BGH: Anthropologisches Sachverständigengutachten ist nicht per se "ungeeignetes Beweismittel"

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 17.02.2012
Rechtsgebiete: GutachtenBGHStrafrechtVerkehrsrecht1|8120 Aufrufe

Anthropologische Sachverständigengutachten kennen "wir" im Verkehrsrecht schon lange. Jetzt hat der BGH dazu in einem Verfahren mit allgemein strafrechtlichem Hintergrund Stellung genommen und dem Landgericht erklärt, dass ein solches Gutachten zur Täteridentifizierung selbst bei schlechtem Bildmaterial nicht schlechthin ungeeignet ist. Ob das Material geeignet ist muss das Gericht im Freibeweis klären:

 

Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung den Antrag gestellt, zum Beweis der Tatsache, dass es sich bei den zur Tatzeit mittels einer Über-wachungskamera im Verkaufsraum der Tankstelle aufgezeichneten männlichen Personen um die Angeklagten handele, ein anthropologisches Identitätsgutach-ten einzuholen. Das Landgericht hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, es handele sich um ein "ungeeignetes Beweismittel" im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, weil es nicht möglich sei, dem Sachverständigen neben dem aus den Aufzeichnungen der Überwachungskamera stammenden "Videomaterial" das für die Begutachtung erforderliche "Vergleichsmaterial" zu verschaffen. Entsprechendes Material könne nur mittels eines Nachstellens der Tat unter Mitwirkung der Angeklagten gewonnen werden. Dazu seien diese nicht bereit.
2. Diese Begründung trägt die Ablehnung des Beweisantrags nicht; sie ist mit § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht vereinbar.
a) Ein Beweismittel ist völlig ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, wenn ungeachtet des bisher gewonnenen Beweisergebnisses nach sicherer Lebenserfahrung feststeht, dass sich mit ihm das im Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nicht erreichen lässt und die Erhebung des Beweises sich deshalb in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen müsste (BGH, Beschluss vom 13. März 1997 - 4 StR 45/97, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 16; Beschluss vom 15. März 2007 - 4 StR 66/07, NStZ 2007, 476, 477; Beschluss vom 7. August 2008 - 3 StR 274/08, NStZ 2009, 48 f.).
Wird eine Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt, kommt dies in Betracht, wenn es nicht möglich ist, dem Sachverständigen die tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen, deren er für sein Gutachten bedarf. Umgekehrt ist ein Sachverständiger nicht schon dann
ein völlig ungeeignetes Beweismittel, wenn er absehbar aus den Anknüpfungstatsachen keine sicheren und eindeutigen Schlüsse zu ziehen vermag. Als Be-weismittel eignet er sich vielmehr schon dann, wenn seine Folgerungen die unter Beweis gestellte Behauptung als mehr oder weniger wahrscheinlich er-scheinen lassen und hierdurch unter Berücksichtigung des sonstigen Beweis-ergebnisses Einfluss auf die Überzeugungsbildung des Gerichts erlangen kön-nen (BGH, Beschluss vom 13. März 1997 - 4 StR 45/97, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 16; Beschluss vom 7. August 2008 - 3 StR 274/08, NStZ 2009, 48, 49 mwN).
Ob eine sachverständige Begutachtung auf der verfügbaren tatsächlichen Grundlage zur Klärung der Beweisbehauptung nach diesen Maßstäben geeignet ist, kann und muss der Tatrichter in Zweifelsfällen im Wege des Frei-beweises - etwa durch eine Befragung des Sachverständigen zu den von ihm für eine Begutachtung benötigten Anknüpfungstatsachen - klären (BGH, Be-schluss vom 31. Mai 1994 - 1 StR 86/94, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 14; Beschluss vom 9. März 1999 - 1 StR 693/98, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 20; Beschluss vom 15. März 2007 - 4 StR 66/07, NStZ 2007, 476, 477).
b) Danach vermag die vom Landgericht gegebene Begründung die Ablehnung des Beweisantrags nicht zu rechtfertigen.

Sie stützt sich allein darauf, es fehle an dem notwendigen Vergleichsbildmaterial, das ohne Mitwirkung der Angeklagten auch nicht beschafft werden könne. Damit ist aber nicht belegt, dass ein anthropologischer Sachverständiger nicht in der Lage wäre, aus einem Vergleich des vorhandenen Bildmaterials mit den in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten sowie mit Lichtbildern und Messungen, deren Herstellung die Angeklagten gemäß § 81b StPO zu dulden haben, nicht zumindest Wahrscheinlichkeitsaussagen zur Identität der Angeklagten mit den durch die Überwachungskamera gefilmten Tätern zu treffen. Auch verhält sich der Ablehnungsbeschluss nicht dazu, ob das vorhandene Bildmaterial trotz seiner nur mäßigen Qualität nach den maßgeblichen Kriterien (vgl. dazu BGH, Urteil vom 15. Februar 2005 - 1 StR 91/04, BGHR StPO § 244 Abs. 2 Sachverständiger 19) nicht doch hinreichende morphologische Merkmale der Täter erkennen lässt, die mit denen der Angeklagten abgeglichen werden könnten. Eine freibeweisliche Klärung dieser Fragen durch Anhörung eines kompetenten Sachverständigen hat das Landgericht nicht vorgenommen.

 

3. Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht das Urteil, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Landgericht nach Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre. Die Voraussetzungen, unter denen in Fällen der feh-lerhaft begründeten Ablehnung eines Beweisantrags ausnahmsweise ein Beruhen ausgeschlossen werden kann (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2010 - 3 StR 519/09, NStZ-RR 2010, 211, 212 f.), liegen nicht vor.

 

 

BGH, Urteil vom 1.12.2011 - 3 StR 284/11 

 

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

1 Kommentar

Kommentare als Feed abonnieren

Zum anthropologischen Sachverständigengutachten sollte man aber auch anmerken, dass auf der Grundlage eines solchen Gutachten mindestens eine unschuldige Person für zahlreiche Jahre im Gefängnis "versteckt" wurde. Der Beweiswert ist daher m.E. eher fragwürdig und sollte stets kritisch gewürdigt werden.

5

Kommentar hinzufügen