"Unerhört" und "unsensibel"? - Urteil des LG Köln zur Beschneidung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 27.06.2012

Aufsehen erregte gestern das Urteil des LG Köln (Urt. v. 07.05.2012, Az. 151 Ns 169/11), das erstmals die Strafrechtswidrigkeit der religiös motivierten Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen männlichen Kleinkindes bejaht hat, aus den Gründen:

Jedenfalls zieht Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG selbst den Grundrechten der Eltern eine verfassungsimmanente Grenze. Bei der Abstimmung der betroffenen Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unange-messen. Das folgt aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider.

Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet.

Der die Zirkumzision durchführende Arzt wurde allerdings aufgrund § 17 StGB wegen nicht vermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen.

Mein Passauer Kollege Holm Putzke ist derjenige Strafrechtswissenschaftler in Deutschland, der dieses Thema am intensivsten bearbeitet hat und dessen Argumente sicher auch in das Kölner Urteil eingegangen sind - er selbst nimmt in LTO Stellung. Eine Literaturübersicht gibt er hier.

Natürlich sind die Religionsgemeinschaften, die die Zirkumzision zu ihren Traditionen zählen (insbesondere Islam und Judentum), ganz anderer Auffassung:

Der Zentralrat der Juden kritisierte das Urteil als "beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften". Zentralratspräsident Dieter Graumann sagte: "Diese Rechtsprechung ist ein unerhörter und unsensibler Akt."(Quelle)

Auch Matthias Drobinski  widerspricht Putzke und dem LG Köln, und zwar in der Süddeutschen Zeitung. Säkularisierte Richter sollten sich aus religiösen Traditionen heraushalten, sich jedenfalls nicht über die Religion stellen:

Manchmal aber ist es überhaupt nicht gut, wenn sich Richter zu Schiedsrichtern der Religion machen, sich über sie stellen, einen Rechtspositivismus quasi zur Ersatzreligion machen. Wo diese Grenze zwischen legitimem Einspruch im Namen des Grundgesetzes und Grenzüberschreitung liegt, das werden in den kommenden Jahren viele Urteile von vielen Gerichten neu justieren müssen, bis hin zum Verfassungsgericht. Es spricht einiges dafür dass sich die Karlsruher Richter irgendwann mit der Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen werden beschäftigen müssen. Und dann der Auffassung des Zentralrats der Juden folgen, der im Kölner Urteil einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sieht.

Das AG hatte den Eingriff noch als gerechtfertigt angesehen:

Das Gericht entschied, der Eingriff sei zwar eine Körperverletzung, diese sei aber gerechtfertigt, weil sie sich "am Wohl des Kindes" ausrichte und eine Einwilligung der Eltern vorgelegen habe. Die Beschneidung diene als "traditionell-rituelle Handlungsweise zur Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zur muslimischen Lebensgemeinschaft". Durch sie werde einer drohenden Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt (Quelle)

Die Frage der Strafbarkeit der nicht medizinisch indizierten Zirkumzision wird schon seit einigen Jahren in Fachkreisen - von Medizinern und Strafrechtlern - diskutiert.  Die Entscheidung des LG Köln kommt also nicht ganz überraschend, zumal die Praxis der Beschneidung verbreitet ist. Dass die Gerichtsentscheidung "unerhört" sei oder dass das Bundesverfassungsgericht die Frage selbstverständlich anders beurteilen werde, ist nicht ausgemacht: Ob Art. 4 oder Art. 6  GG das Recht einschließt, nicht einwilligungsfähige Kleinkinder am Körper zu verletzen, erscheint höchst fraglich. 

Update: Link zum  Wortlaut der Entscheidung

Update (15.07.2012): Nachdem sich nun Bundesregierung und einige weitere Politiker dahingehend geäußert haben, die Beschneidung künftig gesetzlich zu regeln, habe ich einen neuen Beitrag verfasst. Die Kommentarfunktion ist gesperrt. Ich bitte, beim neuen Beitrag zu diskutieren.

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211 Kommentare

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Oliver Garcia, dessen Kommentare ich sehr schätze, hat im de legibus-Blog zur Frage des Beschneidungsverbots Stellung genommen und eine Lanze für die Religion als Verfassungsrechtsgut gebrochen. Seine sozialphilosophischen Erwägungen sind wirklich lesenswert. Und in der Tat scheint er mir (wie zuvor schon Hans Michael Heinig) zutreffend auf ein schwaches Argument des LG Köln einzugehen:

Die Verfassung kennt kein religiöses Abwehrrecht des jungen Kindes gegenüber seinen Eltern. Im Gegenteil, sie geht von dem “natürlichen Recht der Eltern” (Art. 6 Abs. 2 GG) aus, ihre Religion an die Kinder weiterzugeben (Art. 7 Abs. 2 GG: “Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.”(...)

Es bedeutet aber, daß im Rahmen der erforderlichen Abwägung der Gedanke eines “religiösen Freihaltebedürfnisses” unzulässig ist. Das religiös beeinflußte Kind als Opfer eines Eingriffs in seine negative Religionsfreiheit gibt es von Verfassungs wegen nicht.

Dem möchte ich zustimmen. Nicht zustimmen kann ich Garcia in einem anderen Punkt. Denn bei der Beschneidung geht es m. E. gar nicht um religiöse "Erziehung", die keinem Elternteil verwehrt werden soll, sondern primär um die "körperliche Unversehrtheit" des Kindes. Dass im ganzen Beitrag von Garcia Art. 2 Abs. 2 GG überhaupt nicht vorkommt, ist m.E. ein wesentlich schwerwiegenderer Abwägungsfehler als derjenige, den er dem  LG Köln vorwirft.

Viel zutreffender erscheint mir die Erfassung der rechtlichen Situation im englischen "UK Human Rights Blog", hier.

Auch Garcias Argumentation, der Gesetzgeber müsse tätig werden, wenn § 223 StGB so unbestimmt sei, das auch die Beschneidung darunter falle, klingt erst einmal plausibel und ist mir sympathisch:

Daß allein der Gesetzgeber dazu berufen ist, über die Idee mit dem Beschneidungsverbot zu entscheiden, ergibt sich nicht nur aus dem allgemeinen strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot, sondern auch – und vielleicht mehr noch sogar – aus der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten “Wesentlichkeitstheorie”. Nach dieser sind Entscheidungen in besonders grundrechtssensiblen Bereichen nicht von der Verwaltung oder den Gerichten aufgrund von “Generalklauseln” (sei es verwaltungsrechtlicher, zivilrechtlicher oder gar strafrechtlicher Art) zu treffen, sondern der Gesetzgeber ist aufgefordert, die ggf. erforderliche Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und den Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten vorzunehmen (siehe zum Erfordernis eines Parlamentsgesetzes für das Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuches durch eine Lehrerin: BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02). Und was wäre grundrechtssensibler als die Bestrafung wegen des Abschneidens einer Vorhaut?

Meiner Auffassung nach müsste aber die Beschneidung (und ihre Kautelen) ausdrücklich erlaubt werden, um sie rechtmäßig zu machen. Oliver Garcia scheint die gesamte strafrechtliche Diskussion zum ärztlichen Heileingriff zu vernachlässigen: Auch eine gelungene, medizinisch indizierte und kunstgerecht von einem Arzt durchgeführte (Mini-)Operation ist nach allg. Auffassung (auch der höchsten Gerichte!) nach § 223 StGB als Körperverletzung strafbar, wenn sie ohne Einwilligung oder sonstigen Rechtfertigungsgrund durchgeführt wird. Auf § 228 StGB (Oliver Garcia schreibt § 229, meint aber wohl § 228 StGB) kommt es dabei überhaupt nicht an.

Als Erziehungsmittel ist eine Körperverletzung  völlig ohne Gesetzesänderung, eben nicht mehr  "sozialadäquat", obwohl die Prügelstrafe auch jahrtausendelang und bis noch vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland und weltweit in den meisten Ländern bis  heute noch "sozialadäquat" war bzw. ist; dennoch zweifelt heute niemand im deutschen Strafrecht daran, dass sie von § 223 StGB erfasst ist. Das hat mit antireligiösem Zeitgeist nichts zu tun.

Henning Ernst Müller schrieb:
Dass im ganzen Beitrag von Garcia Art. 2 Abs. 2 GG überhaupt nicht vorkommt, ist m.E. ein wesentlich schwerwiegenderer Abwägungsfehler als derjenige, den er dem  LG Köln vorwirft.
Das scheint die große Gemeinsamkeit aller Urteilskritiker zu sein: dass auch ein Neugeborenes oder Kleinkind ein Mensch mit Grundrechten ist, scheint die "Freiheits"-Verfechter überhaupt nicht zu interessieren - oder sie schweigen es tot, weil sie genau darin die Schwachstelle ihrer Rechtfertigungsversuche erkannt haben.

O. García ignoriert aber nicht nur Grundrechte, sondern auch bestehende Gesetze und Strafvorschriften, wenn er schreibt: "Die Fortentwicklung des Rechts aufgrund geänderter Anschauungen ist, soweit sie strafbegründend sein soll, dem Gesetzgeber, nicht den Gerichten anvertraut" - genau das hat der Gesetzgeber im Jahr 2002 getan, als er das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung (und dazu gehört auch die gewaltfreie religiöse Erziehung!) in § 1631 BGB aufnahm. Seitdem ist die nicht medizinisch indizierte Zirkumzision nicht einwilligungsfähiger Minderjähriger genauso als Körperverletzung strafbar wie die weibliche Genitalverstümmellung und das LG Köln hat völlig zu Recht auf § 1631 (2) BGB Bezug genommen (auch so ein Paragraph, der von den Urteilskritikern geflissentlich ignoriert wird). Nur konnten sich die Täter bisher auf einen Verbotsirrtum nach § 17 StGB berufen, da seit der Gesetzesänderung 2002 noch kein Urteil nach der neuen Gesetzeslage rechtskräftig geworden war. Das hat sich nun geändert. Es wurde also - anders als von den Kritikern behauptet - weder Rechtsunsicherheit geschaffen (Rechtssicherheit bestand nach Gesetzeslage seit 2002: Kinder haben ein Recht darauf, nicht verstümmlt zu werden) noch "neues" Recht gesprochen. Im Gegenteil: es wurde lediglich ein seit 10 Jahren geltendes Recht erstmals auch auf einen bisher nicht konkret verhandelten Fall angewendet.

García ignoriert schlicht und einfach, dass die an einem nicht einwilligungsfähigen Kind ausgeführte nichttherapeutische Amputation schon immer Körperverletzung war, spätestens aber ab 2002 - genauso wie die Genitalverstümmelung von Mädchen. Die musste auch nicht extra verboten werden, um strafbar zu sein, sondern war ebenfalls schon immer von § 223 bzw. 224 StGB erfasst.

Der einzige Unterschied ist der Zeitpunkt, an dem der "Wo kein Kläger, da kein Richter"-Zustand geendet hat. Das mag für manche überraschend und "plötzlich" kommen, ist aber primär ein Wahrnehmungsproblem derer, die nun so überrascht tun (und damit mehr oder weniger bewusst eine Straftat mit ihrer Tradition zu rechtfertigen versuchen, so wie García in seiner ätzend herablassend formulierten Einleitung).

Henning Ernst Müller schrieb:
In der Abtreibungsdiskussion ist im Übrigen genau das Argument heute rechtswirksam, das ich auch hier für relevant halte: Ein vollständiges Verbot der Abtreibung wäre einfach nicht effektiv (es würde zwar "Lebensschützer" befriedigen, aber um den Preis des Lebensschutzes, denn es führt tatsächlich zu unkontrollierten  illegalen Abtreibungen oder solchen im Ausland).
Die fehlende Effektivität wird vom Gesetzgeber jedoch sehr uneinheitlich gehandhabt - man könnte den Eindruck bekommen: je höher das gefährdete Rechtsgut ist, desto eher geht es um Schadensbegrenzung als um Prohibition. So ist der Handel mit Betäubungsmitteln außerhalb des Medizinsektors grundsätzlich verboten, die Abwanderung in die Illegalität wird trotz massiver Gefährdung des Rechtsstaats durch den Einfluss der Organisierten Kriminalität in Kauf genommen. Ebenso wird der OK durch die prohibitive Zuwanderungspolitik ein weiteres, extrem lukratives Geschäftsfeld erst erschlossen: der Menschenhandel. Oder, um im Bereich der Religion zu bleiben: Schächten ist an derart strenge Voraussetzungen geknüpft, dass es einem Verbot gleichkommt - der Import geschächteten Fleisches ist jedoch erlaubt.

Ein so hohes Rechtsgut wie die körperliche Unversehrtheit bedarf eines wirksamen Schutzes. Das BVerfG hat z.B. aus Anlass des §218a generell festgestellt: "Der Staat muss zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, daß ein - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot). Dazu bedarf es eines Schutzkonzepts, das Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzes miteinander verbindet."(BVerfGE 88, 203)

Eine generelle Erlaubnis bzw. Straffreiheit (quasi eine "Fristenlösung" wie in Schweden) ist unter dieser Maßgabe (wirksamer Schutz) nicht denkbar. Es wäre auch eine de-facto-Diskriminierung aus religiösen Gründen und damit grundgesetzwidrig. Es kommt für eine Aufweichung des §223 also nur eine weltanschaulich neutrale Formulierung in Betracht - worauf sollte sich eine solche gründen und wie soll vor allem verhindert werden, dass nur die Knabenbeschneidung ermöglicht wird, aber neu einzuführende, stärker verstümmelnde Bräuche bestehender oder neu entstehender Religionen verboten sind? Und wie soll eine solche Erlaubnis ausgestaltet sein, dass sie nur eine nichttherapeutische Zirkumzision erlaubt, nicht aber eine weibliche Genitalverstümmelung in jeder, auch der leichtesten Form? Sie müsste ja auch geschlechtsneutral formuliert sein, um nicht am Grundgesetz zu scheitern.

Dagegen scheint die Quadratur des Kreises ein leichtes Unterfangen ...

In der medialen Berichterstattung kommt das Grundrecht des Kindes weiterhin nur ganz am Rande vor: z.B. in diesem aktuellen Beitrag von "Mona Lisa" (http://monalisa.zdf.de/) In fünf Minuten nur ein Halbsatz zum Recht auf körperliche Unversehrtheit und auch ein "Verfassungsrechtler" wie Kyrill-Alexander Schwarz behauptet, das Gericht habe sich die Deutungshoheit zu religiösen Fragen angemaßt. Man fragt sich wirklich, ob das Urteil auf chinesich verfasst ist ...

Dazu (und zu den unbelegten Behauptungen des medizinischen Nutzens) kann man nur den Kopf schütteln.

Dafür wird in dem Beitrag gut deutlich, dass ein sechsjähriges Kind nicht einwilligungsfähig ist, auch wenn sein Vater behauptet, es sei einverstanden. Einem Knaben, der noch nicht einmal zur Schule geht, kann man alles erzählen, wenn man ihm dabei einredet, er würde jetzt ein "Mann" oder "erwachsen" und ihm dazu noch viele Geschenke verspricht.

Ebenso wird klar, dass es bei nicht allzu religiösen Juden in Israel (die dort ebenso in der Mehrheit sind wie die Mehrheit der Kirchensteuerzahler in Deutschland sich nicht als religiös bezeichnen würde) in erster Linie keine Frage der Religion ist, sondern das Hauptmotiv soziale Angepasstheit ist. In diesem Fall ist die Zirkumzision aber nicht anders zu beurteilen als eine beliebige Schönheitsoperation, ein Piercing oder ein Tattoo. Für diese Eltern (Zitat: "es gibt keinen religiösen Grund bei mir") ist die 8-Tages-Frist offensichtlich auch nicht so strikt wie sie von den Religionsvertretern derzeit behauptet wird.

Das Urteil kann solchen Eltern helfen, die Grundrecht ihres Kindes stärker wahrzunehmen und nicht aus der "das gehört dazu"-Tradition, die schon nicht mehr religiös begründet ist, diese Grundrechte einfach zu übergehen. Es sollte Aufgabe der Medien sein, diese Grundrechte stärker herauszustellen, denn offensichtlich glauben immer noch viele Eltern, sie alleine könnten willkürlich darüber entscheiden, ob an ihrem Kind eine nicht medizinisch indizierte Amputation durchgeführt wird.

Ein Lichtblick: der Mohel aus Hof will wegen des Urteils keine Beschneidungen mehr durchführen ...

Hallo miteinander!

Wenn ich mich kurz vorstellen darf, ich bin kein Rechtsgelehrter sondern nur ein einfacher Schöffe bei der Strafkammer unseres hiesigen LG. Ich interessiere mich sehr für die tiefere Rechtssystematik, setze mich gerne mit den tieferen Fragen nach "Recht und Unrecht" auseinander. Ich verstehe zwar den hier gebräuchlichen Fachjargon, kann mich aber selber leider nicht genau so exakt ausdrücken. Darum bitte ich um etwas Nachsicht wenn ich unsauber formuliere.

Ich habe mir versucht vorzustellen wie ich reagieren würde, wenn solch ein Fall in meinen Sitzungstag fallen würde.

Erster Gedanke: "ou_ou, eigentlich ne Nummer zu groß für uns"

Zweiter Gedanke:"da müssen wir durch, es geht um eine KV, Abwägung von verschiedenen Rechtsgütern, ich will mein Bestes dazu tun um meiner Aufgabe gerecht zu werden"

 

Ich finde das Urteil gut. lediglich eine Passage in der Urteilsbegründung ist mir sofort negativ aufgefallen: Eine (zu Unrecht) erfolgte Beschneidung hindert nicht an einer späteren freien Religionswahl. Ich finde die verletzte körperliche Unversehrtheit weit gewichtiger.

 

Nun gibt es ja von manchen Parteien bereits Einlassungen zum Thema. Manche wollen auf eine gesetzliche Regelung drängen die Beschneidungen aus religiösen Gründen legitimiert.

 

Nun versuche ich mir als juristischer Laie vorzustellen wie solch eine Regelung denn überhaupt einigermaßen schlüssig und rechtssicher aussehen soll und welche Konsequenzen sich daraus ergeben könnten.

 

Nehmen wir mal an, eine gesetzliche Regelung sähe vor, den Eltern die Entscheidungsbefugnis über die Beschneidung aus religiösen Motiven zu übertragen. Der ausführende Arzt wird zu dem Eingriff legitimiert.

 

Nun stellen wir uns eine fiktive Situation vor:

Ein 11-jähriger muslimischer Junge will sich dem Ritual jedoch nicht unterziehen. In seiner Verzweifelung haut er von zuhause ab. Er wird auf der Straße von der Polizei aufgegriffen und wieder in die Fürsorge seiner Eltern überführt. Daheim angekommen steht bereits das komplette Instrumentarium für den Eingriff bereit. Alternativ dazu möge man sich vorstellen dass der Junge in das nächste Kreiskrankenhaus eingeliefert wird, wo er bis zur Operation am nächsten Tag fixiert wird.

 

Abgesehen davon, dass es mir bei dieser Vorstellung kotzübel wird, und abgesehen davon, dass es kaum viele 11-jährige Jungs gibt die sich diesem Eingriff mit solcher Vehemenz zu entziehen versuchen, wäre mit einer -wie auch immer gearteten- gesetzlichen Regelung nicht eine riesengroße Büchse der Pandorra geöffnet?

 

Müsste da nicht eine unendlich schwierig zu treffende Differenzierung erfolgen? Können Eltern ihr Kind zwangsbeschneiden lassen? Wenn ja, bis zu welchem Alter?...

 

Vielleicht kann einer der hier anwesenden Experten mal etwas dazu schreiben?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was bei der Thematik auffällt, ist, dass keine konkrete Zahlen über "Beschneidungsfehler" (auch Todesfälle) genannt werden, insbesondere Komplikationen, die zu dauerhaften Beeinträchtigungen bei überaus menschlichen Tätigkeiten (Miktion/Sexualität) führen. Gibt es keine Daten oder werden diese bewußt zurückgehalten ?

Auch fällt auf, dass Kommentatoren, dem Namen zufolge mit muslimischem Hintergrund, offensichtlich pro Beschneidungsritus geneigt sind,  den Vorgang als "kleinen Schnitt" bezeichnen,  den Ritus mit 4000jährigem Gewohnheitsrecht umschreiben und keine (!) persönliche Erfahrung zur Beschneidung beisteuern. Najem Wali in der taz ist die Ausnahme.

Was steckt also wirklich dahinter ?

 

 

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egal welcher Name schrieb:
Was steckt also wirklich dahinter ?
Der Versuch, in einem rational bestimmten Rechtssystem eine nicht rational (z.B. medizinisch) begründbare und nach den Maßstäben des rationalen Systems inakzeptable Praxis (Genitalverstümmelung nicht einwilligungsfähiger Minderjähriger) mit rationalen Argumenten zu rechtfertigen. Alternativ der Versuch, Rechte außerhalb des Systems zu proklamieren und dabei zu ignorieren, dass das Hauptargument - Religion - beim Großteil der Beschneidungen nur mehr eine untergeordnete oder gar keine Rolle mehr spielt.

Die Daten gibt es selbstverständlich, sie sind in der wissenschaftlichen Literatur verfügbar und sie werden von den öffentlichen Fürsprechern natürlich verschwiegen.

Mein Name schrieb:

Die Daten gibt es selbstverständlich, sie sind in der wissenschaftlichen Literatur verfügbar und sie werden von den öffentlichen Fürsprechern natürlich verschwiegen.

Wenn man die Daten von Bollinger (2010) zu Rate zieht, besteht eine Letalität von 9:100.000. Wäre dies ein Risikowert, bei dem der Gesetzgeber bei einer Gesetzesänderung zur geforderten religiösen Beschneidung, dies als zu hoch, sprich nicht im Sinne der Unverletzlichkeit der Person, und damit im Sinne des GG nicht zustimmen dürfte ?   Ein Impfrisiko besteht ja auch, könnten die Befürworter argumentieren. Wo liegt der rechtliche Unterschied ? MfG

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egal welcher Name schrieb:
Wenn man die Daten von Bollinger (2010) zu Rate zieht, besteht eine Letalität von 9:100.000.
Die Sterblichkeit ist nicht der einzige Maßstab für Komplikationen. Dazu gehören auch Infektionen bis zur Sepsis mit anschließend notwendiger Penisamputation. Neben der reinen Komplikationsrate (vergleichbar mit dem Risiko für einen Unfall in einem AKW) muss auch die mögliche Schwere der Komplikation betrachtet werden (analog zu den Folgekosten eines GAU).

Quote:
Ein Impfrisiko besteht ja auch, könnten die Befürworter argumentieren. Wo liegt der rechtliche Unterschied?
Der Unterschied besteht im Nutzen für a) den Geimpften, dem schwerwiegende Infektionen erspart werden und b) die Gesellschaft, in der er lebt (weil er andere nicht anstecken kann). Diese Risiko-Nutzen-Abwägung (eventueller Impfschaden vs. Nutzen und bewiesene Wirksamkeit der Impfung) geht nach allgemeiner Auffassung so deutlich für das Kind aus, dass die Entscheidung für bzw. über eine Impfung im Wohle des Kindes liegt und daher im Rahmen des Sorgerechts von den Eltern stellvertretend getroffen werden kann.

Eine mMn sehr substantiierte medizinethische Abhandlung zu diesem Thema (Abwägung öffentlicher Gesundheit vs. Menschenrechte bei vorbeugenden Eingriffen an Kindern) haben Hodges et al. im J Med Ethics 2002;28:10–16 verfasst. Anhand von strengen Kriterien (konkrete und schwere Gefahr für die öffentliche Gesundheit, Wirksamkeit des Eingriffs erheblich und nachweisbar, möglichst geringe Invasivität beim Betroffenen, eindeutiger Nutzen für den Betroffenen unabhängig von Spekulationen über seine spätere Lebensführung) werden einige Eingriffe analysiert:

- vorbeugende Brustentfernung bei weiblichen Hochrisikopatienten

- Schutzimpfungen

- chirurgisches Ohrenanlegen aus kosmetischen Gründen

- Zirkumzision bei Neugeborenen

Medizinethisch ist die Neugeborenenzirkumzision anhand der o.g. Kriterien nicht vertretbar: Gesundheitsgefahr einer intakten Vorhaut minimal, Wirksamkeit des Eingriffs kaum nachweisbar, maximale Invasivität (andere, ebenso wirksame Maßnahmen sind ohne Verstümmelung möglich), Nutzen für den Betroffenen nicht nachweisbar.

Den Gesetzgeber interessiert eine medizinische Rechtfertigung oder Abwägung jedoch überhaupt nicht. Nach allen veröffentlichten Äußerungen geht es darum, auf gesetzlicher Grundlage die bisherige Praxis straffrei zu stellen, die bisherigen Komplikationen und Schäden werden dabei billigend in Kauf genommen. Wenn es dem Gesetzgeber gefällt, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit geringer zu schätzen als das der ungestörten Religionsausübung und dabei Art. 2 (1) GG (sowie Art. 136 (4) WRV) ignoriert, dann bleibt nur die Überprüfung durch den Bundespräsidenten oder per Normenkontrolle. Ob eines der dazu berechtigten Organe tatsächlich das BVerfG anruft, ist angesichts des Bemühens, im Ausland nicht als antisemitisch oder antiislamisch zu erscheinen, äußerst fraglich.

Es könnte höchstens bei einem gleich gelagerten Fall wie dem nun entschiedenen die neue gesetzliche Regelung vom verhandelnden Gericht dem BVerG zur Prüfung vorgelegt werden, wenn es von der Verfassungswidrigkeit der neuen Regelung überzeugt ist.

 

Sehr geehrter Herr Wein,

Ihre Überlegungen sind nicht fernliegend. Der von Ihnen vorgestellte Fall (11jähriger Junge "flieht" vor der Beschneidung und soll dann mit körperlichem Zwang dazu gebracht werden, der religiös erzieherischen Emntscheidung seiner Eltern zu gehorchen und sich beschneiden zu lassen) offenbart einen Widerspruch, der entsteht, wenn man die Beschneidung für legitim hält und zugleich an dem Gebot gewaltfreier Erziehung festhält. Ein 11jähriger Junge darf nicht mit körperlicher Gewalt zur Beschneidung verbracht werden (Recht auf gewaltfreie Erziehung). Auch religiöse Erziehung ist an § 1631 Abs. 2 BGB gebunden, auch sie muss "gewaltfrei" verlaufen.

Eine ausdrückliche gesetzliche Beschneidungserlaubnis müsste deshalb auch genau regeln, wann eine solche Beschneidung rechtmäßig ist - der von Ihnen gebildete Fall gehört m. E. nicht dazu. Auch noch nicht religionsmündige Kinder können, sobald sie eine entsprechend "natürliche" Widerspruchsfähigkeit haben, einem irreversiblen körperlichen Eingriff widersprechen. Ihren Widerspruch mit gerichtlicher oder polizeilicher Hilfe zu überwinden bedeutete m. E. einen glatten Verstoß gegen Art. 1 GG.

Die Befürworter einer Religionsfreiheit, die auch körperliche Eingriffe gegen Kinder erlaubt, werden aber argumentieren, dass § 1631 Abs. 2 BGB ausdrücklich nur "körperliche Strafen" verbietet und die religiöse Beschneidung selbst weder Strafe noch "Gewalt" sei.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Henning Ernst Müller schrieb:
Die Befürworter einer Religionsfreiheit, die auch körperliche Eingriffe gegen Kinder erlaubt, werden aber argumentieren, dass § 1631 Abs. 2 BGB ausdrücklich nur "körperliche Strafen" verbietet und die religiöse Beschneidung selbst weder Strafe noch "Gewalt" sei.
Mit dieser Argumentation lässt sich jedoch auch weibliche Genitalverstümmelung aus religiös-traditionellen Gründen rechtfertigen (entsprechende Fatwas lassen sich genügend finden). Diese ist aber bereits vom BGH in jeder Form für unzulässig erklärt worden.

Auch die Argumentation, dass § 1631 (2) BGB nur körperliche Strafen, aber nicht "sonstige" Gewalt verbiete, greift angesichts der Entwicklung des § 1631 (2) nicht. Körperliche Misshandlungen waren auch schon unzulässig (Fassung von 1998), bevor das Recht auf gewaltfreie Erziehung als eigenständiges Recht in den Paragraphen aufgenommen wurde (http://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_zur_%C3%84chtung_von_Gewalt_in_der_E...), u.a. um die UN-Kinderrechtskonvention umzusetzen.

Die freundliche und faire Auseinandersetzung von Herrn Prof. Müller mit meiner Urteilsanmerkung unter http://blog.delegibus.com/2323 möchte ich nicht unerwidert lassen:

Zu den Bedenken, daß in meinem Beitrag Art. 2 Abs. 2 GG nicht vorkomme: Wie könnte man diesen Aspekt unterschlagen, da der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes ebenso wie die Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale des § 223 StGB doch überhaupt der Ausgangspunkt des diskutierten Problems sind? Wer aber der der Meinung ist, daß die Rücksichtnahme auf religiöse Belange in der Entscheidung zu kurz kommt, wird sich darauf beschränken können, auf gerade diese Aspekte näher hinzuweisen. Die Aufgabe, die Wichtigkeit des Schutzes der körperlichen Integrität hervorzuheben, hat dem Kommentator ja das LG Köln abgenommen. Im Bild der Waage gesprochen: Das Hinzufügen von Gewicht in die eine Schale bedeutet nicht, daß die bereits gefüllte andere Schale nicht ernst genommen wird. Davon abgesehen habe ich sehr wohl die Aspekte, um die es geht, angesprochen - wörtlich: "... bei der Abwägung der körperlichen Unversehrtheit eines Kindes einerseits und der Religionsausübung und des Erziehungsrechts der Eltern andererseits ...". Ich glaube, für einen Blogbeitrag gilt das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nicht. :)

Im übrigen habe ich selbst letztlich gerade keine Abwägung vorgenommen. Meine Argumentation geht dahin, daß auch das LG Köln keine Abwägung zu treffen hatte (und wenn es doch eine trifft, sollte es nicht gerade eine fehlerbehaftete sein), sondern daß diese Abwägung dem Gesetzgeber zukommt. Ich verstehe, daß diese Sichtweise nicht jeden überzeugt. Denn es scheint ja so klar: Die Strafnorm (der Körperverletzungstatbestand) ist ja da und sie "paßt". Aber Strafbarkeit wird daraus nur, wenn man annimmt, daß eine Verschiebung von gesellschaftlichen Anschauungen seit dem Erlaß der Strafnorm strafbarkeitsbegründend wirken kann. Ich bin der Meinung, daß es einen "Besitzstand" von Straffreiheit gibt, gegründet auf einem durchgehenden früheren gesellschaftlichen Konsens (sei es nun als Gewohnheitsrecht oder über den Topos "Sozialadäquanz"), und daß dieser Besitzstand rechtsstaatlich notwendig die Reichweite der Strafnorm mitbestimmt.

Damit zu einem weiteren Punkt: Ich habe die Notwendigkeit einer gesetzlichen Normierung der Strafbarkeit der Beschneidung nicht nur an Art. 103 Abs. 2 GG festgemacht, sondern dieses gewissermaßen formelle Element materiell unterfüttert mit der sogenannten Wesentlichkeitstheorie des BVerfG. Herr Müller hat dazu einen gewichtigen Einwand erhoben: Wenn es um "die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und den Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten" geht, dann müßte ja wohl eher die Erlaubnis ausdrücklich normiert sein als das Verbot. Ich habe mir diese Frage auch gestellt, sie aber im Text nicht diskutiert, denn ein Blogbeitrag ist ein Blogbeitrag und keine Monographie. Warum ich diese Position nicht teile, ergibt sich schon aus meinem Ausgangspunkt, daß die "frühere Rechtslage" die der Straflosigkeit der Beschneidung war - der, der sie ändern will, muß gesetzgeberisch aktiv werden. Nicht umgekehrt muß der Gesetzgeber einem "automatischen" Rutschen von Verhaltensweisen in die Strafbarkeit über die Generalklausel "soziale Anschauungen" entgegentreten. Ich halte es nicht für aufrichtig, zu sagen "Es war immer schon strafbar, nur jetzt setzt sich die Erkenntnis durch."

Hier auch eine Erwiderung an "Mein Name": Er oder sie ist der Meinung, daß durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2002 die Strafbarkeit der Beschneidung begründet worden sei. In diesem Jahr sei § 1631 BGB geändert worden und das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung eingeführt worden. Ich möchte mich mit diesem Argument näher befassen, weil ich denke, dieser Ansatz stützt meine Argumentation. Zunächst: Es gab im Jahre 2002 keine diesbezügliche Gesetzesänderung (siehe Synopse zur Entwicklung des § 1631 BGB vom 1. Januar 1900 bis heute). "Mein Name" meint die Änderung aufgrund des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2. November 2000 (BGBl. I S. 1479).

§ 1631 Abs. 2 BGB in seinen verschiedenen historischen Fassungen befaßt sich unter anderem mit der Frage, ob und inwieweit eine "körperliche Züchtigung" von Kindern durch ihre Eltern zulässig ist. Heute erscheint uns schon diese Bezeichnung als abstoßend, aber bis es zum heute endgültigen Verbot kam, war es eine schwere Geburt. In der amtlichen Begründung der letzten Gesetzesänderung (BT-Drs. 14/1247) kann man nachlesen, wie groß die Diskussionen bei jedem einzelnen Schritt der Rücknahme des früher als Gewohnheitsrechtsrecht ganz selbstverständlich anerkannten Züchtigungsrechts war. Das Parlament hat das gemacht, wofür es da ist: Diskutieren und abwägen. Die Stimmen, die die körperliche Unversehrtheit des Kindes verabsolutierten, konnten sich zunächst nicht durchsetzen. In einem ersten Schritt wurden nur "entwürdigende Erziehungsmaßnahmen" verboten. In einem zweiten wurden diese durch "insbesondere körperliche und seelische Mißhandlungen" konkretisiert, wobei ausdrücklich nach dem Willen des Rechtsausschusses einfache Schläge nicht verboten werden sollten. Erst mit der letzten Änderungen wurde, so auch der Gesetzestitel, die Gewalt in der Erziehung insgesamt geächtet. Deshalb konnte der BGH im Jahr 1986 noch urteilen (NStZ 1987, 173): "Eltern haben bei der Erziehung ihrer Kinder nach der Auffassung von Rechtsprechung und Schrifttum eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung. [...] Daß die Verwendung eines Schlaggegenstandes, hier eines stockähnlichen Gegenstandes, der Züchtigung schon für sich genommen den Stempel einer entwürdigenden Behandlung Christines aufdrückte, ist aber aus diesen Grundsätzen nicht herzuleiten."

Die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Anschauungen hat auch in diesem Bereich nicht aus sich selbst heraus eine Einführung der Strafbarkeit bewirkt, sondern es war der Gesetzgeber gefordert, das Gesetz zu ändern - und auch dies ist, im Jahre 1998, nicht ohne Diskussionen und Enttäuschungen geschehen.

Nun sagt also "Mein Name", daß die jetzige Fassung von § 1631 Abs. 2 BGB die Strafbarkeit von Beschneidungen aus religiösen Gründen eingeführt habe. Ich finde in der amtlichen Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung nichts dazu. Auch das Plenarprotokoll und die übrigen Parlamentsdrucksachen geben etwas dafür her, daß der Gesetzgeber auch nur annähernd bei "Gewalt gegen Kinder" an eine ärztlich durchgeführte Beschneidung gedacht hat. Er hat auch sicher nicht an irgendeine andere Art von ärztlichem Eingriff gedacht, der ja ebenso eine tatbestandsmäßige Körperverletzung (Gewalt im Sinne von "Mein Name") ist und bei einer unzureichenden ärztlichen Aufklärung strafbar sein kann.

Ich halte es für an der Grenze der Polemik - mit einem Schuß petitio principii -, Beschneidungen (und sonstige kinderärztliche chirurgische Eingriffe) als "Gewalt" zu bezeichnen. Dies ist meines Erachtens nur schlechte Rhetorik und führt von den eigentlichen Wertungsfragen fort. Wenn man sich überhaupt auf diese Wortspielereien (die mich übrigens auch an § 240 StGB erinnern) einläßt, dann muß man aber aus der oben genannten Gesetzesbegründung zur aktuellen Fassung von § 1631 Abs. 2 BGB zitieren:

"Der in Satz 1 verwendete Begriff der gewaltfreien Erziehung knüpft nicht an einen strafrechtlichen Gewaltbegriff an, sondern wird durch Satz 2 konkretisiert."

Und zur Frage, inwieweit diese Gesetzesänderung überhaupt Auswirkungen auf die Strafbarkeit haben soll:

"Der früher gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgrund des elterlichen Züchtigungsrechts ist durch die in der vergangenen Legislaturperiode vorgenommene Änderung des § 1631 Abs. 2 BGB entfallen, so daß die Strafbarkeit elterlicher Gewaltausübung durch die vorgeschlagene Änderung nicht ausgeweitet wird, sondern unverändert besteht."

Zurück zur Frage, ob eine gesetzgeberische Entscheidung in die Richtung erforderlich ist, daß die Beschneidung verboten oder erlaubt ist: Welcher Standpunkt verfassungsrechtlich richtig ist, hat nunmehr eher akademischen Charakter, da eine Gerichtsentscheidung vorliegt, die die Strafbarkeit bejaht und die in höheren Instanzen nicht überprüft werden kann. Der Gesetzgeber ist also, sofern in die andere Richtung tendiert, in Zugzwang und muß gegebenenfalls eine Erlaubnisnorm erlassen, selbst wenn sie rechtlich nicht erforderlich wäre. Daß diese Tendenz besteht, danach sieht es jetzt aus. Ich halte es für wahrscheinlich, daß der Bundestag demnächst das Gesetz über religiöse Kindeserziehung oder das BGB so ändert, daß die Beschneidung gesetzlich anerkannt ist. Womit er sich allerdings - einmal mehr - gegen eine klare andere Tendenz in der Bevölkerung stellt. Übrigens bin ich selbst nicht religiös.

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Sehr geehrter Herr García,

vielen Dank für Ihren Beitrag.

Oliver García schrieb:
Ich halte es für an der Grenze der Polemik - mit einem Schuß petitio principii -, Beschneidungen (und sonstige kinderärztliche chirurgische Eingriffe) als "Gewalt" zu bezeichnen.
Ich habe mich dabei an Ihrer die Islamophobie streifende Überleitung und dem Nazi-Vergleich zum Urteil des LG Köln orientiert, die mindestens genauso nahe an der Polemik sind, wenn nicht schon auf der anderen Seite der Grenze.

Zu Ihrem Nazi-Vergleich lohnt übrigens ein Blick in ein beliebiges Geschichtsbuch: erstens wäre es den Nazis sicher nicht im Traum eingefallen, gläubigen Juden ein sicheres Erkennungszeichen zu nehmen und zweitens war es ihnen gleichgültig, was Juden sich gegenseitig antun, denn angesichts dessen, was sie Juden insgesamt antun wollten, war das völlig irrelevant. Ihr Vergleich hat also nicht einmal faktische Substanz.

Zur Sache:

Oliver García schrieb:
Ich halte es für wahrscheinlich, daß der Bundestag demnächst das Gesetz über religiöse Kindeserziehung oder das BGB so ändert, daß die Beschneidung gesetzlich anerkannt ist.
Wie kommt es denn eigentlich, dass weibliche Genitalverstümmelung anerkanntermaßen strafbewehrt ist, selbst wenn sie auf religiösen Motiven beruht, und zwar erst seit etwa fünfzehn Jahren - wenn doch Ihrer Ansicht nach Richterrecht keine neuen Rechtsnormen setzen kann? Welche neue Rechtsnorm wurde denn Ihrer Meinung nach eingeführt, die weibliche Genitalverstümmelung unter Strafe stellt, männliche aber nicht?

Wie kommt es, dass der BGH erkennt, die Mädchenbeschneidung sei eine "eine grausame, folgenschwere und durch nichts zu rechtfertigende Misshandlung" (XII ZB 166/03), auch wenn der Eingriff lege artis geschieht und in einem Umfang, der nicht über den einer Labioplastik hinausgeht? Auch dann, wenn er aus religiös-traditionellen Motiven geschieht (vergleichbar mit der muslimischen Knabenbeschneidung) und ohne eine vorherige Gesetzesänderung?

Oder ist es tatsächlich so, dass die Knabenbeschneider einfach länger im seligen "Wo kein Kläger, da kein Richter"-Land gelebt haben als die Mädchenbeschneider?

 

Enttäuscht von den Behörden schrieb:
Ist österreichisches Recht so anders  ?
§ 90 des österreichischen StGB:

Einwilligung des Verletzten 

(1) Eine Körperverletzung oder Gefährdung der körperlichen Sicherheit ist nicht rechtswidrig, wenn der Verletzte oder Gefährdete in sie einwilligt und die Verletzung oder Gefährdung als solche nicht gegen die guten Sitten verstößt. 

(2) Die von einem Arzt an einer Person mit deren Einwilligung vorgenommene Sterilisation ist nicht rechtswidrig, wenn entweder die Person bereits das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat oder der Eingriff aus anderen Gründen nicht gegen die guten Sitten verstößt.

(3) In eine Verstümmelung oder sonstige Verletzung der Genitalien, die geeignet ist, eine nachhaltige Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens herbeizuführen, kann nicht eingewilligt werden.

Ich vermute, dass Abs. 3 die Genitalverstümmelung auch bei volljährigen Frauen unter Strafe stellen soll. Angesichts der Empfindsamkeit der Vorhaut fällt jedoch eindeutig auch die Zirkumzision unter die Kriterien dieser Bestimmung.

Ob Beschneidung in der Sowjetunion verboten war, ist mir nicht bekannt - nach meiner Kenntnis waren damals dort Beschneidungen nicht üblich, um Diskriminierung zu vermeiden. Ganz sicher ist die Sowjetunion kein Vorbild, aber ein Indiz dafür, dass jüdisches Leben eben auch ohne Beschneidung möglich war und ist.

Im folgenden Artikel wird behauptet, dass es Zeiten für die Juden gab, wo sie ihre Söhne nicht beschneiden haben lassen.

 

"Die Juden geben zu, dass sie zweihundertfünf Jahre in Ägypten ansässig waren, sie sagen, dass sie sich in diesem Zeitraum nicht beschneiden ließen; es ist folglich klar, dass die Ägypter während dieser zweihundertfünf Jahre die Beschneidung nicht von den Juden erhalten haben."

 

http://www.correspondance-voltaire.de/html/phil-beschneidung.htm

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Warum die Kölner Richter Recht haben 

 

Von Eric HilgendorfProfessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Würzburg        

Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Würzburg 

 

http://hpd.de/node/13709 

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Sehr geehrter Herr Garcia,

vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort auf meine Kritik. 

Ich verstehe Ihre Einwände nicht als materiell-inhaltliche Ausführungen zur Frage der Abwägung von Grundrechten (Art. 4, Art. 6 GG) bzw. zur staatlichen Schutzpflicht (Art. 2 Abs.2, Art. 1 GG), sondern als "prozedurales" Monitum zu der folgenden Fragestellung: Wie verhalten sich gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung (und darum handelt es sich letztlich), Bestimmtheitsgebot und Rückwirkungsverbot zueinander? Sie schreiben:

Warum ich diese Position nicht teile, ergibt sich schon aus meinem Ausgangspunkt, daß die "frühere Rechtslage" die der Straflosigkeit der Beschneidung war - der, der sie ändern will, muß gesetzgeberisch aktiv werden.

Ein Verhalten, das jahrzehntelang (ich nehme einmal 1949 zum Ausgangspunkt)  als rechtmäßig praktiziert und akzeptiert wurde, darf nach Ihrer Auffassung nicht durch eine bloße neue Auslegung bestehender Straftatbestände und Erlaubnistatbestände zur rechtswidrigen strafbaren Handlung werden.

Dies wirft die Frage auf, ob und wie eine gegebene gewohnheitsrechtlich begründete  Rechtfertigung  außer Kraft gesetzt werden kann. Sie meinen, dies könne nicht durch die Rechtsprechung geschehen oder durch gesellschaftlich neue Auffassungen, die sich in einzelnen gerichtlichen Urteilen manifestieren, sondern dies bedürfe des Eingriffs durch den Gesetzgeber. Theoretisch aber müsste Gewohnheitsrecht auf dieselbe Weise "schwinden" können wie es in die Welt gekommen ist. Gerade die Diskussion, wie wir sie hier führen, führt zur Überprüfung, ob etwas noch Gewohnheitsrecht darstellt oder nicht. Und die Zweifel wachsen derzeit (diese faktischen Zweifel "regieren" das Gewohnheitsrecht jenseits der rechtlichen Regelung ebenso wie der unvermeidbare Verbotsirrtum durch faktische Zweifel regiert wird). 

Der nullum crimen Satz und Art. 103 Abs. 2 GG gelten nicht für Rechtfertigungsgründe, sondern nur für den Tatbestand. An einer tatbestandsmäßigen Körperverletzung besteht aber wohl kaum ein Zweifel (sonst wäre es ja auch kein "Opfer", das den Bund mit Gott besiegelt etc.).

Allerdings, und da stimme ich Ihnen zu, sollte der Gesetzgeber die Angelegenheit - möglichst nach einer gewissen Diskussionszeit - dennoch klarstellen. Ob dies aber im Strafrecht geschehen soll (oder gar muss), wage ich mit Ihnen zu bezweifeln. Gerade in den §§ 223 ff. StGB fehlen detaillierte Anweisungen zu Ausnahmen und Gegenausnahmen: Was genau den Heileingriff ggf. zur rechtswidrigen Körperverletzung macht, steht nicht dort, sondern ergibt sich aus anderen Vorschriften (zum Beispiel zur Patientenaufklärung).

Was die gewohnheitsrechtliche Erlaubnis der gewaltsamen Erziehung (Züchtigungsrecht) angeht, haben wir insofern ein Modellvorbild. Die Gewohnheit ging zurück und auch die Überzeugung, dass Prügel erzieherisch richtig ist. Und dann agierte der Gesetzgeber mit § 1631 BGB, womit auch für § 223 StGB die Sache klargestellt wurde.

Zur Beschneidung bietet sich eine ebensolche Regelung (im Umfeld des § 1631 BGB) an, die klarstellt, dass und inwieweit eine gewohnheitsrechtliche Legitmation (noch) besteht oder nicht. Ich denke, da sind wir nicht weit entfernt voneinander. Vielleicht können Sie auch zustimmen, dass - als Auslöser der Debatte - dann auch das Urteil des LG Köln durchaus Meriten hat.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Die Leserbriefschreiber des Tagesspiegel sind (genauso wie die Online-Abstimmer) sicher nicht repräsentativ, aber die Einmütigkeit der Ablehnung erstaunt mich doch (ich unterstelle der Redaktion mal nicht, dass sie eine abdruckfähige Rechtfertigung der Knabenbeschneidung unter den Tisch hat fallen lassen).

http://www.tagesspiegel.de/meinung/nicht-vom-himmel-gefallen/6851472.html

Dass religiöse Gründe von den lautsprechenden Interessenvertretern zum Teil nur vorgeschoben werden für ein Familienfest, bei dem weniger die Religion denn die Tradition und die soziale Angepasstheit dominiert, bestätigt auch die Islamwissenschaftlerin Paula Schrode im Gespräch mit dem Deutschlandradio Kultur:

... sehr viele führen solche Rituale ja wirklich in erster Linie als Fortführung auch der Familientradition und so weiter fort. Also da muss jetzt nicht unbedingt immer dieser Umma-Gedanke [Gemeinschaft der Muslime] im Zentrum stehen.... es ist auch das, was man aus der Heimat mitgebracht hat, was man eben so macht.

Von ihr kommen auch folgende bemerkenswerten Sätze:

... ich finde den Ansatz trotzdem falsch, also die Prinzipien der Rechtssprechung können natürlich nicht durch irgendwelche religiösen Auslegungen ergänzt werden. ... Sprecher der jeweiligen Religionsgemeinschaften können auch nicht von juristischer Seite dann die Deutungshoheit darüber zugewiesen bekommen, was für einzelne Praktizierende ganz individuell wichtig zu sein hat oder eben nicht.

... was ich mir durchaus vorstellen kann, ist auf jeden Fall Wandel. Und den wird es ziemlich sicher geben, den gibt es auch, also unabhängig davon, ob das Urteil jetzt Gültigkeit behält. Denn allein die Debatte wird schon ihre Auswirkungen haben.

Ich denke aber, dass es auch Stellungnahmen von islamischen Rechtsgelehrten geben wird, die es als zulässig betrachten, die Beschneidung aufzuschieben bis zur Mündigkeit, bis zu einem bestimmten Alter. Auf jeden Fall wird ein Bedarf an pragmatischen Fatwas, also pragmatischen Rechtsgutachten entstehen. Und es wird Eltern geben, die solche Auslegungen auch gerne aufnehmen, weil sie vielleicht auch selbst einen Konflikt sehen.

Und schließlich gibt es natürlich religionsferne Eltern, die eine Beschneidung ohnehin höchstens aus Traditionsgründen erwägen und dann im Zuge solcher Debatten auch dahin gelangen, von dem Vorhaben abzurücken, weil sie eben eigentlich selbst keine Notwendigkeit sehen.

... es ist auf jeden Fall denkbar, dass die Religionsgemeinschaften das Thema vielleicht in 50 Jahren ganz anders diskutieren als heute. Also, wir erleben immer wieder, dass sich im Zuge eines allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstseinswandels auch die Auffassung von religiösem Recht oder von bestimmten Ritualen wandelt.

Sie ist auch eine der wenigen, die den zentralen Punkt, nämlich die Güterabwägung aufgreift:

... ich denke, dass hier in jedem Fall einfach, genau, eine andere Herangehensweise an das Individuum zu beobachten ist. Also gerade was den Konfliktinteressen eines Kollektivs, Interessen einer Tradition und Interessen eines Individuums betrifft, also, das ist ein echter Konflikt. Und bislang haben sich auch erst wenige religiös argumentierende Stimmen darauf eingelassen, diesen Konflikt auch wirklich einfach mal als einen solchen anzuerkennen und nicht nur als eine Laune eines vermeintlich religionsfeindlichen Richters abzutun.

 

Mein Name schrieb:

... sehr viele führen solche Rituale ja wirklich in erster Linie als Fortführung auch der Familientradition und so weiter fort.

Hochinteressant, da es wohl Paralellen zur jüdischen Religion gibt. "Hauptsächlich soziale Ängste bewegen viele Eltern dazu, ihre Söhne beschneiden zu lassen."

Die Art der Beschneidung unterliegt anscheinend auch einem gesellschaftlichen Wandel:  "Die heutige Beschneidung unterscheidet sich ohnehin vom „Brith“, wie ihn Abraham an sich selbst vornahm. Der Stammesvater trennte einen kleinen Teil seiner Vorhaut ab. Nachdem zur Zeit des Zweiten Tempels Juden daraufhin begannen, die verbleibende Vorhaut wieder zu verlängern, wiesen die Rabbiner an, alles zu entfernen."

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/religioeser-ritus-ein-einschneiden...

 

 

 

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@Prof. Dr. Henning Ernst Müller:

Ich verstehe Ihre Einwände nicht als materiell-inhaltliche Ausführungen zur Frage der Abwägung von Grundrechten (Art. 4, Art. 6 GG) bzw. zur staatlichen Schutzpflicht (Art. 2 Abs.2, Art. 1 GG), sondern als "prozedurales" Monitum

So ist es. Der Gesetzgeber soll entscheiden. Darauf kommt es mir an, nicht so sehr auf das Ergebnis. Ich mache keinen Hehl aus meiner Tendenz, die - nicht nur de lege lata sondern auch de lege ferenda - auf Straflosigkeit hinausgeht. Aber wenn der Gesetzgeber sich für die Strafbarkeit entscheidet, so ist dies zu akzeptieren. Anders übrigens manche Stimmen aus dem Lager der Gegenmeinung (auch in dieser Diskussionspalte), die eine ausdrückliche gesetzliche Erlaubnis als schreiendes Unrecht und als verfassungswidrig ansehen.

Theoretisch aber müsste Gewohnheitsrecht auf dieselbe Weise "schwinden" können wie es in die Welt gekommen ist. Gerade die Diskussion, wie wir sie hier führen, führt zur Überprüfung, ob etwas noch Gewohnheitsrecht darstellt oder nicht.

Richtig, deshalb berufe ich mich - unter der Annahme, daß ein Gewohnheitsrecht (oder gleichwertiges Moment) nicht mehr feststellbar ist - eben nicht auf "Recht", sondern auf "Besitzstand". Nicht in dem Sinne, daß für alle Zeit nicht an der Straffreiheit gerüttelt werden dürfte, aber in dem Sinne, daß ein (selbst einhellig bejahtes) Repressionsbedürfnis nur zur Feststellung einer zu schließenden "Strafbarkeitslücke" führt.

Was die gewohnheitsrechtliche Erlaubnis der gewaltsamen Erziehung (Züchtigungsrecht) angeht, haben wir insofern ein Modellvorbild.

Das meine ich auch. Sie hatten in Ihrer ursprünglichen Argumentation angesprochen, daß es zur Strafbarkeit der Ausübung einer elterlichen Züchtigung allein aufgrund geänderter Anschauungen, ohne Gesetzesänderung, gekommen sei. Deshalb habe ich etwas zu den sukzessiven, nie ohne parlamentarischen Widerstand gebliebenen Gesetzesänderungen gerade in dieser Frage geschrieben. Ich denke, schon dieser kurze Abriß zeigte, daß es im Modellfall gerade nicht so war, daß die Strafbarkeit hier "außerparlamentarisch" eingeführt wurde.

Was übrigens die wirklich heikle Frage betrifft, ob denn der Gesetzgeber ausdrücklich etwas erlauben muß oder ausdrücklich etwas verbieten muß, um den Eltern Schranken aufzuerlegen, wäre es vielleicht lohnend, sich § 1631c BGB anzuschauen und das, was vor Einführung dieser Bestimmung als Rechtslage angesehen wurde (ich weiß es nicht).

Aber noch ein Zitat aus einer Entscheidung des OLG Brandenburg vom 17.02.2000 (10 UF 45/99):

Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft, Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG . Das Elternrecht des Grundgesetzes gewährt den Eltern ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe und lässt Maßnahmen des Staates nur im Rahmen seines "Wächteramtes" zu (BVerfGE 24, 119 , 138; 56, 363, 382). Das "Wächteramt" können nur die durch Gesetz hierzu berufenen staatlichen Organe wahrnehmen (Maunz/Dürig, GG , Art. 6 Rdn. 26 b). Auch die Feststellung, dass ein allein eine staatliche Intervention rechtfertigender konkreter Elternmissbrauch oder ein Versagen vorliegt, muss im Hinblick auf die Wesentlichkeit der Materie auf gesetzlicher Grundlage erfolgen (Sachs/Schmitt-Kammler, GG , 2. Aufl., Art. 6 Rdn. 68). Solche Bestimmungen, die ein Eingreifen des Staates näher regeln, hat der Gesetzgeber etwa mit den §§ 1666 , 1667 BGB erlassen (vgl. Sachs/Schmitt-Kammler, aaO., Fn. 244; I. von Münch/Kunig/E.M. von Münch, GG , 4. Aufl., Art. 6 Rdn. 40). Auch die Vorschrift des § 1631 b BGB , wonach die mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung des Kindes nur mit familiengerichtlicher Genehmigung zulässig ist, und die Vorschrift des § 1631 c BGB , die es den Eltern untersagt, in eine Sterilisation des Kindes einzuwilligen, stellen derartige gesetzliche Eingriffe dar. Soweit es an einer konkreten gesetzlichen Grundlage für die Ausübung des staatlichen "Wächteramtes" fehlt, bleibt die Sorge für das leibliche Wohl des Minderjährigen in der Verantwortung der Eltern.

Dies zumindest als "Schnappschuß" einer Haltung, die sicherlich die ganze Zeit über im Fluß ist. Wohlgemerkt meine ich die Tendenz aus diesem Zitat. Diejenigen, die eine strafwürdige Körperverletzung in der Beschneidung sehen, werden ohne weiteres sagen können, daß es immer anerkannt war, daß das "Wächteramt" die Verhinderung von Straftaten zulasten von Kindern einschließt. So kommen wir aus dem Zirkel nicht raus.

Vielleicht können Sie auch zustimmen, dass - als Auslöser der Debatte - dann auch das Urteil des LG Köln durchaus Meriten hat.

Der Gesichtspunkt versöhnt mich nicht mit dem LG Köln :) - aus zwei Gründen: Zum einen ist die Entscheidung, gemessen an der Bedeutung der Angelegenheit (die dem Gericht ja erklärtermaßen bewußt war) einfach handwerklich zu schlecht. Die Art der Auseinandersetzung ist von einer solchen Begründungslustlosigkeit geprägt, daß man an eine durchschnittliche Ausarbeitung aus einer Kleinen Übung im StGB erinnert ist. Wenn schon, dann hätte sich der Richter nicht nur inhaltlich, sondern auch am Niveau der wissenschaftlichen Vorarbeiten, auf die er sich stützt, orientieren sollen.

Zum anderen finde ich am ganzen Verfahren etwas bedenklich, das über diesen Fall hinausgreift: Daß der Arzt im vorliegenden Fall jedenfalls aufgrund Verbotsirrtums straffrei bleibt, mußte auch der Staatsanwaltschaft von vornherein klar sein. Und sicherlich war es ihr das auch. Dafür spricht, daß sie nicht gegen den Freispruch in Revision gegangen ist. Demnach ist die Staatsanwalt in das Verfahren gegangen, um für künftige Fälle die Strafbarkeit festgestellt zu bekommen. Es handelt sich also um eine Art "Musteranklage" zur "Fortbildung des Rechts". Dieses Phänomen gibt es, wie gesagt, auch in anderen Bereichen, aktuell bei der viel diskutierten Anwendung des Untreuetatbestands (als "Mädchen für alles") für Mißstände im Wirtschaftsleben. Solche "Musteranklagen", in dem jemand vor Gericht gezerrt wird, von dem alle Beteiligten sich eigentlich im Klaren sind, daß er nicht bestraft werden kann, sind sehr fragwürdig, auch wenn sie derzeit wohl systemimmanent sind. Vielleicht sollte man sich Gedanken machen über ganz neue Wege wie einen "strafrechtlichen Feststellungsantrag" der Staatsanwalt.

@Mein Name:

Ich habe mich dabei an Ihrer die Islamophobie streifende Überleitung und dem Nazi-Vergleich zum Urteil des LG Köln orientiert, die mindestens genauso nahe an der Polemik sind, wenn nicht schon auf der anderen Seite der Grenze.

Ich weiß, daß manche Leute Nazi-Vergleiche anstellen, weil sie dies für ein probates Stilmittel halten, ihre äußerste Ablehnung von irgendeiner Verhaltensweise zum Ausdruck zu bringen. Ich halte das, wie Sie, für eine Unsitte. Doch glaube ich auch, daß man wegen dieser Unsitte nicht darauf verzichten sollte, überhaupt vom Nationalsozialismus zu sprechen und mit ihm zu argumentieren, dort wo es sachangemessen ist. Es war nicht meine Absicht, zu polemisieren ("so schlimm/schlimmer wie die Nazis"), sondern auf den Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen hinzuweisen. Die Nazis hätten von sich aus keine Möglichkeit ausgelassen, den Leidensdruck der Juden in Deutschland zu erhöhen (bis gegen Ende der 30er Jahre war die Schikane der jüdischen Bevölkerung auch im wesentlichen darauf gerichtet, sie zu zermürben und zur Auswanderung zu drängen). Was sie davon abhielt, ihnen Gottesdienst und religionsbezogene Handlungen ganz zu verbieten, war die öffentliche Meinung. Hier wären die Nazis in den Augen der christlichen Bevölkerung zu weit gegangen und man hätte es als Ausdruck des antireligiösen Zuges, der im Nationalsozialismus fest eingebaut war, angesehen. Dies hätte einen von den Nazis unerwünschten Solidarisierungseffekt gehabt.

Der Wandel des religiösen Elements in der Mehrheitsgesellschaft von damals zu heute, bis hin zur Umkehrung, war mein Thema. Nicht, daß diejenigen, die das Urteil gut finden, verkappte Nazis seien. Das wäre Blödsinn. Und auch nicht, daß man in Deutschland wegen der NS-Vergangenheit besonders zurückhaltend sein müßte im Umgang mit jüdischen Traditionen. Ein solches Sonderstellungsdenken sehe ich sehr kritisch. Im übrigen wäre seine Anwendung auf den vorliegenden Fall besonders merkwürdig: Denn es geht doch gerade nicht darum, daß Deutschland aus Rücksichtnahme gegenüber dem Judentum einen Sonderweg gegenüber einem weltweiten Konsens einschlagen müßte. Umgekehrt hat ja das LG Köln einen Sonderweg eingeschlagen und eine etwa zu fordernde Sensibilität würde wieder zurück führen in den weltweiten Konsens.

Eines noch: Schlimmer als in der gezielte Verwendung von Wörtern wie "Gewalt" und "Amputation" ist Ihre Sprachpolitik in dem Versuch, die weibliche Genitalverstümmelung und die männliche Beschneidung per Parallelwertung in eine Schublade zu stecken. Hier ist ein Niveau erreicht, auf dem jeder Dialog sinnlos ist. Es zeigt aber, daß Sie nicht in der Lage sind, zu differenzieren, weder in Ihren eigenen Anschauungen noch was Ihre Erwartung an die Gegenseite betrifft. Diese Form der Ereiferung und Überzeugungsbeseeltheit erinnert mich an diejenigen Aktivisten im Streitfall Abtreibung, die es einfach nicht begreifen können, daß die Gesellschaft nicht einsieht, daß die Praxis der Abtreibungen ein "Babycaust" sei.

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Oliver García schrieb:

Der Wandel des religiösen Elements in der Mehrheitsgesellschaft von damals zu heute, bis hin zur Umkehrung, war mein Thema. Nicht, daß diejenigen, die das Urteil gut finden, verkappte Nazis seien. Das wäre Blödsinn.

Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen. Aber der Weg vom "das Leben zur Hölle machen" bis zu "das war dem LG Köln vorbehalten" in Ihrem Beitrag ist mMn zu kurz, um als nichtpolemisch durchzugehen.

Oliver García schrieb:
Umgekehrt hat ja das LG Köln einen Sonderweg eingeschlagen und eine etwa zu fordernde Sensibilität würde wieder zurück führen in den weltweiten Konsens.
Das sehe ich differenzierter: der weltweite Konsens ist, dass nichttherapeutische Zirkumzisionen (NTC) an nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen medizinethisch verwerflich sind, sie werden von keiner Ärzteorganisation empfohlen. Aber es ist auch unausgesprochener Konsens, dass die Durchsetzung dieser Ethik gegen religiöse Traditionen ein zu heißes Eisen ist, von dem man lieber die Finger lässt.

Oliver García schrieb:
Schlimmer als in der gezielte Verwendung von Wörtern wie "Gewalt" und "Amputation" ist Ihre Sprachpolitik in dem Versuch, die weibliche Genitalverstümmelung und die männliche Beschneidung per Parallelwertung in eine Schublade zu stecken.
Ich finde es schade, dass ein medizinisch korrekter und neutraler Begriff wie Amputation Ihnen Bauchschmerzen bereitet. Ich werde ihn trotzdem weiter verwenden, gerade weil er den Sachverhalt wertfrei beschreibt - das ist auch meiner Ausbildung im Medizinbereich geschuldet. Und genau deswegen stecke ich Zirkumzision anders als von Ihnen unterstellt nicht in die gleiche Schublade wie FGM, sondern bin in der Lage, wie oben dargelegt  zu differenzieren - aber auch die physiologischen Gemeinsamkeiten von manchen (dennoch strafbaren) Formen der FGM und der NTC an Kindern zu erkennen (auch die Rechtfertigungen Betroffener sind übrigens verblüffend ähnlich).

Oliver García schrieb:

Was die gewohnheitsrechtliche Erlaubnis der gewaltsamen Erziehung (Züchtigungsrecht) angeht, haben wir insofern ein Modellvorbild.

Das meine ich auch. Sie hatten in Ihrer ursprünglichen Argumentation angesprochen, daß es zur Strafbarkeit der Ausübung einer elterlichen Züchtigung allein aufgrund geänderter Anschauungen, ohne Gesetzesänderung, gekommen sei. Deshalb habe ich etwas zu den sukzessiven, nie ohne parlamentarischen Widerstand gebliebenen Gesetzesänderungen gerade in dieser Frage geschrieben. Ich denke, schon dieser kurze Abriß zeigte, daß es im Modellfall gerade nicht so war, daß die Strafbarkeit hier "außerparlamentarisch" eingeführt wurde.

Allerdings war die Züchtigung der Kinder durch den Vater bis 1958 in § 1631 BGB ausdrücklich erlaubt. Das Gewohnheitsrecht war also nicht nur ungeschrieben, sondern stand auch im Gesetz - im Gegensatz zur Knabenbeschneidung, die bisher in keinem Gesetz ausdrücklich verboten oder erlaubt war.

So ganz vergleichbar sind die beiden "Tatbestände" also mMn nicht.

Oliver García schrieb:

 es geht doch gerade nicht darum, daß Deutschland aus Rücksichtnahme gegenüber dem Judentum einen Sonderweg gegenüber einem weltweiten Konsens einschlagen müßte. Umgekehrt hat ja das LG Köln einen Sonderweg eingeschlagen und eine etwa zu fordernde Sensibilität würde wieder zurück führen in den weltweiten Konsens.

Ob dieser hier behauptete "weltweite Konsens" tatsächlich exisitert, lässt sich sehr wohl bezweifeln.

Anlässlich eines durch eine Beschneidung gestorbenen Neugeborenen in Brooklyn (eines von dreien [!!!] in den USA im Jahr 2011, siehe http://www.cirp.org/library/death/) äußerte sich im Land mit der wahrscheinlich größten Religionsfreiheit der Bürgermeister New Yorks, Michael Bloomberg wie folgt:

“There is probably nobody in public life who fights harder for the separation of church and state than I do, but I just wanted to remind everybody: religious liberty does not simply extend to injuring others or putting children at risk.

Kommt einem irgendwie bekannt vor ...

Oliver García schrieb:
Was übrigens die wirklich heikle Frage betrifft, ob denn der Gesetzgeber ausdrücklich etwas erlauben muß oder ausdrücklich etwas verbieten muß, um den Eltern Schranken aufzuerlegen, wäre es vielleicht lohnend, sich § 1631c BGB anzuschauen und das, was vor Einführung dieser Bestimmung als Rechtslage angesehen wurde

Wie kommen Sie darauf, dass § 1631c ausgerechnet den Eltern Schranken auferlegen sollte? Es spricht doch (auch vor dem Hintergrund des Spiegel-Artikels) sehr viel mehr dafür, dass mit dieser Vorschrift der Einflussnahme der Ärzte auf uninformierte und verstörte Eltern Schranken auferlegt werden sollten, um die Rechte der Kinder zu schützen. Gerade weil die Eltern als Nichtexperten nicht in der Lage waren, ihr Kind vor dem üblichen Brauch der Sterilisation zu bewahren trotz bereits bestehender Strafbarkeit, sah sich der Gesetzgeber gefordert.

Analog dazu schützt das Urteil des LG Köln die Rechte der Kinder gegen den üblichen Brauch, wenn die Eltern dazu wegen des immensen Druck ihres Umfelds dazu nicht in der Lage sind.

 

Sehr geehrter Herr Garcia,

Sie schreiben:

Was übrigens die wirklich heikle Frage betrifft, ob denn der Gesetzgeber ausdrücklich etwas erlauben muß oder ausdrücklich etwas verbieten muß, um den Eltern Schranken aufzuerlegen, wäre es vielleicht lohnend, sich § 1631c BGB anzuschauen und das, was vor Einführung dieser Bestimmung als Rechtslage angesehen wurde (ich weiß es nicht).

Zumindest insofern kann ich die Wissenslücke (die bis eben auch bei mir bestand) etwas füllen:

Der Spiegel hat im Jahr 1984 das Thema zur Sprache gebracht, durchaus im "anklagenden Ton".  Zitat:

In fast allen dieser Fälle ist die Sterilisation rechtlich unzulässig. Es gibt kein Gesetz, das sie erlaubt. Wer sie vornimmt, so der Kieler Rechtsprofessor Eckhard Horn, "riskiert Freiheitsstrafe zwischen zwei und zehn Jahren" - wegen "beabsichtigter schwerer Körperverletzung".

Und auch damals gab es zuvor schon Artikel im Ärzteblatt, die die weithin praktizierte Sterilisation geistig Behinderter als strafbar einstuften.

Es ist jedoch m.E. in solchen Fällen allgemein kaum sicher zu bestimmen, ob das praktizierte Verhalten auch ohne die Gesetzesänderung (hier evtl. Erlaubnis der Beschneidung, dort eindeutiges Verbot in § 1631 c BGB) strafrechtswidrig wäre bzw. ob die erstellte Norm verbotskonstituierende oder nur deklarative Bedeutung hat. Deshalb bringt der Blick auf § 1631 c BGB uns in der Debatte, glaube ich, nicht weiter.

Ebenfalls nicht weiter bringt uns Ihr Vorwurf, andere würden mit der Bezeichnung der Beschneidung als Gewalt (nur) ein polemisches Sprachspiel benutzen. Natürlich wird mit der Bezeichnung als Gewalt auch das heute weitgehend bestehende Gewaltverbot bzw. -tabu in dieser Diskussion in Bezug genommen. Aber gerade, weil es eben (gerechtfertigte oder eben nicht gerechtfertigte) "Gewalt" ist, ist doch die Zirkumzision bei kleinen Jungen so umstritten. Und gerade die Verleugnung des Gewaltaspektes macht die derzeitige Diskussion so schwierig. Heute nimmt in der FAZ der Arzt und Psychoanlaytiker Matthias Franz in einem lesenswerten längeren Beitrag auf S. 7 auch dazu Stellung:

"Überzeugungen und Rituale werden gruppal also besonders dann unreflektierbar tradiert, wenn der elterliche Gewaltaspekt des betreffenden Rituals aus eigenen Abwehrbedürfnissen heraus verleugnet werden muss"

und

"Der ängstigende Gewaltaspekt unterliegt dabei einer bemerkenswerten Verleugnung durch die beteiligten Erwachsenen. Er wird rationalisiert als festlich und forciert freudig gestalteter Männlichkeitsritus."

Ich glaube, wir werden nicht auf einen Zweig kommen, wenn Sie schon bezweifeln, dass es sich um elterliche Gewaltausübung im wörtlichsten Sinne handelt und man dies auch ohne Polemik so bezeichnen kann.

Zur möglichen Entscheidung des Gesetzgebers: Dabei werden auf der einen Seite die Funktionäre der Religionsgemeinschaften stehen, denen natürlich - auch aus international/diplomatischen Gründen die Parteien ein Ohr leihen werden. Auf der anderen Seite werden sich die Abgeordneten aber auch nicht der ärztlichen Fachdebatte entziehen können, denn so harmlos ist die Zirkumzision eben doch nicht. Franz (in der FAZ von heute, s.o.) spricht von ca. 2 % postoperativem Komplikationsanteil bei Beachtung medizinischer Standards. Ein Medikament mit derart hohem Nebenwirkungsanteil würde wohl Schwierigkeiten haben mit der Zulassung.

 

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

@ Mein Name

 

"Analog dazu schützt das Urteil des LG Köln die Rechte der Kinder gegen den üblichen Brauch, wenn die Eltern dazu wegen des immensen Druck ihres Umfelds dazu nicht in der Lage sind." 

 

Das ist für mich ein ganz wichtiger Satz !!!!

Das sollte man näher ausführen.

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Weshalb ist eigentlich  "immenser Druck des Umfelds" nie Nötigung § 240 ? " nei Nötigung

Für mich ist das  psychische Gewalt, die den Zweck hat eine Körperverletzung ( Beschneidung ) durch immensen Druck herbeizuführen. 

 

 

 

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Justizministerin hat eine Klage gegen Beschneidungsurteil angeregt 

 

Ein klärendes Wort eines obersten Gerichtes, des Bundesgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts, wäre hier das allerbeste“, sagte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) der „Augsburger Allgemeinen“. Dies gelte auch für Forderungen muslimischer und jüdischer Verbände nach einer gesetzlichen Regelung. „Auch ein Gesetz würde – gleich wie es ausfällt – mit Sicherheit in Karlsruhe vorgelegt werden“, sagte die Ministerin. „Es geht um grundsätzliche Fragen und verschiedene Grundwerte, die Frage, was Bestandteil der Religionsausübung ist, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit.“

 http://www.focus.de/politik/deutschland/gang-nach-karlsruhe-erwuenscht-justizministerin-hat-eine-klage-gegen-beschneidungsurteil-angeregt_aid_779622.html 

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Lesenswert:

Thoughts on Germany's Circumcision Ban from a Progressive Jew

"It's bold because a court in Germany has done what I and many of my peers have long been afraid to do in public: question the ethical -- and spiritual -- legitimacy of an ancient and enduring ritual which requires parents to surgically alter the sexual organ of an infant. [...]

I have attended many circumcisions, and I have nearly passed out or vomited at all of them, for there is no normative ritual in the Judeo-Christian world (that I know of) which is more tribal and distrubing than a bris. The rhythmic chanting. The encircled baby. The screams of pain.

I do not know if what Germany has done is right. I do not know contemporary ideas of what constitutes damage to a child trumps the freedom of my people to cut off the foreskin of male infants. But I do understand from whence the German decision comes.

Ultimately, my wife and I had a daughter, and were spared making the decision ourselves, a decision many Jews (and I suspect Muslims) wrestle with every day behind closed doors."

 

Strafanzeige in Tirol wegen Beschneidung

Innsbruck, Wien – Auf das Kölner Urteil, nach dem die männliche Beschneidung als strafbar zu werten ist, hat Amen Roman Oberhollenzer lange gewartet. „Endlich ist es klar, dass der nicht-therapeutische Eingriff bei Kindern Körperverletzung ist“, sagt Oberhollenzer, der 25 Jahre in Israel gelebt hat, aus einer jüdischen Familie stammt und sich seit Jahrzehnten gegen die rituelle Beschneidung starkmacht. Dass man ihm bisher in Tirol kein Gehör geschenkt hat, soll nun ein Ende haben. „Ich habe bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck Anzeige erstattet. Anzeige wegen Körperverletzung, begangen durch Personen in Privatwohnungen und von Ärzten in Krankenhäusern und das österreichweit“, so Oberhollenzer.

 

Es ist nicht das erste Mal, dass Oberhollenzer den Kampf gegen die „männliche Verstümmelung“ aufnimmt. „2008 wollte ich eine Anzeige bei einer Tiroler Polizeiinspektion erstatten, aber man hat sie einfach nicht angenommen. 2009 wurde meine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck als ‚strafrechtlich nicht relevant‘ ad acta gelegt“, erzählt Oberhollenzer, der den Staatsanwälten vorwirft, „es unterlassen zu haben, der kollektiven Körperverletzung Einhalt zu gebieten“.

Für Eva Plaz (Opferanwältin im Fall Fritzl) geht es beim Beschneidungsurteil um relevante religiöse wie gesellschaftliche Fragen: „Ich kann mir vorstellen, dass das Thema beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg landet.

 

http://www.tt.com/Tirol/5053157-2/strafanzeige-in-tirol-wegen-beschneidung.csp

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Die Religionsfreiheit wird fortlaufend missbraucht

 

Schächten, Wehrdienst, Abtreibung: Immer wieder entziehen sich Religionsgruppen staatlichen Regelungen mit Verweis auf die Religionsfreiheit.

Die Partij voor de Dieren, Niederlande, die als einzige Partei für Tierrechte in einem nationalen Parlament vertreten ist, hat einen Gesetzesantrag eingereicht, der vorsieht, dass alle Tiere vor dem Schlachten betäubt werden. Führende Vertreter muslimischer und jüdischer Verbände haben sich gemeinsam gegen diese Initiative gestellt, um sich vor dieser Gesetzesinitiative zu schützen, die sie als Bedrohung ihrer religiösen Freiheit empfinden, da ihre Glaubenslehren verbieten, das Fleisch von Tieren zu verzehren, die beim Schlachten nicht bei vollem Bewusstsein sind.

http://www.welt.de/debatte/die-welt-in-worten/article107626857/Die-Religionsfreiheit-wird-fortlaufend-missbraucht.html

 

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Nehmen wir an, ich wäre Muslim und meine in Deutschland geborene Frau konvertierte zu meiner Religion (ohne dass ich sie dafür übermäßig schlagen musste). Sie hat einen 32-jährigen seit Geburt geistig behinderten Bruder für den sie seit Jahr und Tag Betreuungsvollmacht besitzt.

Nun kommen wir im stillen Gebet mit Allah auf den Gdanken dass es ein Gutes wäre wenn wir ihren Bruder "spätbeschneiden" lassen. Wir versprechen uns davon nur Gutes für ihn, wollen also aus unserer Sicht nur zu seinem Wohle handeln. Als Beschnittener würde er von unserer Familie weit besser akzeptiert werden. Das würde sich unserer Meinung nach positiv auf seine Betreuung auswirken.

Falls es jemals eine wie auch immer geartete gesetzliche Regelung für religiös motivierte Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen Personen gibt, könnten wir in diesem Modellfall uns dann auf gleiches Recht berufen?

Was ist wenn mein Schwager nun zwar geistig behindert, jedoch kräftig gebaut und ein störrischer Bock ist, der diese "Tat zu seinem Wohle" nicht nur ablehnt sondern sich entschieden zur Wehr setzt.

 

Könnten wir ihn legal "zu seinem Glück" zwingen? Wie müsste ein Krankenhaus reagieren wenn wir es schon mal geschafft hätten ihn bis zur Pforte zu bringen?

Dieses Beispiel möge sehr konstruiert klingen, ich will damit lediglich versuchen auszuloten welche juristischen Problemfälle mit einem im Gesetz verankerten Beschneidungsrecht auftreten könnten.

 

 

 

 

 

 

 

 

Herzliche Grüße

Reiner Wein

 

 

 

derSchwabe schrieb:
Dieses Beispiel möge sehr konstruiert klingen, ich will damit lediglich versuchen auszuloten welche juristischen Problemfälle mit einem im Gesetz verankerten Beschneidungsrecht auftreten könnten.

Herzliche Grüße

Reiner Wein

Ich gehe davon aus, dass eine neu einzuführende Regelung sich ausschließlich auf unter 14-jährige oder 12-jährige beschränkt, um nicht in Konflikt zu § 5 KerzG zu geraten. Dann müssten Sie sich im o.g. Fall einen beschneidungsfreudigen Arzt suchen (Adressen werden sicher jetzt schon im Internet gehandelt, analog zu den Ritalinschleudern), der sich irgendwelche medizinischen Gründe aus den Fingern saugt.

Enttäuscht von den Behörden schrieb:
Strafanzeige in Tirol wegen Beschneidung
Ich weiß nicht, ob die österreichischen Staatsanwälte genauso weisungsgebunden sind wie die deutschen - so oder so bräuchte es sehr viel Mut, sich in dieses Minenfeld zu begeben. Sollte es zu einem Verfahren kommen, bin ich auf die medizinischen Gutachten zu § 90 (3) ÖStGB gespannt - es reicht ja schon "geeignet" als Verbotskriterium!

Ich würde zum Urteil selbst gerne wissen, ob ich die Passage mit der Sozialadäquanz richtig ins Nichtjuristendeutsch übersetze:

Exner sagt: das Elternrecht auf religiöse Erziehung der Kinder wiegt nicht schwerer als das Recht aus körperliche Unversehrtheit, die Beschneidung entspricht trotz elterlicher Einwilligung nicht dem Kindeswohl (insoweit übereinstimmend mit dem LG Köln). Aber weil die Beschneidung (und ihre Folgen?) "sozial unauffällig" ist, lange Tradition hat und allgemein gebilligt ist (was angesichts der Meinungsumfragen allerdings fraglich ist), ist sie trotzdem nicht strafbar. Eine Straftat sozusagen, die der Strafbarkeit entzogen ist.

Das LG Köln sagt (unter Berufung auf die zitierte Lit.): wenn die Güterabwägung insgesamt eine Straftat ergibt, also ein rechtswidriges Verhalten, dann kann die "allgemeine Billigung" bzw. Sozialadäquanz die Strafbarkeit nicht aufheben; sozial adäquat kann etwas nur sein, wenn die Güterabwägung ergibt, dass das fragliche Verhalten nicht strafbar ist (z.B. weil die Vorteile des "Geschädigten" das verletzte Rechtsgut deutlich überwiegen wie bei der Impfung oder weil die Verletzung minimal, nahezu komplikationslos und reversibel ist wie beim Ohrlochstechen). Eine Straftat ist grundsätzlich strafbar mit den im StGB genannten Ausnahmen; Tradition oder allgemeine Billigung stellen eine Straftat nicht außerhalb des Strafrechts.

Wenn das so korrekt ist, bedeutet das ja, dass eigentlich alle Juristen (auch die, die die Beschneidung irgendwie der Strafbarkeit entzogen sehen) der Ansicht sind, dass das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit auch bei Einwilligung der Eltern schwerer wiegt als das (auch religiöse) Erziehungsrecht der Eltern (zumindest bei den Juristen, die Art. 2 GG in ihre Argumentation mit aufnehmen, die anderen Erörterungen sind ohne diesen Aspekt grob unvollständig). Es ist also herrschende Meinung, dass aus Grundrechtserwägungen die religiös motivierte Beschneidung eine Straftat ist bzw. sein muss. (Der Schlenker des LG Köln über die negative Religionsfreiheit bzw. das beeinträchtigte Interesse des Kindes, später selbst über seine Religion entscheiden zu können, war also gar nicht nötig und bietet argumentativ Angriffsfläche).

Das bedeutet aber, dass eine Änderung des BGB oder des KERzG die Strafbarkeit keineswegs sofort abschaffen könnte (eine Formulierung wie z.B. "Eltern können bis zum vollendeten 12. Lebensjahr des Kindes in dessen Zirumzision wirksam einwilligen" müsste in einem kommenden Strafprozess dennoch gegen Art. 2 (2) GG abgewogen werden, was eine Überprüfung nach Art. 100 GG zur Folge hätte), das könnte höchstens durch eine Änderung des StGB selbst geschehen - und ob die verfassungsgemäß wäre, ist angesichts der einstimmig für das Kind ausgehenden Güterabwägung ebenfalls zweifelhaft. Eine Normenkontrollklage oder Überprüfung nach Art. 100 GG wäre ebenfalls zwingend.

Der Gesetzgeber würde sich nicht zum ersten Mal gegen die Mehrheitsmeinung und für Lobbyinteressen entscheiden - aber würde das BVerfG die herrschende Meinung ignorieren, was die Grundrechtsabwägung angeht?

Was meinen die Experten dazu?

Hier nochmal der Link zum Urteilstext auf den offiziellen NRW-Justiz-Seiten: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/koeln/lg_koeln/j2012/151_Ns_169_11_Urt...

Sehr geehrte/r Mein Name,

die Lehre von der Sozialadäquanz ist (wie schon die zitierten Autoren, alle aus der älteren Literatur, andeuten) in der Strafrechtswissenschaft heute nicht mehr aktuell. Gemeint war damit ein ungeschriebener Tatbestandsausschluss in Fällen, in denen ein Tatbestand zwar dem Wortlaut nach erfüllt war, aber dennoch nach allg. Annahme keine Strafbarkeit vorliegen solle.

Nach neueren Ansichten ist die völlig unbestimmte Sozialadäquanz systematisch heute in folgenden Kategorien erfassbar:

- unerhebliche Rechtsgutbeeinträchtigung, irrelevantes Risiko, erlaubtes Risiko

(zB Teilnahme am Straßenverkehr, Alkoholausschank, Ansteckung mit Schnupfen, Weihnachtsgeschenk an Postboten), entspr. Einschränkungen können unmittelbar beim tatbestandsmäßigen Verhalten oder bei der obj. Zurechnung verarbeitet werden

- gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung

hier sind solche Verhaltensweisen erfasst, die zwar tatbestandsmäßig sind, also doch ein erhebliches Risiko bergen, aber dennoch aus gegenläufigen anerkannten Interessen "tatsächlich" nicht verfolgt werden; hierhin gehört(e) etwa das Züchtigungsrecht der Lehrer.

- schließlich ist es möglich, strafverfahrensrechtlich (nicht) zu reagieren (§ 153 StPO) (Beispiel: geringe BtMG-Verstöße)

Ich neige zu der Ansicht, dass es sich bei der Beschneidung um eine bislang gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung handelt. "Gewohnheitsrecht" ist aber abhängig von der jeweiligen faktischen Gewohnheit, die im Falle der Beschneidung derzeit gerade durchbrochen zu werden scheint.

Wenn man dem folgt, ist die Argumentation, die Beschneidung sei schon immer strafrechtswidrig gewesen, unpassend. Sie war schon immer tatbestandsmäßig, aber eben nicht rechtswidrig.

Man kann darüber streiten, wann und wie ein Gewohnheitsrecht entfällt bzw. schwindet (siehe oben meinen Austausch von Argumenten mit Herrn Garcia, der meint, es gebe quasi einen "Besitzstand" an Erlaubnistatbeständen, der aus Gründen des Art. 103 Abs.2 GG nur gesetzlich entzogen werden könne).

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Obwohl psychische Folgen nie ein Beweis für ein Vergehen oder Verbrechen sind, möchte  ich die folgende Meinung trotzdem posten.

 

Nach Ansicht des Düsseldorfer Arztes und Psychoanalytikers Matthias Franz kann eine Beschneidung von Jungen schwere seelische Schäden verursachen. Franz spricht von einer „sexuellen Gewalterfahrung“, die ein Leben lang nachwirken könne. „Ein Blick in die Gesichter vieler Jungen während der Prozedur zeigt den Aufruhr und den Schrecken, der im Gefühlsleben einiger dieser Jungen wohl auf Dauer konserviert wird“, schreibt Franz in dem Buchbeitrag „Männliche Genitalbeschneidung und Kindesopfer“ 

 

Die Jungen, die sich im Alter von fünf bis sieben Jahren erstmals ihrer Geschlechtszugehörigkeit bewusst würden, erlebten in dieser sensiblen Lebensphase die Beschneidung als Drohung mit der „sehr realen Möglichkeit einer Kastration“. Das Ritual versteht Franz als archaischen Ausdruck patriarchalischer Kulturen, das dem Kind seine Rolle in der Gemeinschaft und in der Hierarchie schmerzhaft und unabänderlich klarmache. Der Junge „übernimmt die Rolle eines passiven Opfers – mit möglichen seelischen Langzeitfolgen“, so Franz weiter. 

 

 http://www.derwesten.de/politik/beschneidung-sollte-jungs-an-masturbation-hindern-id6867095.html 

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  Wolffsohn: Beschneidung ist verzichtbar

Im Streit um die Beschneidung von jüdischen und islamischen Jungen hat der Münchner Historiker Michael Wolffsohn die religiöse Bindekraft des Rituals in Frage gestellt.

Wenn die Beschneidung das einzige Zeichen der Verbundenheit zwischen Gott und dem männlichen Menschen ist, "dann steht es um diese Verbindung sehr schlecht", sagte Wolffsohn am Dienstag im Deutschlandfunk. Religionsgeschichtlich stelle das Ritual eine "Distanzierung vom Menschenopfer" dar, die heute nicht mehr notwendig sei.

Wolffsohn rief Juden und Muslime in Deutschland auf, grundsätzlich über ihre Rituale nachzudenken. Wie die Beschneidung sei auch der Verzicht auf den Genuss von Schweinefleisch lediglich ein Zeichen der Distanz zum Christentum  .

  

http://aktuell.evangelisch.de/artikel/4639/wolffsohn-beschneidung-ist-ve...

 

 

Prof. Dr. Wolffsohn ist der Sohn einer 1939 nach Palästina geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie und Enkel des Verlegers und Kinopioniers Karl Wolffsohn. 

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Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

vielen Dank für die Klarstellung.

Das verdeutlicht auch eine zusätzliche Motivation des Gesetzgebers, die Rechtswidrigkeit nicht zuzulassen: denn dann hätten alle Beschnittenen Anspruch aus dem Opferentschädigungsgesetz, sobald sie sich einen intakten Körper zurückwünschen und ihren damaligen Beschneider anzeigen - der Staat müsste dann die Kosten für eine Vorhautrekonstruktion bezahlen ...

http://daserste.ndr.de/annewill/archiv/gaesteliste657.html

Streit ums Beschneidungs-Urteil - Religionsfreiheit ade?

Das Thema diskutieren Seyran Ates, Yitshak Ehrenberg, Khola Maryam Hübsch, Angelika Kallwass und Holm Putzke.

Wie erwartet hat keiner seine Auffassung geändert, es ist jedoch deutlich geworden, wie manipulativ versucht wird, mit angeblich erwiesenen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu argumentieren um aus Tradition geübte Zirkumzision zu rechtfertigen und wie wenig sich orthodoxe Religionsauffassungen um Recht und Gesetz scheren und wie abstoßend dies auf weniger Gläubige wirkt. Höhepunkt: "Beschneidung ist ein Geschenk an das Kind"

Update - Kritik zur Sendung in der FAZ:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/faz-net-fruehkritik-anne-will-selb...

Die Sendung als Video:

http://daserste.ndr.de/annewill/videos/annewill3507.html

 

Hartmannbund will Beschneidungen zulassen  Der Hartmannbund Niedersachsen will Beschneidungen aus religiösen Gründen weiterhin zulassen. Nach Auffassung des Verbandes greift ein Verbot elementar in durch das Grundgesetz geschützte Rechte ein .    Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung solle die Ärztekammer Niedersachsen klarstellen, dass „nicht berufsunwürdig oder dem Berufsrecht wiedersprechend“ handele, „wer aus religiösen Gründen Zirkumzisionen – auch an Minderjährigen – vornimmt“, heißt es in einem Antrag an die Kammerversammlung, der dieser Zeitung vorliegt.

„Eine bisher allgemein akzeptierte religiöse Handlung von Minderheiten unter Strafe zu stellen, stellt das Maximum an Ausgrenzung dar, das denkbar ist“, sagte Hartmannbund-Chef Bernd Lücke am Mittwoch. Deshalb müsse die Ärztekammer den Gesetzgeber auffordern, hier schnellstmöglich Klarheit zu schaffen.

Der Hartmannbund vertritt nach eigenen Angaben etwa ein Viertel der 36.000 Mediziner in Niedersachsen. 

Nach der Logik des Kölner Beschlusses müssten künftig auch Operationen von „Segelohren“ unterbleiben, weil diese medizinisch nicht zwingend notwendig seien, heißt es in dem Antrag. Das Bundesjustizministerium habe jedoch erst im Mai erklärt, dass ein allgemeines Verbot für kosmetische Operationen bei Jugendlichen unzulässig sei, weil dadurch in die verfassungsmäßigen Rechte der Eltern eingegriffen würde. 

 

http://www.haz.de/Nachrichten/Der-Norden/Uebersicht/Hartmannbund-will-Beschneidungen-zulassen 

 

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Enttäuscht von den Behörden schrieb:
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Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung solle die Ärztekammer Niedersachsen klarstellen, dass „nicht berufsunwürdig oder dem Berufsrecht wiedersprechend“ handele, „wer aus religiösen Gründen Zirkumzisionen – auch an Minderjährigen – vornimmt“, heißt es in einem Antrag an die Kammerversammlung, der dieser Zeitung vorliegt.

Die Ärztekammer ist nicht die Staatsanwaltschaft.

Da ich das Berufsrecht der Ärzte nicht in Detail kenne, weiss ich auch nicht, ob eine strafrechtliche Verurteilung ab einer Mindeststrafe automatisch zu einer Berufsunwürdigkeit und damit Entzug der Zulassung führt. Wenn nein steht der Ärtzekammer natürlich frei, diese Handlungen berufsrechtlich nicht zu sanktionieren - insbesondere wenn sie das auf "bis zur höchstrichterlichen Klärung" beschränken.

Wobei: höchstrichterlich ist für die einen der BGH (als oberste mögliche Instanz in einem entsprechenden Strafverfahren), für andere das BVerfG und wieder andere würden auch noch den EuGH oder das EMRG einschalten.

 

Quote:
Deshalb müsse die Ärztekammer den Gesetzgeber auffordern, hier schnellstmöglich Klarheit zu schaffen.

Das Schlimme ist, dass der Gesetzgeber gar nicht Klarheit schaffen will, sondern darauf wartet, dass das BVerfG ihm sagt, welche Regelung er machen soll.

 

Quote:
Nach der Logik des Kölner Beschlusses müssten künftig auch Operationen von „Segelohren“ unterbleiben, weil diese medizinisch nicht zwingend notwendig seien, heißt es in dem Antrag.

Zunächst mal: diese OPs werden üblicherweise nicht im Alter von wenigen Tagen gemacht, sondern entweder im Vorschulalter oder während der Schulzeit.

Wieso sind solche OPs erlaubt? Weil Hänseleien von anderen Kindern zu psychischen Problemen führen können. Und das dürfte dann sogar eine medizinische Indikation darstellen, oder zählen da nur körperliche Probleme?

 

Es wäre natürlich konsequent im Rahmen der Diskussion um Kindesschutz, eine Behandlung von einer tatsächlichen Belastung des Kindes abhängig zu machen und nicht vorbeugend operieren zu lassen - auch wenn Ärzte die Vorschulzeit für diese OPs empfehlen. Nicht von jedem wird die psychische Belastung so stark empfunden, dass man den Eingriff vorzieht, d.h. längst nicht jede OP ist erforderlich. (Weiss ich aus Erfahrung, ich bin zu Schulzeiten auch gehänselt worden wegen Segelohren, hab da aber nichts dran machen lassen.)

 

Andererseits müsste man bei der Auslegung, dass psychische Belastung als medizinische Indikation für einen Eingriff bei Kindern ausreicht, natürlich überlegen, ob der möglicherweise im entsprechenden religiösen Umfeld aufgebaute Druck nicht ebenfalls zu einer psychischen Belastung des Kindes führt und damit zu einer medizinischen Indikation für eine Beschneidung. (Und man müsste ggf. überlegen, wie man diesen Druck in den Griff bekäme, das Strafrecht wird da nicht viel helfen.)

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Enttäuscht von den Behörden schrieb:
Nach der Logik des Kölner Beschlusses müssten künftig auch Operationen von „Segelohren“ unterbleiben, weil diese medizinisch nicht zwingend notwendig seien, heißt es in dem Antrag. Das Bundesjustizministerium habe jedoch erst im Mai erklärt, dass ein allgemeines Verbot für kosmetische Operationen bei Jugendlichen unzulässig sei, weil dadurch in die verfassungsmäßigen Rechte der Eltern eingegriffen würde.
Da hat der Hartmannbund tatsächlich eine zulässige Analogie entdeckt, lässt aber die Schwere des Eingriffs völlig außer Acht.

Das "Anlegen" von Segelohren ist tatsächlich ein medizinethisch umstrittener Eingriff (siehe auch das Positionspapier der niederländischen Gesundheitsorganisation), unterscheidet sich jedoch in drei wesentlichen Merkmalen von der Beschneidung:

- es ist reversibel, die Zirkumzision nicht

- es wird kein erogenes Gewebe unwiederbringlich entfernt

- die Kinder sind auch im Erwachsenalter nahezu ausnahmslos mit der OP einverstanden, im Gegensatz zur Beschneidung

Die Rechtsgutverletzung ist also bei Weitem nicht so schwerwiegend wie bei der Zirkumzision.

Dazu kommt: das Ohrenanlegen wird ausschließlich lege artis gemacht, eine Brit Mila findet dagegen üblicherweise ohne Betäubung statt.

Auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat das Ritual der Beschneidung bei jüdischen und muslimischen Jungen verteidigt. "Wir dürfen uns nicht angewöhnen, zu meinen, erlaubt sei nur das, was allen plausibel erscheint“, sagte sie am Mittwochabend in Bückeburg. "Was manchen nicht plausibel erscheint, ist anderen heilig“, unterstrich Schavan beim Jahresempfang der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe. Viele Menschen müssten lernen, auch das zu respektieren, was ihnen selbst fremd sei.

Schavan begrüßte es zugleich, dass für Juden und Muslime in Deutschland Religionsunterricht an Schulen und theologische Studiengänge an Hochschulen eingerichtet werden. "Es ist gut, dass religiöse Bildung zur Allgemeinbildung gehört“, betonte die Katholikin. Theologie dürfe nicht "irgendwo“ stattfinden, sondern gehöre mitten ins öffentliche Bildungssystem hinein. "Das ist eine große wissenschaftliche Tradition, um die uns viele in der Welt beneiden und die international Standards setzt.“

Auch der schaumburg-lippische Landesbischof Karl-Hinrich Manzke wandte sich gegen das Kölner Urteil zur Beschneidung. "Ich glaube, dass das Landgericht nicht nur über die Möglichkeiten der Chirurgie schlecht informiert ist, sondern auch über das, was das Grundgesetz über die Religionen sagt“, betonte der evangelische Theologe. "Wer anfängt, religiöse Rituale zu verbieten, kann gleich die ganze Religion verbieten.“ Das könne dann auch Segnungen oder Taufen treffen.

Laut Manzke stammt jede Religion aus alten Zeiten und ist nicht durchgängig kompatibel mit dem aufklärerischen Verständnis von heute. 

http://www.abendblatt.de/politik/article2336366/Aerzteverband-will-Beschneidungen-weiter-zulassen.html 

Alles wird jetzt in einen Topf geworfen.

 

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Eigentlich kann keine Religion allein von sich behaupten , dass sie diskriminiert wird aufgrund des Beschneidungsurteils wie sonst bei anderen Ritualen. 

 

Juden, Moslems, Atheisten und einige Christen, wie koptische Christen oder Judenchristen lassen beschneiden.

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Angezeigt wegen Beschneidung: Unbekannter greift SPD-Integrationsrats-Mitglied an  

 

Eine türkischstämmige Mutter hatte erklärt, ihren Sohn im Türkei-Urlaub beschneiden zu lassen. Kurz darauf ging bei der Staatsanwaltschaft in Köln eine Anzeige ein - per SMS.  

 

Trotz des Urteils des Landgerichts Köln, dass Beschneidung als Körperverletzung betrachtet , wollen viele nicht darauf verzichten. Gonca Mucuk, Integrationsrats-Mitglied der SPD in Köln, verkündete deshalb, sie wolle ihren jüngsten Sohn im Urlaub in der Türkei beschneiden lassen. 

 

http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2012/07/456639/angezeigt-wegen-beschneidung-unbekannter-greift-spd-integrationsrat-mitglied-an/ 

 

Würde nur die Äußerung + Anzeige schon die Kölner Staatsanwaltschaft beschäftigen oder ist sie verpflichtet nach einiger Zeit das Kind untersuchen zu lassen, ob eine Beschneidung stattfand ?

 

Die Kölner Staatsanwaltschaft hatte ja das erste Urteil verursacht.

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Ich erlaube mir den Hinweis, dass die oben vielfach, offensichtlich von Wikipedia deutschsprachige Version übernommene Darstellung der Rechtslage in Schweden nicht richtig ist. Für nicht medizinische Zirkumzisionen sind per Gesetz ärztliche, hygienische und anästhetische Verhältnisse hergestellt, wie bei jedem chirurgischen Eingriff. Ausnahme für Säuglinge bis zu 2 Monaten, die auch von anderen als Ärzten beschnitten werden dürfen, sofern sie staatlich anerkannt sind. Mit anderen Worten: Jede Beschneidung an Jungen unter 18 ist grundsätzlich erlaubt, gleich aus welchen Grund.

Grundlage: Lag (2001:499) om omskärelse av pojkar (Gesetz betreffend die Beschneidung von Jungen)

http://www.riksdagen.se/sv/Dokument-Lagar/Lagar/Svenskforfattningssamling/sfs_sfs-2001-499/ 

 

//www.riksdagen.se/sv/Dokument-Lagar/Lagar/Svenskforfattninghttp://www.riksdagen.se/sv/Dokument-Lagar/Lagar/Svenskforfattningssamling/sfs_sfs-2001-499/  

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Zur Ergänzung die Schwedische Verfassung:

http://www.verfassungen.eu/sw/index.htm

Wie in Deutschland können Rechte per Gesetz eingeschränkt werden (§20),  allerdings nennen die §§ 21 bis 24 nicht den in §6 garantierten Schutz vor "aufgezwungenen körperlichen Eingriffen" - dieses Recht gilt also (im Gegensatz zum Verbot von Körperstrafe und Folter nach §5) absolut ???

Dann wäre das schwedische Beschneidungsgesetz ja verfassungswidrig ...

Ich frage mich vor diesem Hintergrund auch, wie ein deutsches Gesetz, das Körperverletzung ausdrücklich erlaubt bzw. straffrei stellt, Art. 19 (2) GG überhaupt entsprechen kann, denn es würde das Recht auf körperliche Unversehrtheit durchaus in seinem Wesensgehalt antasten, wenn nicht gar entwerten.

Bestehen denn in der juristischen Fachwelt Zweifel daran, dass auch die Glaubensfreiheit bzw. die der ungestörten Religionsausübung den Beschränkungen des Art. 2 (1) GG unterliegt?

Ich spreche kein schwedisch, deshalb weiss ich nicht, wie gut die Übersetzung ist, aber:

§ 6. Jeder und jede ist dem Gemeinwesen gegenüber vor einem ihm bzw. ihr aufgezwungenen körperlichen Eingriff [...] geschützt.

 

"Dem Gemeinwesen gegenüber" könnte bedeuten, dass nur staatliche (veranlasste) Eingriffe verfassungsmäßig verboten sind. Bei Körperverletzungen zwischen Privatpersonen würde dann ganz normal das Strafrecht gelten.

 

 

Dem 19 Abs. 2 kann man übrigens entsprechen, indem man die Beschneidung als geringfügigen Eingriff einstuft, bei dem "nur ein kleines bisschen Haut weggeschnitten wird" (Übertreibung beabsichtigt) und strenge Regeln für das ob und wie einführt. Schon das Vorschreiben einer (lokalen) Betäubung ist ein Fortschritt zu vielen praktizierten Riten. Die Übereinstimmung mit Art 19 II ist nicht das Problem bei der Gesetzgebung, sondern die Abwägung zwischen den beteiligten Grundrechten. Deshalb ja das Interesse der Regierung, dass das BVerfG die Sache vorher klärt, bevor man sich mit einem später kassierten Entwurf bei allen Beteiligten unbeliebt macht.

 

 

[quote]Würde nur die Äußerung + Anzeige schon die Kölner Staatsanwaltschaft beschäftigen oder ist sie verpflichtet nach einiger Zeit das Kind untersuchen zu lassen, ob eine Beschneidung stattfand ?[quote]

Wenn man bedenkt, dass in vielen Fällen, wo jemandem mit Gewalt gedroht wird, die Einstellung der Polizei ist: "Kommen Sie wieder, wenn was passiert ist", vermute ich mal nicht, dass vorab was passieren wird.

 

Eine Pflicht zur Untersuchung sehe ich nicht.

Es kann natürlich eine erneute Anzeige geben, wenn die Körperverletzung vollendet ist, dann wird eventuell auch ermittelt (und ggf. eine Untersuchung veranlasst).

 

Allerdings hat das Kölner Urteil eine Strafbarkeit des Arztes angenommen. Der in der Türkei praktizerende türkische Arzt ist aber vom deutschen Strafrecht nicht umfasst, § 3 ff. StGB.

Ob man trotzdem eine Verurteilung der Mutter (mittelbare Täterschaft? Beihilfe? Anstiftung?) hinbekäme? § 9 Abs. 2 StGB bietet vielleicht eine Möglichkeit, da müsste aber wohl mal ein Strafrechtsexperte was zu sagen.

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