"Unerhört" und "unsensibel"? - Urteil des LG Köln zur Beschneidung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 27.06.2012

Aufsehen erregte gestern das Urteil des LG Köln (Urt. v. 07.05.2012, Az. 151 Ns 169/11), das erstmals die Strafrechtswidrigkeit der religiös motivierten Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen männlichen Kleinkindes bejaht hat, aus den Gründen:

Jedenfalls zieht Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG selbst den Grundrechten der Eltern eine verfassungsimmanente Grenze. Bei der Abstimmung der betroffenen Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unange-messen. Das folgt aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider.

Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet.

Der die Zirkumzision durchführende Arzt wurde allerdings aufgrund § 17 StGB wegen nicht vermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen.

Mein Passauer Kollege Holm Putzke ist derjenige Strafrechtswissenschaftler in Deutschland, der dieses Thema am intensivsten bearbeitet hat und dessen Argumente sicher auch in das Kölner Urteil eingegangen sind - er selbst nimmt in LTO Stellung. Eine Literaturübersicht gibt er hier.

Natürlich sind die Religionsgemeinschaften, die die Zirkumzision zu ihren Traditionen zählen (insbesondere Islam und Judentum), ganz anderer Auffassung:

Der Zentralrat der Juden kritisierte das Urteil als "beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften". Zentralratspräsident Dieter Graumann sagte: "Diese Rechtsprechung ist ein unerhörter und unsensibler Akt."(Quelle)

Auch Matthias Drobinski  widerspricht Putzke und dem LG Köln, und zwar in der Süddeutschen Zeitung. Säkularisierte Richter sollten sich aus religiösen Traditionen heraushalten, sich jedenfalls nicht über die Religion stellen:

Manchmal aber ist es überhaupt nicht gut, wenn sich Richter zu Schiedsrichtern der Religion machen, sich über sie stellen, einen Rechtspositivismus quasi zur Ersatzreligion machen. Wo diese Grenze zwischen legitimem Einspruch im Namen des Grundgesetzes und Grenzüberschreitung liegt, das werden in den kommenden Jahren viele Urteile von vielen Gerichten neu justieren müssen, bis hin zum Verfassungsgericht. Es spricht einiges dafür dass sich die Karlsruher Richter irgendwann mit der Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen werden beschäftigen müssen. Und dann der Auffassung des Zentralrats der Juden folgen, der im Kölner Urteil einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sieht.

Das AG hatte den Eingriff noch als gerechtfertigt angesehen:

Das Gericht entschied, der Eingriff sei zwar eine Körperverletzung, diese sei aber gerechtfertigt, weil sie sich "am Wohl des Kindes" ausrichte und eine Einwilligung der Eltern vorgelegen habe. Die Beschneidung diene als "traditionell-rituelle Handlungsweise zur Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zur muslimischen Lebensgemeinschaft". Durch sie werde einer drohenden Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt (Quelle)

Die Frage der Strafbarkeit der nicht medizinisch indizierten Zirkumzision wird schon seit einigen Jahren in Fachkreisen - von Medizinern und Strafrechtlern - diskutiert.  Die Entscheidung des LG Köln kommt also nicht ganz überraschend, zumal die Praxis der Beschneidung verbreitet ist. Dass die Gerichtsentscheidung "unerhört" sei oder dass das Bundesverfassungsgericht die Frage selbstverständlich anders beurteilen werde, ist nicht ausgemacht: Ob Art. 4 oder Art. 6  GG das Recht einschließt, nicht einwilligungsfähige Kleinkinder am Körper zu verletzen, erscheint höchst fraglich. 

Update: Link zum  Wortlaut der Entscheidung

Update (15.07.2012): Nachdem sich nun Bundesregierung und einige weitere Politiker dahingehend geäußert haben, die Beschneidung künftig gesetzlich zu regeln, habe ich einen neuen Beitrag verfasst. Die Kommentarfunktion ist gesperrt. Ich bitte, beim neuen Beitrag zu diskutieren.

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211 Kommentare

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Einige Politiker und "Religionsvorsitzende" fordern, dass eine bindende Rechtssicherheit durch höchste Gerichte her muß.

Was folgt für die Gläubigen der betroffenen Religionsgruppen wenn ein höchstes Gericht in der BRD oder in "Europa" zu einem ähnlichen Urteil kommt ? 

Tritt dann eine Reform bei den betroffenen Religionsgruppen ein ?

 

 

 

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Die Zeit schreibt fast wie die Rabbiner :" Wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt, ist jüdisches (und muslimisches) Leben in Deutschland bedroht."

 

http://blog.zeit.de/joerglau/2012/07/13/die-beschneidung-der-religionsfreiheit_5625 

 

Ein anderes Beispiel ist die Missonierung der Juden zu messianische Juden, wo der "Untergang" der Juden auch fast gesehen wird. Sowohl in Israel als auch in Deutschland.  

 

Der Vorsitzende der Rabbinerkonferenz in Deutschland, Henry G. Brandt erwähnte das heikle Thema "Judenmisson". Sie sei ein "feindlicher Akt, eine Fortsetzung des Wirkens Hitlers auf anderer Basis".  

 

http://www.arendt-art.de/deutsch/Henryk_m_broder/henryk_m_broder_netzwerk.htm 

 

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Die Bundesregierung will rasch dafür sorgen, dass religiöse Beschneidungen nicht mehr unter Strafe gestellt werden können. Die religiösen Bräuche sollen nicht eingeschränkt werden. 

Der Jurist Jan Dirk Roggenkamp kritisierte das Urteil des Landgerichts Köln zur Beschneidung als "handwerklich nicht sauber". Das Recht zur Religionsfreiheit sei in dem Urteil nicht hinreichend gewürdigt worden, sagte der Professor für öffentliches Recht an der Polizeiakademie Niedersachsen am Donnerstagabend bei einer Diskussion in Berlin. "So lax kann man damit nicht umgehen", ergänzte Roggenkamp. 

 

"Für alle in der Bundesregierung ist es völlig klar: Wir wollen jüdisches und wir wollen muslimisches religiöses Leben in Deutschland", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Verantwortungsvoll durchgeführte Beschneidungen müssten straffrei sein, ergänzte Seibert. 

 

 

http://www.welt.de/politik/deutschland/article108284516/Regierung-will-Beschneidung-schnell-straffrei-stellen.html 

 

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Allerorten taucht der Begriff "Religionsfreiheit" auf. Doch ist es wirklich so, dass ein Nichtmündiger resp. Kind diese Wahl hat ? Wird nicht mit der Geburt in einen Kulturkreis dessen Religion "mit vererbt" und erst der Erwachsene hat die Chance die Religion zu wechseln resp. frei zu wählen.

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egal welcher name schrieb:

Allerorten taucht der Begriff "Religionsfreiheit" auf. Doch ist es wirklich so, dass ein Nichtmündiger resp. Kind diese Wahl hat ? Wird nicht mit der Geburt in einen Kulturkreis dessen Religion "mit vererbt" und erst der Erwachsene hat die Chance die Religion zu wechseln resp. frei zu wählen.

 

Genau bei Juden und den messianischen Juden wird nach den Religionsgesetzen die jüdische Religion vererbt.

 

Es kann aber die kuriose Lage entstehen, dass jemand zugleich Jude und Moslem ist. Wenn nämlich der Vater einer Person Moslem und die Mutter jüdisch ist, gilt diese Person nach islamischem Recht als Moslem, nach jüdischem Recht als jüdisch. 

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Es ist schon merkwürdig, dass sich die Regierung mit der  SPD einig sind für ein Gesetz für die Beschneidung von Babies  und Kindern. Falls es dazu kommt , wäre es interessant zu sehen, wer es zur Prüfung an höhere Gerichte gibt. Schade das es keine Filme gibt von der Beschneidung mit dem Schreien der Kinder. Das hätte man dann einmal in den Bundestag übertragen sollen. 

 

Auch SPD will Beschneidung legalisieren 

 

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-07/forderung-gesetz-beschneidung 

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Das Traurige ist dabei, dass alle Parteien und der Gesetzgeber Möglichkeiten suchen und vermutlich finden werden, entgegen dem Grundgesetz und dem Strafgesetzbuch es Eltern u. a. gestatten, minderwertige Personen ohne medizinische Notwendigkeit zu verstümmeln.

Was kommt noch in diesem Land? Können unter dem Vorwand der Religion auch bald andere Straftaten legitim werden?

Sehr traurig, dass gerade die Vertreter der großen Parteien Verstümmelungen an Minderjährigen zulassen wollen.

 

Um es klar zu sagen, wenn es bei entspr. Glaubensgemeinschaften schon immer so war oder auch ist, ist das noch kein Grund in Deutschland Persönlichkeitsrechte von Kindern zu missachten. Wenn Menschen das nicht achten wollen und drohen Deutschland den Rücken zu kehren - bitteschön!

 

Wer volljährig und geschäftsfähig ist, kann an sich manipilieren so viel er will, aber nicht an anderen und minderwertigen Personen!

 

Ich kann nur hoffen, dass sich nicht nur der "Normalbürger" aufregt, sondern auch Spezialisten, deren Stimme Gewicht hat. Den nur hier darüber sprechen wird keine Änderung bringen.

 

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Peter schrieb:

Das Traurige ist dabei, dass alle Parteien und der Gesetzgeber Möglichkeiten suchen und vermutlich finden werden, entgegen dem Grundgesetz und dem Strafgesetzbuch es Eltern u. a. gestatten, minderwertige Personen ohne medizinische Notwendigkeit zu verstümmeln.

 

Die Linke sieht das aber anders, ähnlich wie die Kölner Richter.

Das umstrittene Urteil stößt in der Linkspartei auf Zustimmung. Der religionspolitische Sprecher Raju Sharma sagte der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», eine Beschneidung sei ein «schwerer Eingriff» in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes. Diese habe der Staat zu schützen. Dagegen müssten die auf religiösen Traditionen begründeten Wünsche der Eltern zurückstehen. Insofern sei das Kölner Urteil «im Kern eine zutreffende Güterabwägung.

 

http://www.fr-online.de/politik/rabbiner--beschneidung-muss-vollkommen-legal-sein,1472596,16622558,view,asTicker.html

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Stehen diese Einzelheiten auch im Gerichtsurteil Köln? 

 

Das Urteil

 

Die Entscheidung des Kölner Landgerichts zur Beschneidung eines muslimischen Jungen hat eine lange Geschichte. Sie handelt von Angst, Schmerz und Hilflosigkeit.

 

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/beschneidungen-das-urteil-11820431.html

 

 

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 Am Samstag machte Gesundheitsminister Daniel Bahr einen Vorschlag. "Wir werden diskutieren, ob das im Patientenrecht geregelt werden kann", sagte der FDP - Politiker der Welt. Es müsse aber geprüft werden, "ob dieser Weg rechtlich überhaupt gangbar ist".

 

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-07/beschneidungen-kinderschutzbund

 

Wie sehen das die Fachleute hier ?

 

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Die Deutsche Kinderhilfe hat sich gegen eine Legalisierung religiöser Beschneidungen ausgesprochen. Der Verein kritisierte das Vorhaben der Bundesregierung, rechtssichere Beschneidungen zu ermöglichen. Das sei ein "Blankoscheck für religiös motivierte Kindesmisshandlungen".

 

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-07/beschneidungen-kinderschutzbund

 

 

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In der CSU gibt es Bedenken gegen eine gesetzliche Erlaubnis der rituellen Beschneidung von Jungen. Thomas Silberhorn, Obmann der CSU im Rechtsausschuss des Bundestages, sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", dass jede Ohrfeige den Tatbestand der Körperverletzung erfülle - "also auch die männliche Beschneidung". Der Rechtspolitiker fügte hinzu: "Eine Rechtfertigung mit dem elterlichen Sorgerecht oder mit der Religionsfreiheit würde gravierende Abgrenzungsschwierigkeiten aufwerfen und kann deshalb nicht vollends überzeugen.

Silberhorn plädierte stattdessen für eine Straffreistellung. "Ein Beispiel dafür bietet die Regelung der Abtreibung: Sie bleibt rechtswidrig, wird aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft.

 

http://www.n24.de/news/newsitem_8068516.html

 

Wie sehen das die Experten ?

Oder ist das kein "guter Kompromiss", der strafrechtlich nicht halbar ist  ?

 

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Eine Strafreistellung forden ja zB. ja auch die Religösen , die Homeschooling für ihre Kinder  praktizieren, weil sie der Meinung sind, dass staatliche Schulen  und andere Schulen z.T.  falsche Unterrichtsthemen vermitteln. Bislang wurden Eltern von Schulverweigerern aus religiösen Kreisen verurteilt zu Geldstrafen oder sogar einige Tage Gefängnis.

 

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Liebe Diskussionsteilnehmer/innen,

besten Dank für Ihre vielen Beiträge. Die Diskussion hier ist leider unübersichtlich geworden.

Da sich nun auch abzeichnet, dass es eine gestezliche Regelung geben wird, habe ich einen neuen Beitrag verfasst. Die Diskussion kann nun dort fortgesetzt werden, die Kommentarfunktion hier habe ich daher gesperrt (die Kommentar bleiben natürlich lesbar).

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

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