint Justiz-Experten fragwürdig. ... Andererseits bietet das US-amerikanische Rechtssystem durchaus Spielraum für die Konstruktion neuer Rechtsverstöße. Das hat der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nach 9/11 gezeigt."
würde es mich ebensowenig wundern, wenn bei anhaltenden Leaks, für Wikileaks und vergleichbare Anbieter, ganz schnell neue Straftatbestände mit drakonischen Strafandrohungen konstruiert werden, auch um die Medien-, Informations- und Meinungs-"freiheiten" wieder "in den Griff" zu bekommen.
Alex Gröblacher kommentiert am Permanenter Link
Relevant ist mE der von Schweden ausgestellte EHB: wenn dort ausdrücklich Vergewaltigung (rape) als verfolgte Straftat steht, muss GB ausliefern, weil Katalogstraftat. Steht dort allerdings etwas anderes wie Nötigung oder Belästigung darf GB prüfen, ob die Tat auch in GB einen Straftatbestand erfüllt. Das passiert wahrscheinlich im Moment. Auf der anderen seite frage ich mich als Nicht-Jurist (Journalist), ob nach Art.2 Abs 1. des Rahmenbeschlusses über den EHB überhaupt die Ausstellung des EHB gerechtfertigt ist - dort steht nämlich, dass die Staaten einen EHB erlassen können, wenn die Höchsttrafe für die verfolgte Straftat mindestestens ein Jahr beträgt. Nach verschiedenen Berichten, die sich auf Aussagen von Assanges Verteidiger berufen, handele es sich bei Assanges Tat um "Sex by Surprise", was mit 5000 Kronen Geldstrafe belegt wird (Meldung dazu hier: http://www.aolnews.com/world/article/sex-by-surprise-at-heart-of-julian-assange-criminal-probe/19741444). In diesem Fall wird es wohl nur ein Vergehen sein, was - wenn ich mich richitg erinnere - außerhalb des EHB-Wirkungsbereichs liegt.
Auf jeden Fall bräuchte man den aus dem Schwedischen ins Englische übersetze EHB, um ein klareres Bild zu bekommen.
Mein Name kommentiert am Permanenter Link
neue Straftatbestände sind nicht notwendig, der Espionage Act kann sehr weit ausgelegt werden:
http://www.law.cornell.edu/uscode/18/usc_sup_01_18_10_I_20_37.html
insbes. §793 und §798
MFK kommentiert am Permanenter Link
Wenn ich die Presseveröffentlichungen richtig verstehe, handelt es sich bei dem schwedischen Haftbefehl um einen Vorführungshaftbefehl. Der dringende Tatverdacht wird jedenfalls zur Zeit von der ermittelnden StAin noch nicht gesehen. man will Assange nur zur Sache vernehmen. Angesichts der Vorgeschichte erscheint es unverhältnismäßig, ihn ufgrund eines Vorführungshaftbefehls in England in U-Haft zu nehmen?
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Zu den Überlegungen, Assange in die USA ausliefern zu lassen, findet sich heute im US-News-Blog "Huffington Post" ein ausführlicher Artikel (link). Auch darin wird angenommen, dass es - innerhalb Europas - am ehesten GB wäre, das einem Auslieferungsbegehren der USA nachgeben würde.
Insoweit wäre Schweden also ein weit weniger gefährlicher Aufenthaltsort für Assange. Zudem wird dargelegt, dass gerade die Äußerungen von Lieberman und Palin eine Auslieferung verhindern könnten, da es dem Betroffenen das Argument an die Hand gibt, er habe in den USA keinen fairen Prozess zu erwarten. Die beiderseitige Strafbarkeit, die (anders als bei den Katalogtaten des europäischen Haftbefehls) bei eiem solchen Auslieferungsbegehren eine Rolle spielte, wird zwar auch bei GB in Frage gestellt, ist aber bei Schweden noch unwahrscheinlicher zu bejahen.
Also: Möglicherweise ist die Taktik von Assange und seinem Anwalt, eine Auslieferung nach Schweden (die sich wahrscheinlich sowieso nicht verhindern lässt) möglichst hinauszuzögern, nicht unbedingt die beste. Je länger Assange in GB ist, desto länger haben die US-Behörden Zeit, ihrerseits die Auslieferung an die USA zu beantragen.
VH kommentiert am Permanenter Link
@ Prof. Müller: Der größte Anteil der Vergewaltigungsfälle dürfte auf der Bedeutung des Begriffs "Vergewaltigung" beruhen (Nr.3 Ihres Posts 3).
Ein schwedischer Strafrechtsprofessor hat zu einer Studie (”Sju perspektiv på våldtäkt”) aus diesem Jahr dazu ausgeführt, dass sich seit dem Strafgesetzbuch von 1965 (brottsbalken) der Begriffsbezeichung immer umfassender wurde, so dass heute viele Fälle als Vergewaltigung (våldtäkt) bezeichnet werden, die früher eigene Tatbestände waren bzw. anders bezeichnet wurden. Dies ist als (Haupt) Grund anzusehen, dass es (auch aktuell) mehr Vergewaltigungen gibt.
Für Interessierte: http://www.dn.se/nyheter/sverige/fler-brott-bedoms-som-valdtakt-1.1119404
In dem Zeitungsartikel wird von dem Professor unter anderem auch noch einmal die Bedeutung der Selbstbestimmung erwähnt. Im Hinblick darauf, dass dieser in Schweden besonders starkes Gewicht zukommt (weswegen dort Prostitution auch strafbar ist), spricht dies auch hinsichtlich der Wortauslegung für die tendenziell großzügigere Annahme einer Vergewaltigung (was mangels näherer Kenntnisse des schwed. Strafrechts auch nur eine Vermutung ist).
Beste Grüße
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Sehr geehrte/r Herr/Frau VH,
vielen Dank für den Hinweis. Leider ist mein Schwedisch sozusagen nicht vorhanden, so dass ich den verlinkten Artikel nicht lesen kann. Dass die schwedische Vergewaltigungsdefinition sich stufenweise erweitert hat, war mir schon aus anderen Mitteilungen bekannt. Ich habe aber davon abgesehen, dies als einzige Ursache der vergleichsweise hohen Quote anzuführen, weil auch andere europäische Staaten (z.B. Deutschland) ihre Gesetzgebung bei Vergewaltigung erweitert haben. Ich vermute, dass es zumindest auch einen Anteil der Nr.2 gibt: In Schweden scheint es nicht so tabuisiert zu sein wie in anderen Ländern, Anzeige zu erstatten.
Besten Gruß
Henning Ernst Müller
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
@Alex Gröblacher #9
Die schwedischen Ermittlungen befassen sich nach meinen Informationen mit fünf Vorwürfen, davon ist einer "valdtakt" (=Vergewaltigung), einer "olaga tvang"- eine Art Erpressung mit sex. Absicht, und dreimal "sexuellt ofredande", in etwa zu übersetzen mit "sexuelle Nötigung", alle Vorwürfe sind strafrechtliche Vorwürfe, keine Ordnungswidrigkeiten nach schwed. Recht. In den anderen von Ihnen genannten Punkten ("sex by surprise") sind Sie einer Falschinformation aufgesessen.
@Mein Name (#10):
Der Espionage Act 793 war schon einmal Gegenstand einer historischen Entscheidung des Supreme Court der USA aus dem Jahr 1971. Es ging um die Veröffentlichung der "Pentagon Papers" durch die New York Times, also geleakte Geheimdokumente aus dem Pentagon über die US-Kriegsführung in Vietnam. Darüber etwas erfahren kann man bei wikipedia. Die NYT gewann im Ergebnis. Also: Möglicherweise reicht der Espionage Act für ein Ermittlunsgverfahren, aber es ist m.E. sehr unwahrscheinlich, dass Assange in den USA auch verurteilt werden kann, aktuell dazu dieser Artikel im TIME Magazine.
Besten Gruß
Mein Name kommentiert am Permanenter Link
@ Prof. Müller #15: natürlich ist zu hoffen, dass es zu keiner Verurteilung, ja nicht einmal zu einer Anklage aufgrund des Espionage Act kommen wird (obwohl interessant wäre wie die Anklage zu beweisen versucht, dass Assange selbst in die Veröffentlichung wesentlich involviert ist - bei der Intransparenz von Wikileaks praktisch unmöglich). Mir ging es nur darum klarzustellen, dass (anders als von Georg in #8 geschrieben) die USa durchaus weitreichende bzw. in der Definition des Straftatbestands sehr interpretationsfähige Gesetze haben, die mit 10 Jahren Höchststrafe auch nicht gerade lax sanktioniert sind.
z.B. der Espionage Act http://www.law.cornell.edu/uscode/18/usc_sec_18_00000798----000-.html
Trifft in dieser Formulierung durchaus auf "cablegate" zu - und da die USA sich ja immer noch im selbsterklärten Krieg gegen den Terrorismus befinden (und das ja auch offiziell durch den NATO-Bündnisfall aufgrund 9/11 bestätigt wurde und immer noch "stattfindet" - womöglich auf ewig?), lohnt sich evtl. auch ein Blick auf das Urteil zum Espionage Act Schenck vs. US oder hier.
Brinkmann kommentiert am Permanenter Link
Brinkmann kommentiert am Permanenter Link
Mittlerweile habe ich in meinem Blog auch eine längere Analyse der Vorgänge (mit zahlreichen Linkverweisen) u. d. T."Vergewaltigung, CIA-Verschwörung, Feminismus: Julian Assange (Wikileaks) zwischen verruchtem Landei und gehörntem Engelsgesicht" in Angriff genommen. (http://beltwild.blogspot.com/2010/12/vergewaltigung-cia-verschworung.html )
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Zum Zusammenhang zwischen hohen Zahlen bei der Kriminalstatistik und sehr weitem strafrechtlciohen Vergewaltigungstatbestand jetzt auch die Süddeutsche, hier.
danach wird der starke Anstieg der Statistik zwischen 2005 und 2009 auf die Erweiterung der Tatbestände zurückgeführt, allerdings auch konstatiert, dass die Verurteilungen der Anzeigestatistik nicht im selben Maß nachfolgen. Führt man beide Argumente zusammen, ergibt sich wohl: Die Erweiterung des Sexualstrafrechts ermuntert in Schweden zur häufigeren Anzeigeerstattung, selbst wenn die Strafanzeigen sich in vielen Fällen nicht als substantiiert genug für eine Verurteilung erweisen.
Monica Burgman, Prof. für Strafrecht äußerte sich zu diesem Zusammenhang im Guardian so:
Ephraim kommentiert am Permanenter Link
Dabei könnten durchaus auch Rachegelüste eine tragende Rolle spielen. Nach spontanem Sex, darum scheint es sich auch im Fall Assange gehandelt zu haben, zeigt die nicht nachhaltig geliebte Sexpartnerin den Kontakt reduzierenden Beischlafpartner einfach an.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
In der britischen Presse wird zunehmend bezweifelt, dass das Begehren der Schweden nach Auslieferung erfüllt werde (Quelle). Der Einwand: Bisher sei keine Anklage erhoben worden, Assanges Haft und Auslieferung solle lediglich zur Befragung im Ermittlungsverfahren durchgesetzt werden. Dies sei aber ein Missbrauch des Europ. Haftbefehls (Quelle). In der Tat erschiene es völlig unverhältnismäßig, einen Haftbefehl allein zu diesem Zweck zu erlassen, zumal Assange laut glaubhafter Darstellung seiner Anwälte mehrfach der schwedischen Staatsanwaltschaft seine Kooperation angeboten hat und sogar freiwillig zur Befragung nach Schweden kommen wollte. Die schwedische Staatsanwaltschaft, mit deren ausdrücklicher Erlaubnis er das Land verlassen habe, habe diese Kooperation allerdings abgelehnt.
Diese Berichte geben der Vermuitung, die Ermittlungen seien auf politischen (außenpolitischen?) Druck hin wieder aufgenommen worden, neue Nahrung. Wie der Europ. Haftbefehl gegen Assange genau lautet, ist mir allerdings nicht bekannt - er wurde bisher nicht geleakt.
Mein Name kommentiert am Permanenter Link
http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96ffentlichkeitsprinzip_(Schweden)
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
@Mein Name,
die Transparenzgebote der schwedischen Verwaltung klingen erstmal sehr weitgehend. indes, wie es mit Vorgängen ausschaut, die noch nicht abgeschlossen sind (also "laufenden Ermittlungen"), weiß ich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass auch in Schweden die Transparenz in laufenden Strafverfahren aus nachvollziehbaren Gründen eingeschränkt ist.
Besten Gruß
Henning Ernst Müller
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Nun hat das schwedische Strafverfahren ein Leck, am ausführlichsten berichtet der Guardian.
Spiegel Online berichtet hier.
Brinkmann kommentiert am Permanenter Link
Einige Links zur aktuellen Entwicklung (und zum Missbrauch des EHB):
"Must read" für alle, die an einer Aufklärung der Vergewaltigungsvorwürfe interessiert sind, ist jetzt der auf den (unbearbeiteten und vor allem ungeschwärzten) Polizeiberichten (wenn auch wohl nicht allen Polizeiakten in dieser Angelegenheit) beruhende Bericht "10 days in Sweden: the full allegations against Julian Assange". Einleitung:
"Unseen police documents provide the first complete account of the allegations against the WikiLeaks founder"
im britischen Guardian vom 17.12.10.
Ergänzend dazu der Artikel "Swedish Police Report Details Case Against Assange" aus der New York Times vom 18.12.10, der zwar im Wesentlichen auf dem Guardian-Bericht aufbaut, anscheinend aber ergänzende Informationen aus dem Umfeld insbesondere von Anna Ardin enthält. Wie ich schon vermutet hatte (vgl. oben betr. mögliche indirekte Einflussnahme 'der CIA', nämlich über Bekannte der "Opfer"), war das Umfeld jedenfalls von Anna Ardin im Zeitpunkt der Anzeigeerstattung gegenüber der Polizei bereits über die Sachverhalte informiert:
"By that time, acquaintances of the two women have said in interviews that both women had already confided similar details of their experiences with Mr. Assange to friends" heißt es dazu im Bericht der New York Times.
Unter "EU Recht. Drei Auslieferungen pro Tag" ist auf "Der Freitag" vom 14.12.10 ein Artikel des Briten Afua Hirsch (aus dem Guardian) übersetzt, der ganz allgemein die Problematik des Europäischen Haftbefehls thematisiert:
".... besteht ein Nebeneffekt darin, dass der Europäische Haftbefehl einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Das juristische Instrument ist umstritten, seit es im Jahr 2003 eingeführt wurde ... .
Das Auslieferungsgesetz von 2003 hatte seinen Ursprung in einer Entscheidung der EU, die nur eine Woche nach den Anschlägen vom 11. September getroffen wurde. Sie wurde den Wählern als eine Möglichkeit verkauft, des Terrorismus und anderer schwerer Verbrechen Verdächtige zu verfolgen, die über europäische Binnengrenzen hinweg gesucht werden. Die gemeinsamen Verpflichtungen gegenüber der europäischen Menschenrechtskonvention schufen eine ausreichende Vertrauensgrundlage dafür, dem Haftbefehl eines anderen EU-Mitgliedsstaates ohne weiteres Folge zu leisten."
Tatsächlich aber, schreibt Hirsch, werden häufig triviale Fälle auf diesem Wege verfolgt. Insbesondere in Polen sind offenbar zahlreiche Tatbestände Verbrechen, die in Großbritannien nur Vergehen (?) wären. Da aber dem Auslieferungsland eine inhaltliche Prüfung nicht zusteht, muss (z. B.) Großbritannien mit hohem Kostenaufwand derartige Fälle bearbeiten.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Ergänzend zu meinen posts # 7 und #12:
Was wäre, wenn die USA einen Auslieferungsantrag an GB stellten, bevor Assange nach Schweden ausgeliefert worden ist?
Der Extradition Act 2003 von GB enthält dazu folgende Konkurrenzregel (Section 179):
Zur Erläuterung: Part 1 warrant bezieht sich v.a. auf den Europ. Haftbefehl. Section 70 betrifft Auslieferungsanträge von Categ. 2 Staaten, wozu die USA gehören.
Bei einer Konkurrenz beider Begehren entscheidet nach Absatz 2 der Secretary of State. Für sein Ermessen werden ihm in Absatz 3 ein paar Maßstäbe an die Hand gegeben:
a) die Schwere der vorgeworfenen Tat
b) der Tatort
c) ob die Person nur beschuldigt/angeklagt wird oder bereits verurteilt ist
Von diesen Maßstäben scheint nur der erste überhaupt in Betracht zu kommen, wobei die Frage ob eine "minderschwere Vergewaltigung" nach schwed. Recht schwerer wiegt als eine Verschwörung zum Geheimnisverrat in den USA, nicht leicht zu beantworten ist.
Im Kern wird es eine relativ freie Ermessensfrage sein, d.h. entgegen einer von mir zunächst gehegten Vermutung hat der Europ. Haftbefehl nach diesem Statut keinen besonderen Vorrang.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Eine Auslieferung in die USA wird auch von RA Kai Peters, hier, als schwierig eingeschätzt. Sein Fazit:
"Eine Verschwörung mit dem Ziel, Herrn Assange so schnell wie möglich in die USA zu verbringen, erscheint nach allem eher fernliegend. Wollte man dies anders sehen, so wäre die Verschwörung vor allem eines: Verdammt schlecht vorbereitet."
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Auf der Website von Assanges Verteidiger hat dieser den Entwurf seines 35 seitigen Schriftsatzes im Auslieferungsverfahren publiziert (hier).
Seine Argumente - knapp zusammengefasst:
1. Staatsanwältin Ny sei nicht zuständig für die Ausstellung eines Europ. Haftbefehls
2. Das Europ. Haftbefehlsverfahren werde missbraucht, da die Staatsanwältin mehrfach bekundet habe, Assange (noch) nicht zu beschuldigen ("prosecute"), sondern ihn lediglich befragen ("interrogate") wolle. Es liege auch bisher keine offizielle Mitteilung an Assange vor, welcher Delikte er beschulidgt werde.
3. Es seien, anders als von der Staatsanwältin vorgetragen, auch nicht alle anderen Mittel erschöpft, eine Befragung Assanges zu erreichen. Eine solche Befragung sei insbesondere im vereinbarten Rechtshilfeverfahren mit England möglich.
4. Der Europ. Haftbefehl sei zur bloßen Befragung unverhältnismäßig, insbesondere, weil Assange zuvor mehrfach angeboten habe, zur Befragung zur Verfügung zu stehen, Staatsanwältin Ny dies aber abgelehnt habe. Es liege daher ein Missbrauch des Europ. Haftbefehlsverfahrens vor.
5. Wenn allerdings Assange als Beschuldigter behandelt werden solle, sei er auch zur Akteneinsicht berechtigt. Vollständige Akteneinsicht sei aber Assange und seinen Anwälten bislang nicht gewährt worden, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Insbesondere habe man es versäumt, einige einer Anklage entgegenstehenden Beweismittel zu offenbaren. Er bezieht sich hier auf die SMS-Nachrichten und den Blogeintrag einer der Anzeigeerstatterinnen, über deren Inhalt in der Presse berichtet wurde.
6. Es habe - nach offizieller Einstellung des Verfahrens - ein Geheimverfahren stattgefunden, ohne Benachrichtigung von Assange und seiner Anwälte, um erneut ein Verfahren einzuleiten.
7. Die Vorwürfe seien Assange nicht in einer für ihn verständlichen Sprache mitgeteilt worden.
8. Die Tatbestände konstituierten keine Auslieferungstatbestände.
9. Der Auslieferung stehe entgegen, dass Assange in Schweden aus politischen Gründen und/oder aus Gründen seines Geschlechts verfolgt werden solle.
10. Die Auslieferung verstoße gegen Assanges Menschenrechte, insbesondere wegen der Gefahr einer Auslieferung an die USA, da Assange dort der Gefahr der Folter oder der Todesstrafe ausgesetzt sei.
Meine Auffassung: Natürlich muss ein Verteidiger alle denkbaren Argumente anführen, einige erscheinen mir aber nicht passend im Auslieferungsverfahren, insbesondere wenn es um Details des schwedischen Prozessrechts geht. Trotz Guantanamo sehe ich auch keine Foltergefahr in diesem Fall. Sollte die Todesstrafe wirklich drohen (auch dies erscheint mir äußerst fraglich, und die Gefahr durch einige populistische - oder verrückt gewordene - amerikanische Politiker auch nicht näher liegend) - dann kann und wird eine Auslieferung an die USA sicherlich an das Verbot der Todesstrafe geknüpft werden. Nach wie vor erscheint mir die Gefahr für Assange, aus Schweden in die USA ausgeliefert zu werden, nicht höher als diejenige, direkt aus GB dorthin ausgeliefert zu werden (s.o.).
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Das zuständige britische Gericht hat nun offenbar entschieden, dass Assange nach Schweden ausgeliefert werden kann. Allerdings kann Assange noch Rechtsmittel einlegen (Quelle).
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Über den derzeitigen Stand im Verfahren berichten Zeit-Online und der Guardian mit Tickermeldungen von der gestrigen Anhörung.