Die Scharia in Deutschland
von , veröffentlicht am 21.02.2012
„Das islamische Recht der Scharia darf in Deutschland niemals zur Anwendung kommen“, tönte es dem rheinland-pfälzischen Justizminister Hartloff entgegen, nachdem dieser geäußert hatte, bei Streitigkeiten über Geld, Scheidungen und Erbsachen halte er Scharia-Gerichte in Form von Schiedsgerichten für möglich.
Die Kritiker übersehen, dass im Familien- und Erbrecht das Recht der Scharia schon heute zur Anwendung kommen kann - und dies schon lange.
Sowohl die Voraussetzungen der Eheschließung (Art. 13 I EGBGB) als auch die Scheidung (Art. 14 I Nr. 1, 17 I EGBGB) richten sich (vorbehaltlich eventueller Weiter- oder Rückverweisungen) in erster Linie nach dem Recht des Staates, dem beide Ehegatten angehören oder zuletzt angehörten, wenn einer von ihnen diesem Staat noch angehört.
Lassen sich zwei Iraner in Deutschland scheiden, so ist auf die Scheidung grundsätzlich die iranische Scharia anzuwenden.
Die Grenze setzt Art. 6 EGBGB (Ordre public)
Eine Rechtsnorm eines anderen Staates ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist.
Die in der Scharia vieler Länder vorgesehene Ungleichbehandlung nach Geschlecht und Religionszugehörigkeit erfordert die Prüfung einer möglichen Grundrechtsverletzung im Rahmen des Ordre-public Vorbehalts. Beispielsweise steht den Frauen nach islamischem Verständnis nur selten ein Scheidungsantragsrecht zu, während dem Mann weitestgehende Freiheit in der Form der Verstossung (Talaq) zugebilligt wird.
Auch die islamische Vorschrift, wonach bei Scheidung dem Mann automatisch das Sorgerecht zusteht, verstösst gegen den Ordre public und ist daher nicht anzuwenden.
PS: Die Türkei hat bereits 1926 die Scharia vollständig abgeschafft und ein auf schweizerischem Recht basierendes Zivilrecht eingeführt.
Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
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9 Kommentare
Kommentare als Feed abonnierenUntermann kommentiert am Permanenter Link
Das ist so nicht richtig. Das kann der (obligatorische) Ehevertrag auch anders regeln. Zudem bleiben die Kinder bis zu einer Altersgrenze in der Obhut der Mutter. Dem steht der vom Rechtswesen in Deutschland kaugummiartig verbogene und oft missbrauchte Kindeswohlbegriff gegenüber. Was für eine Wahl...
Man muss übrigens überhaupt nicht irgendwelche Familienrechtsordnungen mit Turban auffahren, um gegen "ordre public" zu verstossen. Das passiert bereits innerhalb Europas im Familienrecht. Einige Rechtsordnungen kennen keinen Ehegattenunterhalt (z.B. Norwegen), auch nicht im Fall der Bedürftigkeit und ehelichen Kleinkindern.
A.Wieser kommentiert am Permanenter Link
Könnten Sie mir als Laien bitte erklären, wieso automatisches Sorgerecht für den Vater gegen den Ordre Public verstößt, für die Mutter aber nicht?
An den Grundrechten kann es ja wohl nicht liegen.
Offenbar unterscheidet sich das deutsche Familienrecht ja nur im Vorzeichen von der Scharia.
Hans-Otto Burschel kommentiert am Permanenter Link
Sie wollen offensichtlich bewusst missverstehen.
Ein automatisches Sorgerecht für die Mutter nach Scheidung gibt es in D nicht - und das wissen Sie auch.
Für die nichtehelichen Kinder hat das BVerfG die bisherige Regelung für verfassungswidrig erklärt. Eine Neuregelung steht noch aus. Für die Übergangszeit lesen Sie bitte in der Entscheidung des BVerfG nach.
Burschi kommentiert am Permanenter Link
Bei Hartloff geht es aber gar nicht um die Scharia als ggf. kollisionsrechtlich zur Entscheidung berufenes Sachrecht, sondern um "Scharia-Gerichte" (also z.B. durch islamische Geistliche oder Gemeindeälteste) als zur Entscheidung berufene Spruchkörper. Wenn Sie dazu etwas schreiben wollen, müssen Sie deshalb nicht ins EGBGB (= IPR) schauen, sondern vor allem in die §§ 1025 ff. ZPO (insbesondere zur Schiedsfähigkeit bestimmter familienrechtlicher Streitgegenstände).
Die Rechtsanwaeldin kommentiert am Permanenter Link
Vielleicht an der Stelle der dezente Hinweis auf einen Überblick der Entscheidungen seit dem Jahr 2000 von Richter am LG (F.a.M.) Dr. Wolfgnag Bock "Der Islam in der Entschediungspraxis der Familiengerichte" in der noch recht aktuellen NJW 3/2012 S.122- 127
MfG
Die rechtsanwaeldin
http://www.jurablogs.com/de/go/eiskalte-winde-gefuehlt-32grad-scharia-ge...
Hans-Otto Burschel kommentiert am Permanenter Link
@ Rechtsanwäldin
Danke für den Link
Michael Anlage kommentiert am Permanenter Link
Hochinteressant!
Gibt es an jedem Amtsgericht Fachleute für die über 200 Rechtssysteme auf der Welt?
Gilt auch die ausländische Gebührenordnung?
Gilt das auch für die beispielhaft genannten Iraner, die nach dt. Recht verheiratet wurden?
Und letzte Nachfrage:
Gibt es nicht einen Zustimmungsvorbehalt der Parteien zur Anwendung des ausländischen Rechts oder kann jede Partei zur Anwendung des ausländischen Rechts, bspw. der Sharia, gezwungen werden?
Hans-Otto Burschel kommentiert am Permanenter Link
Gibt es an jedem Amtsgericht Fachleute für die über 200 Rechtssysteme auf der Welt?
Nein
Es hilft dann das einschlägige Buch: Bergmann / Ferid / Henrich: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht (Loseblattsammlung mit und 16000 Seiten in 21 Ordnern, schlappe 657 € + Nachlieferungen), was aber bei kleinen AG auch nicht vorhanden ist und über das OLG eingesehen werden kann. Ganz ausnahmsweise kann der Richter ein Sachverständigengutachten zu dem anzuwenden ausländischen recht einholen.
Gilt auch die ausländische Gebührenordnung?
Nein
Gilt das auch für die beispielhaft genannten Iraner, die nach dt. Recht verheiratet wurden?
Die Frage ist „schief“. Die Form (aber nur die Form) der Eheschließung in Deutschland richtet sich nach deutschem Recht (Art. 13 III 1 EGBGB). Die Voraussetzungen der Eheschließung und die Wirkungen der Ehe richten sich nach der gemeinsamen Staatsangehörigkeit.
Gibt es nicht einen Zustimmungsvorbehalt der Parteien zur Anwendung des ausländischen Rechts oder kann jede Partei zur Anwendung des ausländischen Rechts, bspw. der Sharia, gezwungen werden?
Unter bestimmten Voraussetzungen können die Eheleute durch notariellen Vertrag eine Wahl bezüglich des anzuwendenden Rechts treffen.
Die Rechtsanwaeldin kommentiert am Permanenter Link
Ich bin's nochmal ;-).
Vielleicht auch interessant zur "Grundbildung"/Horizonterweiterung bei wachsendem Anteil von bi- bzw. multikulturellen Familienrechtsangelegenheiten:
(auch von kleinen Gerichten leicht zugänglich ;-) )
Das Eheverständnis im Islam und in ausgewählten islamischen Ländern
Yassari, N. (2011). Das Eheverständnis im Islam und in ausgewählten islamischen Ländern. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 1-3.
MfG