Zur Reform der Sicherungsverwahrung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 10.11.2012

Der Bundestag hat in Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgestern eine Reform der Sicherungsverwahrung beschlossen. Einige Länder haben bereits Bedenken bzw. Widerstand angekündigt, da sie "Schutzlücken" befürchten (welt): Da keine nachträgliche Verwahrung / Unterbringung mehr vorgesehen ist, könnten gefährliche Straftäter nach Verbüßung der Strafe entlassen werden. Jedoch ist gerade die nachträgliche Verwahrung die menschenrechtlich und verfasungsrechtlich problematischste Variante. Interessant, dass gerade ein Praktiker wie Skirl,  der Leiter der JVA Werl, den Gesetzentwurf unterstützt:

Wenig hält der Gefängnisleiter auch vom SPD-Vorschlag einer nachträglichen Therapieunterbringung. Dies zwinge die Vollzugsanstalten, wie bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen ihre Gefangenen, die sie eigentlich resozialisieren sollten, Informationen zu sammeln. Michael Skirl verweist gern darauf, dass vor der Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung das Land nicht im Chaos versunken sei. "Ein gewisses Risiko muss ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat aushalten." (Quelle: Welt)

Gefährliche Straftäter auch nach ihrer Strafhaft in Unterbringung zu behalten und die Bevölkerung so vor ihnen zu schützen, ist das Kernanliegen einer Gesetzgebung, die im bisherigen Zustand als menschenrechtswidrig und verfassungswidrig erkannt wurde. Daher jetzt diese Neuregelung, die das "Abstandsgebot" (zwischen Strafe und Therapieunterbringung) und die Resozialisierung auch für solche Straftäter realisieren soll, die als (potentiell) gefährlich gelten. Das Bundesjustizministerium hat sich hier Mühe gegeben, die Vorgaben des BVerfG zu erfüllen und trotzdem dem politisch formulierten Bedürfnis nach Schutz der Bevölkerung nachzukommen.

Die Achillesferse dieser Regelung aber bleibt die Prognostik.  Wäre es möglich, tatsächlich "gefährliche  Straftäter" eindeutig zu identifizieren, wäre auch die Differenz zwischen Strafe und anschließender Verwahrung weniger problematisch.

Johannes Feest bringt es auf den Punkt:

"Der Wunsch, möglichst alle schweren Straftaten zu verhindern, ist verständlich. Der Gesetzgeber erkauft sich die Erfüllung dieses Wunsches durch Prognosen über Straftaten, die noch gar nicht begangen wurden. Nach allen vorliegenden Untersuchungen müssten wir aber um eine einzige schwere Straftat zu verhindern etwa zwanzig Gefangene mit schlechten Prognosen nach dem Ende ihrer regulären Haftzeit hinter Schloss und Riegel halten. Das ist eine nur schwer zu rechtfertigende Quote." (Quelle: LTO)

In den Augen der Mehrheit ergibt sich diese Rechtfertigung wohl aus der zuvor begangenen schweren Straftat: Wer eine solche Straftat begeht, trage praktisch zugleich das Risiko, die eigene Ungefährlichkeit nicht nachweisen zu können und auch nach Verbüßung seiner Strafe als „gefährlich“ prognostiziert zu werden, selbst wenn er gar nicht (mehr) gefährlich ist.

Eine zweite Problematik ist das "Abstandsgebot", mit dem der Argumentation des EGMR begegnet werden soll, die Verwahrung / Unterbringung sei in Wahrheit nur Fortsetzung einer Strafe, deren Form und Dauer aber im Strafurteil keine Grundlage habe. Bestimmungen, die nun diesen Abstand herstellen sollen, sind allerdings solche, die Forderungen entsprechen, die schon seit 1977 für den resozialisierenden Strafvollzug allgemein gelten sollten, aber bislang dort - aus Kostengründen - kaum umgesetzt wurden, nämlich spezielle Behandlungsangebote an alle Strafgefangene. Für den "Abstand" müsste also praktisch geradezu verhindert werden, dass der gesamte Strafvollzug entsprechend praktisch reformiert wird. Noch einmal Feest dazu:

"Die Beispiele, die das BVerfG für die spezifische Behandlung von Sicherungsverwahrten aufgezählt hat, schreibt das Strafvollzugsgesetz fast durchwegs für Strafgefangene vor. In der Praxis sind sie allerdings häufig nicht verwirklicht. Mögliche darüber hinausgehende Angebote wie der Zugang zum Internet, eine bessere Bezahlung der Gefangenenarbeit oder garantierte Behandlungsangebote werden sich über kurz oder lang auch im Strafvollzug durchsetzen. Und dort, wo ein Abstand ohne einleuchtende Begründung hergestellt und aufrechterhalten wird, besteht die Gefahr, dass es zu Massenprotesten der Strafgefangenen gegen ihre Benachteiligung kommt (Quelle: LTO)

Hinzu kommt natürlich das allgemeine Problem einer Therapie für die Freiheit in Unfreiheit. Zugleich jemanden einzusperren (und zwar aus Sicherheitsgründen weitgehend ohne Vollzugslockerungen) und für ein Leben in Freiheit zu therapieren, ist milde ausgedrückt "schwierig".

Wahrscheinlich ist das nun verabschiedete Gesetz der beste und zugleich mehrheitsfähige Versuch, den Vorgaben des BVerfG zu entsprechen, aber ideal ist er nicht.

 

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10 Kommentare

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Also, wenn es beispielsweise darum geht, 20 Mörder (die ihre Taten mit unter 21 begangen haben) weiter wegzusperren, obwohl statistisch gesehen nur einer von denen erneut morden wird, halte ich das für eine sehr akzeptable Quote. Rechtsdogmatisch sauberer und richtig wäre natürlich, von vornherein lebenslange Freiheitsstrafen zu verhängen. Aber diesen Weg ist man in Deutschland (und Europa) nicht gegangen.

 

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Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

 

Henning Ernst Müller schrieb:

In den Augen der Mehrheit ergibt sich diese Rechtfertigung wohl aus der zuvor begangenen schweren Straftat: Wer eine solche Straftat begeht, trägt praktisch zugleich das Risiko, die eigene Ungefährlichkeit nicht nachweisen zu können und auch nach Verbüßung seiner Strafe als „gefährlich“ prognostiziert zu werden, selbst wenn er gar nicht (mehr) gefährlich ist.

 

Das ist meiner Meinung nach eine gefährliche Begründung bzw. Rechtfertigung. Denn faktisch führt dies zu einer Relativierung der Grundrechte von Schwerverbrechern: Wenn ich, wie Prof. Feest es einschätzt, 19 tatsächlich ungefährliche Täter wegsperren muss (aber gälte das gleiche nicht schon bei einem einzigen?), um einen echten Rückfalltäter zu "erwischen", dann werden die übrigen tatsächlich Ungefährlichen zu einem Objekt der Straftatenverhinderung gemacht. Es widersprecht dem Anspruch des Straftäters, wie ein Subjekt behandelt zu werden, und verleugnet seine Indiviualität, ihn wegen der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, aber ohne jedes verlässliche Wissen um sein eigenes künftiges Legalverhalten vorsorglich wegzusperren. Das ist mit der unanstatbaren Menschenwürde nicht vereinbar! Materielle Rechtfertigung für die freiheitsentziegenden Maßregeln ist nun einmal die Gefährlichkeit. Kann ich diese nicht zuverlässig bestimmen, ist die Verhängung von Sicherungsverwahrung etc. illegitim.

Im Übrigen ist bereits fraglich, ob es sich bei der Gruppe von Straftätern, für die eine nachträgliche Unterbringung überhaupt in Frage kommt (insbesondere ältere Strafgefangene, die mitunter Jahrzehnte ihres Lebens im Strafvollzug verbracht haben) überhaupt um eine echte "Risikogruppe" handelt. Die sog Alterskurve der Kriminalität lehrt uns schließlich, dass die Kriminalitätsbelastung mit zunehmendem Alter rapide abnimmt, gerade auch, was die hier im Fokus stehenden Aggressionsdelikte betrifft. Die Studien von Prof. Kinzig, Prof. Dessecker, M. Alex, Prof. Müller u.a. belegen übrigens die Übertreibung der Rückfallgefahr.

Ich stimme Prof. Feest weiter zu, dass die medial skandalisierten und von der Politik als Begründungsvehikel für Gesetzesbverschärfungen missbrauchten schweren Straftaten (Kindermorde u.ä.) häufig von (jüngeren) Ersttätern begangen werden. Bei der Diskussion um die Sicherungsverwahrung geht es daher eher um gefühlte als tatsächlich vorhandene Sicherheitslücken. Und irrationale Ängste sind ein schlechter Ratgeber, wenn es um schwerwiegende Grundrechtseingriffe geht.

Das Abstandsgebot ist meiner Meinung falsch herum gewickelt. Nicht auf den Abstand zwischen Straf- und Maßregelvollzug kommt es an, sondern allein auf den Abstand zwischen echtem Leben und Sicherungsverwahrung. Andernfalls wäre dem Abstandsgebot bereits genüge getan, wenn der Strafvollzug noch resozialisierungsfeindlicher würde (so schon Prof. Streng in JZ 2011). Einschränkungen in der Freiheit dürfte es in der Sicherungsverwahrung nur aus zwingenden Gründen der Sicherheit geben und nicht - wie sonst üblich -, wenn ökonomische oder praktische Aspekte wichtiger sind. Allein mit neuen Abteilungen auf dem Gelände der JVAen ist es damit nicht getan. Die Verwahrten müssten Zugang zu Internet und anderen Freizeitaktivitäten haben. Denn sie sind keine Strafgefangenen mehr, sondern bringen ein Sonderopfer zum Wohle der Allgemeinheit, indem sie vorsorglich zum Verzicht auf ihre Freiheit gezwungen werden. Davon ist die Praxis allerdings weit entfernt. Ich zitiere bspw. das OLG Hamm:

OLG Hamm Beschl. vom 17.7.2012 (1 Vollz (Ws) 297/12) schrieb:

Dass also ein Haftkostenbeitrag erhoben wurde, weil der Beschwerdeführer … nicht unverschuldet … der Arbeit ferngeblieben ist, widerspricht diesen Grundsätzen (Anmerkung: Abstands- und Trennungsgebot) nicht. Ein Arbeitszwang wird nicht ausgeübt. Arbeitet der Sicherungsverwahrte nicht, so wird lediglich – entsprechend den allgemeinen Lebensverhältnissen, die im Allgemeinen erfordern, dass man für sein Auskommen selbst zu sorgen hatvon ihm ein Beitrag für seine Unterkunft, Verpflegung etc. verlangt.

Jetzt darf der Untergebrachte also noch für seine Unterbringung bezahlen, weil er sich der furchtbar schlecht bezahlten Arbeit (zudem noch gemeinsam mit Strafgefangenen) verweigert. Oder das OLG Frankfurt a.M., das einem Sicherungsverwahrten im Beschl. vom 20.03.2012 - 3 Ws 1009/11 (StVollz) - BeckRS 2012, 07913 eine Playstation 2 wegen der „Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten“ verbietet.

Die Sicherungsverwahrung ist und bleibt damit ein trauriges Kapitel unserer Rechtspolitik...

Beste Grüße aus Mainz

S. Sobota

 

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Sehr geehrter Herr Sobota,

danke für Ihren Beitrag. Der von kritisierte Zusammenhang entspricht nicht meiner Auffassung, und ist deshalb von mir auch nur als "in den Augen der Mehrheit" wiedergegeben worden. Tatsächlich habe ich genau diese Argumentation schon diverse Male gehört.

In der Sache stimme ich voll mit Ihnen überein.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

da habe ich wohl missverständlich zitiert. Ich wollte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie diese Auffassung teilen.

Das BVerfG vermeidet eine Auseinandersetzung mit der Frage des Menschenwürdeverstoßes leider, indem es kontrafaktisch Prognosesicherheit behauptet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt....

Beste Grüße
S.Sobota

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Eine Verletzung der Menschenwürde der Sicherungsverwahrten kann ich nicht erkennen, solange die Sicherungsverwahrung daran geknüpft ist, dass der für gefährlich gehaltene Täter zuvor tatsächlich Taten von erheblichem Gewicht verübt hat. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung werden nur anlässlich von rechtwidrigen Taten verhängt. Sie sind zwar nach der Konzeption des einfachen Strafrechts keine Strafe. Sie sind aber zwingend an ein tatsächliches Verhalten des Täters geknüpft und betrachten diesen daher nicht als bloßes Objekt.

Im Übrigen Frage ich mich, wie man gemessen haben will, dass von den Personen, die in Deutschland weiter in Sicherungsverwahrung sind, im Fall der Freilassung nur jeder zwanzigste erneut schwere Straftaten begangen hätte. Von randomisierten Experimenten hätte man mit Sicherheit gehört; die Öffentlichkeit hätte sie als Skandal empfunden.  Im referenzierten Artikel von Prof. Feest klingt es auch nicht so, als ob die Quote sich auf die tatsächlich Sicherungsverwahrten bezieht. Ein Hinweis, auf welche Studien Prof. Feest sich beziehen will, fehlt.

Im Übrigen bleibe ich dabei: Wenn man zwanzig Mörder für immer wegsperren muss, um eine weitere Morderie zu verhindern, soll - ja, muss - man das tun. Man muss ausgesprochen zynisch und/oder abgestumpft gegenüber dem Leid der Opfer und ihrer Hinterbliebenen sein, um eine solche Quote zu schlecht zu finden.
 

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Sehr geehrte "h.M.",

 

H.M. schrieb:

Eine Verletzung der Menschenwürde der Sicherungsverwahrten kann ich nicht erkennen, solange die Sicherungsverwahrung daran geknüpft ist, dass der für gefährlich gehaltene Täter zuvor tatsächlich Taten von erheblichem Gewicht verübt hat. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung werden nur anlässlich von rechtwidrigen Taten verhängt. Sie sind zwar nach der Konzeption des einfachen Strafrechts keine Strafe. Sie sind aber zwingend an ein tatsächliches Verhalten des Täters geknüpft und betrachten diesen daher nicht als bloßes Objekt.

Diese Argumentation finde ich nicht überzeugend. Die Straftat ist durch Verbüßung der Freiheitsstrafe erledigt. Es gibt kein Delikt mit 100%iger Rückfallquote. Wenn Sie den Täter nun wegen der verübten Straftat einer Risikogruppe zuordnen, aus der bspw. 5% schwerwiegend rückfällig werden, und deshalb vorsorglich inhaftieren, widerspricht dies sehr wohl seinem Anspruch, als Subjekt behandelt zu werden. Denn ihm wird nicht die von ihm begangene Straftat angelastet, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, ohne dass man zuverlässig sagen könnte, dass von ihm selbst weitere Straftaten drohen. Dieser Verstoß gegen die Menschenwürde lässt sich nicht so einfach negieren. Vor allem nicht mit dem Hinweis auf frühere Straftaten, denn Straftäter verwirken ihre Menschenrechte nicht. Eine Grundrechtsverwirkung kennt unsere Rechtsordnung mit guten Gründen nur in Ausnahmefällen (s. dazu die Habilitition von Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960), und die Menschenwürde kann erst recht niemand verwirken. Lesen Sie ruhig einmal die Entscheidung des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz (1 BvR 357/05).

Der Gesetzgeber des StGB ging bei der Konzeption des Maßregelrechts zudem davon aus, dass sich die Prognosemethoden so deutlich verbessern würden, dass eine Bestimmung der Gefährlichkeit zuverlässig möglich ist. (Im Rahmen des § 63 StGB ist dies auch insoweit plausibel, als es gewisse psychische Störungen gibt, die Menschen tatsächlich geradezu zwangsläufig straffällig werden lassen. Allerdings gilt selbst dies nur eingeschränkt, denn bei weitem nicht alle Menschen, die psychisch krank sind, werden straffällig und es gibt sogar Gruppen von "Gestörten", die deutlich weniger kriminalitätsbelastet sind als die sog. Normalbevölkerung.) Diese Erwartungen an die Wissenschaft sind bis heute nicht erfüllt worden. Eine Anknüpfung der Maßregeln an Risikogruppen kennt das StGB aber nicht und sie widerspräche auch eklatant dem strafrechlichen Individualisierungsgrundsatz.

H.M. schrieb:

Im Übrigen Frage ich mich, wie man gemessen haben will, dass von den Personen, die in Deutschland weiter in Sicherungsverwahrung sind, im Fall der Freilassung nur jeder zwanzigste erneut schwere Straftaten begangen hätte. Von randomisierten Experimenten hätte man mit Sicherheit gehört; die Öffentlichkeit hätte sie als Skandal empfunden.  Im referenzierten Artikel von Prof. Feest klingt es auch nicht so, als ob die Quote sich auf die tatsächlich Sicherungsverwahrten bezieht. Ein Hinweis, auf welche Studien Prof. Feest sich beziehen will, fehlt.

 

Das ist ein grundsätzlich berechtigter Einwand. Während ein sog. Falsh-negativer (fälschlich als ungefährlich beurteilter Straftäter) sogleich für Schlagzeilen in den Boulevard-Medien sorgt, wird das Schicksal eines Falsch-positiven (fälschlich als gefährlich beurteilter Straftäter) niemals bekannt. Wie soll schließlich jemand beweisen, dass er in Freiheit gar keine Straftaten mehr begehen wird, wenn er eingesperrt ist? Studien sind deshalb rar und eine Randomisierung im Strafrecht regelmäßig ausgeschlossen. Es gibt aber immer wieder Situationen, in denen das Leben (oder besser gesagt die Justiz) den Forschern einen quasi-experimentellen Zustand beschert. Ein solches Design findet sich etwa in der Dissertation von Michael Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel, 2010. Alex nutzte den Umstand, dass aufgrund der restriktiven Rechtsprechung von BVerfG und BGH in vielen Fällen aus Rechtsgründen (keine Gefährlichkeit wegen "neuer Tatsachen") keine nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängt werden konnte, obwohl die Straftäter als gefährlich eingestuft wurden. In dieser Gruppe (n=77) untersuchte er über Jahre die Legalbewährung. Prof. Jürgen L. Müller ging mit seinem Team ähnlich vor (MSchrKrim 2011 und NK 2012). Beide kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Nur bei einem Bruchteil der als gefährlich eingestuften Straftäter erfüllte sich die extrem negative Legalprognose. Ähnliche Studien mit ähnlichen Ergebnissen kennt man auch aus den USA ("Baxstrom", "Dixon"), wo sogar die als noch gefährlicher eingeschätzte Gruppe der psychisch kranken Straftäter untersucht werden konnte.

Aber - wie oben schon geschrieben - findet eine Auseinandersetzung mit diesen Befunden in der deutschen Rechtsprechung nicht statt. Das BVerfG behauptet mit Verweis auf führende Psychiater (was angesichts des Umstands, dass es sich bei der Klientel der Sicherungsverwahrung um voll schuldfähige Straftäter handelt, schon einigermaßen bemerkenswert ist!), dass die Vorhersage einer Gefahr künftiger schwerer Straftaten "sicher möglich" sei (BVerfGE 109, 133). Nur so lässt sich das gesamte Maßregelrecht überhaupt halten...

 

H.M. schrieb:

Im Übrigen bleibe ich dabei: Wenn man zwanzig Mörder für immer wegsperren muss, um eine weitere Morderie zu verhindern, soll - ja, muss - man das tun. Man muss ausgesprochen zynisch und/oder abgestumpft gegenüber dem Leid der Opfer und ihrer Hinterbliebenen sein, um eine solche Quote zu schlecht zu finden.

Sie verkennen augenscheinlich, um wen es bei der Sicherungsverwahrung geht. Ein Mörder wird in aller Regel mit lebenslanger Haft bestraft. Das bedeutet, dass er nach 15 Jahren nur dann entlassen wird, wenn ihm u.a. eine positive Legalprognose gestellt wird (§§ 57, 57a StGB). Gerade vor ein paar Wochen hatte ich einen Fall auf dem Tisch, in dem der Täter wegen Mordes seit 30 (!) Jahren in Haft ist, obwohl ihm keine besondere Schwere der Schuld vorgeworfen wird. Es gibt also bereits kraft Gesetzes eine Art Sicherungsverwahrung für Mörder, wenn sie ihre Tatschuld abgebüßt haben und allein wegen fehlender positiver Legalprognose in Haft bleiben.

Einzig bei jungen Mördern gibt es das Problem, dass sie nach Verurteilung nach JGG noch vergleichsweise jung sind, wenn sie entlassen werden müssen (s. etwa die Fälle nach § 7 Abs. 2 JGG aus Regensburg, Würzburg und München). Sie befinden sich dann immer noch in einem besonders kriminalitäsanfälligen Alter und wurden im Vollzug oft nur unzureichend resozialisert (leider gerade auch in den Fällen, wo anschließend "sowieso" nachträgliche Sicherungsverwahrung ansteht). Allerdings ist hier die prognostische Unsicherheit noch größer, weil die Spontanremission durch Reifung ins Spiel kommt. Ich erinnere an den Fall des Münchener "Westparkmörders". Nach einer geradezu beispiellosen kriminellen Karriere zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr (Sachbeschädigung, Diebstahl, Raub, versuchter Totschlag, Vergewaltigung, Mord aus Mordlust) folgte eine unvorhersehbare Wende und von einem Tag auf den anderen (begünstigt durch die späte Aufdeckung seiner Täterschaft) änderte er sein ganzes Leben. Selbst als er dann ermittelt wurde und fast 13 Jahre im Strafvollzug war, gab es kein einziges Aggressionsdelikt mehr... Und das im Reizklima des Strafvollzugs!

Ich bin übrigens weder zynisch noch abgestumpft, was das Leid Betroffener angeht, und war leider auch selbst schon das Opfer einer schweren Straftat. Trotzdem halte ich nichts von einer ausufernden Verwahrung von allenfalls potentiellen Tätern. Wenn Sie die Gesellschaft wirklich schützen wollten, müssten Sie mindestens alle Männer im Alter zwischen 18 und 25 Jahren einsperren. Und Straßenverkehr, Alkohol und Zigaretten sollten Sie auch abschaffen! ;-)

 

Beste Grüße

S. Sobota

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Sehr geehrter Herr Sobota,

einfach-rechtlich ist es in der Tat so konstruiert, dass die Straftat mit der Strafe verbüßt ist. Wenn man aber prüft, ob die Sicherungsverwahrung mit der Menschenwürde vereinbar ist, kann man nicht daran vorbei, dass sie an die tatsächlich begangene Tat anknüpft. In die Hoch-Risikogruppe wird der Täter aufgrund eigenen Handelns eingeordnet und entsprechend behandelt. Wenn man das ausblendet und so tut, als ob die Sicherungsverwahrung eine unbescholtene Person betrifft, wäre die Sicherungsverwahrung in der Tat rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigen. Man darf es aber nicht ausblenden. Menschen werden aufgrund ihrer Taten auf eine bestimmte Weise behandelt; mit "Verwirkung der Menschenwürde" hat das nichts zu tun.

Die Studie von Alex betrifft, soweit ersichtlich, einen kurzen Rückfallzeitraum von nur eineinhalb Jahren, in dem die neue Tat nicht nur begangen und aufgeklärt sein muss, sondern in dem es bis zur rechtskräftigen Verurteilung gekommen sein muss. Richtig? Das ist bei besonders schweren Taten nicht die Regel (zumal es auch sein kann, dass die Tat nie aufgeklärt wird). Im Übrigen betrifft die Studie unter den für die Sicherungsverwahrung vorgesehenen nicht die schwersten Fälle.

Mir war durchaus bekannt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Mörder vor allem Personen unter 21 betrifft, siehe auch mein Kommentar unter #1.

Was Ihren Auto-Vergleich betrifft: Wenn jedes zwanzigste Auto im Laufe seiner Betriebszeit schweres Leid (wie etwa tödliche oder die Opfer dauerhaft verstümmelnde Unfälle) verursachen würde, wäre ich in der Tat für ein Verbot. Autos wären dann jedenfalls streng zu beschränken auf besonders wichtige Zwecke; zum Beispiel der Notfallrettung oder der Feuerwehr. Aber die Quote von Autos ist glücklicherweise sehr viel günstiger; sie verursachen viel seltener als in 5 % der Fälle schwerwiegende Unfälle. Entsprechendes gilt für Alkohol, der - in absoluten Zahlen gesehen - in der Tat häufig schweres Leid (mit-)verursacht. Wenn jeder zwanzigste Alkoholkonsument im Rausch anderen schweres Leid zufügen würde, würde ich in der Tat ein Verbot fordern. Die Quote ist jedoch sehr viel günstiger. Was Zigaretten betrifft: die haben insbesondere nach den jüngsten Entwicklungen beim Nichtraucherschutz einen sehr geringen Fremdgefährdungsgrad.
 

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H.M. schrieb:

Sehr geehrter Herr Sobota,

einfach-rechtlich ist es in der Tat so konstruiert, dass die Straftat mit der Strafe verbüßt ist. Wenn man aber prüft, ob die Sicherungsverwahrung mit der Menschenwürde vereinbar ist, kann man nicht daran vorbei, dass sie an die tatsächlich begangene Tat anknüpft. In die Hoch-Risikogruppe wird der Täter aufgrund eigenen Handelns eingeordnet und entsprechend behandelt. Wenn man das ausblendet und so tut, als ob die Sicherungsverwahrung eine unbescholtene Person betrifft, wäre die Sicherungsverwahrung in der Tat rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigen. Man darf es aber nicht ausblenden. Menschen werden aufgrund ihrer Taten auf eine bestimmte Weise behandelt; mit "Verwirkung der Menschenwürde" hat das nichts zu tun.

Wenn diese Begründung verfassungsrechtlich tragfähig ist, warum umgeht das BVerfG dann wohl eine Auseinandersetzung mit der Frage der Prognosesicherheit und beharrt auf dem (m.E. unhaltbaren) Standpunkt, dass die Prognose "sicher" sei? Nochmals: Die Zuordnung eines Täters zu einer Gruppe widerspricht dem strafrechtlichen Individualisierungsgrundatz. Sie können nicht mit dem Verweis auf das Vorliegen der formellen Voraussetzungen (Anlasstat) die materiellen Voraussetzungen (Gefährlichkeit) relativieren. Das widerspricht eklatant der gesetzlichen Konzeption des Maßregelrechts, dessen "materielle Kernvoraussetzung" (NK-Böllinger/Pollähne vor § 61 ff. StGB Rn. 58) die tatsächliche Gefährlichkeit des Täter ist.

Zudem möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass es sich in weiten Teilen nicht einmal um echte "Risikogruppen" handelt. Das gilt selbst für die Gruppe der Sexualstraftäter, die insgesamt keine besonders hohe Rückfallquote aufweist (Es gibt Ausnahmen wie Exhibitionisten oder z.T. auch die Pädophilen, aber danach differenziert das Gesetz gar nicht). Noch weniger trifft dies  - wie bereits gesagt - bei älteren Straftätern zu.

H.M. schrieb:

Die Studie von Alex betrifft, soweit ersichtlich, einen kurzen Rückfallzeitraum von nur eineinhalb Jahren, in dem die neue Tat nicht nur begangen und aufgeklärt sein muss, sondern in dem es bis zur rechtskräftigen Verurteilung gekommen sein muss. Richtig? Das ist bei besonders schweren Taten nicht die Regel (zumal es auch sein kann, dass die Tat nie aufgeklärt wird). Im Übrigen betrifft die Studie unter den für die Sicherungsverwahrung vorgesehenen nicht die schwersten Fälle.

Das ist nicht richtig. Bei M. Alex sind auch nach durchschnittlich 33 Monaten Beobachtungszeitraum noch 50 von 77 Probanden (entspricht ca. 65%) ohne jeden Rückfall geblieben. Insgesamt gab es in seiner Gruppe nur vier Katalogtaten. Ich weise an dieser Stelle noch einmal vorsorglich darauf hin, dass eine seriöse Entlassungsprognose niemals Gültigkeit für einen längeren Zeitraum beanspruchen kann, da sie sich sonst notwendigerweise auf situative Umstände beziehen muss, die zum Zeitpunkt der Prognosestellung noch gar nicht bekannt sein und daher niemals einen Prognosefehler begründen können. Deshalb verlangt das BVerfG auch eine zum Zeitpunkt der Entlassung „gegenwärtige“ Gefährlichkeit des zu Verwahrenden, während ein mittel- oder langfristiges Risiko nicht ausreicht (BVerfG, NJW 2009, 980, 983). Von einer solchen kann aber bei einem Rückfall, der sich erst Jahre nach der Entlassung ereignet, nicht mehr gesprochen werden. In diesen Fällen ist die neue Tat nicht aus der Prognose ableitbar, sondern ein zufälliger Treffer, der somit die zuvor diagnostizierte Gefährlichkeit gerade nicht bestätigt.

Prof. Müller untersuchte seine Gruppe übrigens mindestens 24 Monate lang.

Gerade weil es sich bei den Katalogtaten um schwere Straftaten mit Opfern handelt, ist hier zudem das Dunkelfeld relativ klein und die Aufklärungsquote hoch. In Alex'  Gruppe finden sich allerdings auch einige Bagatelldelikte wie BtM-Besitz u.ä. Daran zeigt sich, dass die Justiz bei dieser Klientel sehr genau hinschaut und es auch in weniger gravierenden Fällen zeitnah zu Verurteilungen kommt. Beide Studien sehen allerdings Nachuntersuchungen vor, sodass man gespannt sein darf, ob sich die Befunde noch wesentlich ändern. Solange sich die Trefferquote aber nicht nachträglich extrem erhöht, entkommt man meiner Meinung nach nicht dem o.g. Dilemma.

Richtig ist allerdings, dass die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung schrittweise derart abgeschmolzen wurden, dass inzwischen immer mehr Straftäter für eine Verwahrung in Frage kommen (laut Prof. Kinzig allein mehr als 1.000 Altfälle jährlich für nSV). Bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB a.F.) waren die formellen Hürden anfangs aber vergleichsweise hoch, sodass es sich in der Stichprobe von Alex sehr wohl um schwerste Straftäter handelt. Was die Mörder im Jugendalter angeht, ist ihre Zahl derart klein, dass bereits § 7 Abs. 2 JGG (nicht zu Unrecht) als Einzelfallgesetz gebrandmarkt wurde (Bayern setzte wenige Tage vor der Entlassung des Regensburger Sexualmörders die Einführung im JGG durch).

Beste Grüße

S. Sobota

 

sebasobo schrieb:

Wenn diese Begründung verfassungsrechtlich tragfähig ist, warum umgeht das BVerfG dann wohl eine Auseinandersetzung mit der Frage der Prognosesicherheit und beharrt auf dem (m.E. unhaltbaren) Standpunkt, dass die Prognose "sicher" sei?

 

Ganz einfach: Das Bundesverfassungsgericht setzt sich dort nicht mit Ihrem Argument auseinander, die Sicherungsverwahrung mache den Verwahrten zum Objekt. Es prüft dort die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht. Ich habe auf Ihr Argument geantwortet, das BVerfG auf die Argumente der Beteiligten; deswegen schreibe ich etwas anderes als das BVerfG.

 

sebasobo schrieb:

Bei M. Alex sind auch nach durchschnittlich 33 Monaten Beobachtungszeitraum noch 50 von 77 Probanden (entspricht ca. 65%) ohne jeden Rückfall geblieben.

 

Ich nehme zur Kenntnis, dass die gedruckte Studie einen längeren Beobachtungszeitraum umfasst, als aus der im Netz verfügbaren Besprechung der gedruckten Studie von Prof. Feest (im Strafvollzugsarchiv) hervorgeht.

 

sebasobo schrieb:

Ich weise an dieser Stelle noch einmal vorsorglich darauf hin, dass eine seriöse Entlassungsprognose niemals Gültigkeit für einen längeren Zeitraum beanspruchen kann, da sie sich sonst notwendigerweise auf situative Umstände beziehen muss, die zum Zeitpunkt der Prognosestellung noch gar nicht bekannt sein und daher niemals einen Prognosefehler begründen können. Deshalb verlangt das BVerfG auch eine zum Zeitpunkt der Entlassung „gegenwärtige“ Gefährlichkeit des zu Verwahrenden, während ein mittel- oder langfristiges Risiko nicht ausreicht (BVerfG, NJW 2009, 980, 983).

 

Das BVerfG sagt auch: "Das Merkmal der Gegenwärtigkeit besagt (...) nicht, dass die Begehung neuer erheblicher Straftaten durch den Verurteilten unmittelbar bevorstehen müsste, um die Sicherungsverwahrung zu rechtfertigen". Bei der Sicherungsverwahrung geht es selbstverständlich nicht nur darum, zu verhindern, dass die Täter in den ersten Monaten nach der Freilassung rückfällig werden.

 

sebasobo schrieb:
In Alex'  Gruppe finden sich allerdings auch einige Bagatelldelikte wie BtM-Besitz u.ä.

(...)

Daran zeigt sich, dass die Justiz bei dieser Klientel sehr genau hinschaut und es auch in weniger gravierenden Fällen zeitnah zu Verurteilungen kommt.

 

Strafverfahren wegen BtM-Besitz gehen in der Regel schnell. Bei Entdeckung der Tat steht der Täter in der Regel fest, die Ermittlungen und die Beweisaufnahme sind in der Regel überschaubar. Ermittlungs- und Strafverfahren wegen schwerer Straftaten dauern üblicherweise länger als die wegen Bagatelldelikten. Auch wenn bei schweren Straftaten mit Opfern das Dunkelfeld vergleichsweise gering ist, bedeutet das weder, dass alle Taten bekannt werden, noch, dass die Täter (zeitnah oder überhaupt) ermittelt werden. 
 

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Sehr geehrte "h.M.",

 

ich fürchte, so kommen wir hier nicht weiter. :-)

H.M. schrieb:

sebasobo schrieb:

Wenn diese Begründung verfassungsrechtlich tragfähig ist, warum umgeht das BVerfG dann wohl eine Auseinandersetzung mit der Frage der Prognosesicherheit und beharrt auf dem (m.E. unhaltbaren) Standpunkt, dass die Prognose "sicher" sei?

 

Ganz einfach: Das Bundesverfassungsgericht setzt sich dort nicht mit Ihrem Argument auseinander, die Sicherungsverwahrung mache den Verwahrten zum Objekt. Es prüft dort die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht. Ich habe auf Ihr Argument geantwortet, das BVerfG auf die Argumente der Beteiligten; deswegen schreibe ich etwas anderes als das BVerfG.

 

Das mag sein, aber wundert Sie denn nicht, dass das BVerfG eine Leistungsfähigkeit der Kriminalprognose unterstellt, die nicht mal im Ansatz der Wirklichkeit entspricht? Dabei wäre es nach Ihrer Ansicht doch so einfach, die Sicherungsverwahrung auch bei nur wenigen % Treffgenauigkeit zu rechtfertigen. Den Einwand, dass der Straftäter wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe und nicht wegen tatsächlicher Gefährlichkeit verwahrt wird, ignorieren Sie geflissentlich. Dabei wäre dies selbst dann noch der Fall, wenn die Quote der tatsächlich Gefährlichen noch um ein vielfaches höher wäre.

 

H.M. schrieb:

sebasobo schrieb:

Ich weise an dieser Stelle noch einmal vorsorglich darauf hin, dass eine seriöse Entlassungsprognose niemals Gültigkeit für einen längeren Zeitraum beanspruchen kann, da sie sich sonst notwendigerweise auf situative Umstände beziehen muss, die zum Zeitpunkt der Prognosestellung noch gar nicht bekannt sein und daher niemals einen Prognosefehler begründen können. Deshalb verlangt das BVerfG auch eine zum Zeitpunkt der Entlassung „gegenwärtige“ Gefährlichkeit des zu Verwahrenden, während ein mittel- oder langfristiges Risiko nicht ausreicht (BVerfG, NJW 2009, 980, 983).

 

Das BVerfG sagt auch: "Das Merkmal der Gegenwärtigkeit besagt (...) nicht, dass die Begehung neuer erheblicher Straftaten durch den Verurteilten unmittelbar bevorstehen müsste, um die Sicherungsverwahrung zu rechtfertigen". Bei der Sicherungsverwahrung geht es selbstverständlich nicht nur darum, zu verhindern, dass die Täter in den ersten Monaten nach der Freilassung rückfällig werden.

 

Das waren die Maßstäbe vor dem Urteil BVerfGE 128, 326, in denen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit ("hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten")  - zumindest semantisch - noch einmal hochgeschraubt wurden. Auch sonst geht es meines Erachtens zumindest bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung, über die nun wieder so heftig gestritten wird, sehr wohl um die sog. "tickende Zeitbombe", deren Ausbruch kurz bevorsteht. Diesen Begriff verwenden nicht nur Politiker, Staatsanwaltschaften und JVAen regelmäßig, sondern es geht tatsächlich um die Situation, dass der Staat nicht sehenden Auges einen Straftäter entlassen muss, von dem unmittelbar und gegenwärtig schwerste Straftaten drohen.

Ich weiß nicht, inwiefern Sie mit der Methodik der Kriminalprognose vertraut sind, aber es ist in der Wissenschaft vollkommen unstreitig, dass solche Prognosen nur einen begrenzten Geltungszeitraum haben (s. etwa Nedopil in NStZ 2002, 344, 348). Das liegt an dem Umstand, dass menschliches Verhalten von Persönlichkeit und Umgebung abhängt. Egal wie gut ich glaube, die Persönlichkeit eines Menschen und deren Entwicklung einschätzen zu können, bleibt die Unsicherheit der Umgebung (insbesondere Aufenthalts-, Kontakt-, Leistungs- und Freizeitbereich). Eine längere Zeit gültige negative Prognose kann letztlich nur dann gestellt werden, wenn der Proband sich vollkommen unabhängig von seiner Umgebung immer straffällig verhält. Das ist eigentlich nur bei schweren psychischen Krankheiten denkbar und extrem selten. In den Biographien von schweren Straftätern, die mir bisher im Rahmen kriminologischer Forschung und Prognostik begegnet sind, regiert dagegen die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit in allen Lebensbereichen. Es fängt an bei z.T. dutzenden Umzügen, häufigem Arbeitsplatzwechsel, über wechselndem Freundes- und Bekanntenkreis, neuen Partnern, Hobbies usw. usf. Dieser Umstand führt aber auch häufig zu unvorsehbaren Abbrüchen von kriminellen Karrieren, etwa weil der Proband den richtigen Job oder die richtige Frau gefunden hat. Der Fall des Münchener "Westparkmörders" ist ein solcher. Dort war nun auch bei der Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung entscheidend, dass der Proband nach Kroatien zurückkehren wollte, wo er vor der Strafhaft bereits jahrelang unauffällig gelebt hatte. Hier konnte nicht argumentiert werden, dass er ja irgendwann einmal in das Münchener Drogenmilieu zurückkehren könne, aus dem heraus er damals seine schweren Straftaten begangen hatte.

Bei der Entlassungsprognose kann daher per se nur der aktuell absehbare Empfangsraum des Straftäters (mit seiner ggfs. zeitlich begrenzten Gültigkeit) berücksichtigt werden. Alles andere wäre Wahrsagerei.

 

H.M. schrieb:

sebasobo schrieb:

In Alex'  Gruppe finden sich allerdings auch einige Bagatelldelikte wie BtM-Besitz u.ä.

(...)

Daran zeigt sich, dass die Justiz bei dieser Klientel sehr genau hinschaut und es auch in weniger gravierenden Fällen zeitnah zu Verurteilungen kommt.

 

Strafverfahren wegen BtM-Besitz gehen in der Regel schnell. Bei Entdeckung der Tat steht der Täter in der Regel fest, die Ermittlungen und die Beweisaufnahme sind in der Regel überschaubar. Ermittlungs- und Strafverfahren wegen schwerer Straftaten dauern üblicherweise länger als die wegen Bagatelldelikten. Auch wenn bei schweren Straftaten mit Opfern das Dunkelfeld vergleichsweise gering ist, bedeutet das weder, dass alle Taten bekannt werden, noch, dass die Täter (zeitnah oder überhaupt) ermittelt werden. 

 

Mein Beispiel sollte nur veranschaulichen, dass die entlassenen Straftäter im Fokus der Strafverfolger stehen. Sie stehen unter einem viel höheren Verfolgungsdruck als der Normalbürger, sodass anzunehmen ist, dass das Dunkelfeld ihrer Straftaten noch kleiner ist. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Duisburger Fall, in dem ein frisch aus der Sicherungsverwahrung Entlassener ein Mädchen überfallen haben soll (die Medien berichteten ausführlich). Eine Anfrage von mir an die StA Duisburg ergab, dass das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO wegen fehlendem Tatverdacht eingestellt wurde. Daran sieht man, wie schnell ein solcher Straftäter (falsch) verdächtigt wird. Für ihn ist es also nicht nur wegen der Natur seiner Taten viel schwieriger unentdeckt zu bleiben.

 

Beste Grüße

S. Sobota

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