Abstandsverstoß: 3 Sekunden oder 140m Dauer sind festzustellen

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 30.08.2013
Rechtsgebiete: AbstandsverstoßStrafrechtVerkehrsrecht7|13301 Aufrufe

Der 1. Senat des OLG Hamm hat seine Rechtsprechung zum Abstandsverstoß konkretisiert und einmal grundsätzlich Stellung genommen. Es geht dabei um die Frage: Wie lang muss eine Abstandsunterschreitung dauern, um als vorwerfbarer Abstandsverstoß zu gelten. Das OLG Hamm hat dabei Neuland betreten:


I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes zu einer Geldbuße von 180 Euro verurteilt. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts führte der Betroffene einen PKW auf der BAB 1. Bei Kilometer 327,700 wurde im Rahmen einer polizeilichen Verkehrsüberwachung mit dem System Vidit Typ VKS 3.0 Version 3.1. für sein Fahrzeug bei einer (nach Abzug eines Toleranzwertes von 5 km/h) Geschwindigkeit von 131 km/h ein Abstand von nur 26 m zum vorausfahrenden Fahrzeug ermittelt. Die Messstrecke betrug rund 123 m. Die Messstelle war so eingerichtet, dass eine Strecke von insgesamt 500m übersehen werden konnte. Das Amtsgericht hat ausgeschlossen, dass ein anderes Fahrzeug vor dem Betroffenen eingeschert war.

Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er meint, die Rechtsbeschwerde sei zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, um die Mindestlänge bzw. die Mindestdauer der Abstandsunterschreitung obergerichtlich zu klären.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Rechtsbeschwerde war – jeweils durch Alleinentscheidung des mitunterzeichnenden Berichterstatters RiOLG Q - zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zuzulassen und dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern nach § 80a Abs. 3 OWiG zur Entscheidung zu übertragen. Die Zulassung ist zur Fortbildung des Rechts geboten, um die für eine bußgeldrechtliche Ahndung nach §§ 4, 49 StVO notwendige Dauer bzw. Länge einer Abstandsunterschreitung näher zu konkretisieren. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung war die Rechtsbeschwerde zuzulassen, weil ansonsten schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung fortbestehen würden. So hat das AG Lüdinghausen mit Urteil vom 28.01.2013 (19 OWi 216/12 – juris) für eine Ahndung eine Abstandsunterschreitung auf einer Fahrstrecke von mindestens 150 m, ja sogar eher noch von 250 bis 300 m für erforderlich erachtet. Im angefochtenen Urteil wird hingegen die deutlich geringere, den Mindestabstand unterschreitende, Fahrstrecke von 123 m für ausreichend erachtet.

III.

Die – auch im Übrigen zulässige – Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

1.

Die Rügeanforderungen gemäß der §§ 80 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 StPO sieht der Senat noch als erfüllt an. Es wurde zwar nicht ausdrücklich die Rüge der Verletzung materiellen Rechts erhoben. Jedoch geht aus dem Gesamtzusammenhang der Begründung des Zulassungsantrages noch hinreichend hervor, dass der Betroffene sich dagegen wenden will, dass das Amtsgericht hier eine Abstandsunterschreitung auf weniger als 150 m Fahrstrecke für die Bejahung des Verkehrsverstoßes hat ausreichen lassen.

2.

Das angefochtene Urteil weist keine Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf.

Insbesondere ist die Annahme des Amtsgerichts, dass eine Abstandsunterschreitung auf einer Messstrecke von 123 m den Bußgeldtatbestand nach §§ 4, 49 StVO i.V.m. Nr. 12.6.2. der Tabelle 2 der BKatV erfülle, wenn der vorwerfbare Verstoß mindestens 3 Sekunden angedauert hat, rechtlich nicht zu beanstanden.

a) Für die Ahndung eines Abstandsverstoßes ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wie auch der Obergerichte erforderlich, dass die Abstandsunterschreitung nicht nur ganz vorübergehend ist. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es Situationen geben kann, wie z.B. das plötzliche Abbremsen des Vorausfahrenden oder einen abstandsverkürzenden Spurwechsel eines vorausfahrenden Fahrzeugs, die kurzzeitig zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden könnte (OLG Hamm NZV 1994, 120; OLG Koblenz, Beschl. v. 02.05.2002 – 1 Ss 75/02 = BeckRS 2002, 30257446; OLG Koblenz, Beschl. v. 10.07.2007 – 1 Ss 197/07 = BeckRS 2008, 08770; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 4 Rdn. 22).

Wann eine nicht nur ganz vorübergehende Abstandsunterschreitung vorliegt, wird in der Rechtsprechung der Obergerichte unterschiedlich beurteilt. Einige Gerichte halten eine Strecke von 250-300m, in der die Abstandsunterschreitung vorliegen muss, für ausreichend (vgl. OLG Celle NJW 1979, 325; OLG Düsseldorf NZV 2002, 519; OLG Karlsruhe NJW 1972, 2235). Andere lassen jedenfalls 150 m ausreichen, wenn die Messung in einem standardisierten Messverfahren durchgeführt wurde, ein kurz zuvor erfolgter Spurwechsel eines vorausfahrenden Fahrzeugs ausgeschlossen werden kann und die Dauer der abstandsunterschreitenden Fahrt mehr als 3 Sekunden betrug (OLG Hamm NZV 2013, 203; vgl. auch OLG Köln VRS 66, 463; König a.a.O. Rdn. 22).

b) Im Gesetz selbst ist keine Mindestdauer in zeitlicher oder örtlicher Hinsicht Voraussetzung der Ahndung einer Abstandsunterschreitung. Die vom Bundesgerichtshof aufgestellte Voraussetzung, dass die Abstandsunterschreitung nicht nur vorübergehend sein darf, bezieht sich nach Auffassung des Senats auf die Dauer oder Länge der vorwerfbaren Abstandsunterschreitung, nicht auf die Dauer oder Länge der insgesamt festgestellten Abstandsunterschreitung. Nach § 10 OWiG kann nur vorsätzliches oder – wenn das Gesetz dies (wie hier) ausdrücklich vorsieht – fahrlässiges Handeln als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Auf die Dauer oder Länge der insgesamt festgestellten Abstandsunterschreitung kann es daher letztlich nicht entscheidend ankommen. Maßgeblich ist also, dass der Anteil an der Gesamtstrecke der Abstandsunterschreitung, der von dem Betroffenen verschuldet wurde (und nicht etwa durch ein Verhalten Dritter oder durch andere Ereignisse, auf die der Betroffene noch nicht reagieren und den erforderlichen Abstand wieder herstellen konnte), nicht nur „vorübergehender“ Natur ist.

Bei der Frage, wann eine Abstandsunterschreitung nicht nur vorübergehend ist, steht für den Senat die zeitliche Komponente im Vordergrund. Schon die Formulierung in der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofes legt dies nahe. Auch erscheint es naheliegender, sich der zeitlichen Komponente zum Ausschluss eines nur kurzfristigen – und damit aus Verhältnismäßigkeitsgründen nicht ahndungswürdigen – Versagens des Fahrzeugführers zu bedienen. Der Senat hält jedenfalls eine Abstandsunterschreitung für die Dauer von mehr als 3 Sekunden – wie hier – für kein kurzfristiges Versagen des Fahrzeugführers mehr, wenn kurz zuvor erfolgte abstandsverkürzende, vom Betroffenen nicht zu vertretende, Ereignisse (Abbremsen des vorausfahrendes Fahrzeugs, abstandsverkürzender Fahrspurwechsel eines Dritten, auf die der Betroffene noch keine Möglichkeit hatte zu reagieren) – wie hier – ausgeschlossen werden können (in diese Richtung wohl auch: OLG Koblenz a.a.O.). Auch unter angemessener Berücksichtigung üblicher Reaktionszeiten ist von jedem Betroffenen noch innerhalb einer Dauer der Abstandsunterschreitung von drei Sekunden ohne Dritteinwirkung einerseits das Bewusstsein zu verlangen, dass er handeln und den Sicherheitsabstand vergrößern muss, sowie andererseits auch eine entsprechende Umsetzung

abstandsvergrößernder Maßnahmen. Jedenfalls ist eine länger andauernde Gefährdung des Straßenverkehrs durch eine bußgeldbewehrte und damit in jedem Fall erhebliche Unterschreitung des gebotenen Sicherheitsabstandes nicht hinnehmbar. Fährt der Betroffene trotzdem mit einem unzulässig geringen Abstand weiter hinter einem anderen Fahrzeug her, so kann hier von einem nur vorübergehenden Pflichtenverstoß nicht mehr die Rede sein.

Um allerdings besonders schnell fahrende Fahrzeugführer nicht zu privilegieren, hält der Senat aber auch eine Abstandsunterschreitung auf einer Strecke von jedenfalls 140 m unter den o.g. weiteren Voraussetzungen (Ausschluss eines abstandsverkürzenden Ereignisses, auf das der Betroffene noch nicht reagieren konnte, bis zum Beginn der Messstrecke) für nicht nur vorübergehend. Das beruht auf der Erwägung, dass derjenige, der die Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h deutlich überschreitet und damit die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs deutlich erhöht, wegen der erhöhten durch ihn begründeten Gefahr bei einer Abstandsunterschreitung auch schneller wieder den erforderlichen Mindestabstand herstellen muss. Eine solche – auch haftungsrechtlich relevante – Überschreitung der Richtgeschwindigkeit wird jedenfalls ab einer Geschwindigkeit von 160 km/h angenommen (OLG Hamm NJW-RR 2011, 464 m.w.N.). Bei dieser Geschwindigkeit legt ein Fahrzeug in 3 Sekunden etwa 133,3 m zurück. Großzügig zugunsten des Betroffenen aufgerundet ergeben sich die o.g. 140 m.

c) Ob auch bei noch kurzfristigeren Abstandsunterschreitungen ein ahndungswürdiger Verstoß gegeben ist (vgl. BayObLG NZV 1994, 241; OLG Koblenz, Beschl. v. 02.05.2002 – 1 Ss 75/02 = BeckRS 2002, 30257446) kann der Senat offen lassen.

Ebenso braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob im Einzelfall – etwa zum Ausschluss von Messungenauigkeiten oder bei Verwendung eines nicht standardisierten Messverfahrens – längere Zeiträume oder Messtrecken anzusetzen sind.

Einer Vorlage an den Bundesgerichtshof bedurfte es nicht, da diejenigen obergerichtlichen Entscheidungen, in denen auf eine Messstrecke von bestimmter Länge abgestellt wird, jeweils so gefasst sind, dass eine entsprechende Messstrecke als ausreichend angesehen worden ist. Zu dem eventuellen Erfordernis einer bestimmten Mindestmessstrecke verhalten sie sich demgegenüber nicht.

Oberlandesgericht Hamm, Beschl. v. 9.7.2013 - 1 RBs 78/13

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7 Kommentare

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Wenn jemand dicht hinter dem Betroffenen fährt und der Betroffen innerhalb von drei Sekunden den Abstand zu einem Fahrzeug, das gerade knapp vor ihm einschert, wiederherstellen will, kann der Fahrer hinter dem Betroffenen aber ganz schön verdutzt aus der Wäsche gucken. 

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Daher fordert das OLG Hamm auch nicht, dass man binnen 3sek den Abstand wieder herstellen muss, sondern nur dass man Maßnahmen dazu einleitet.

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Tja. Das ist schon wieder die Schwäche an den Formulierungen:

Es heißt:

"... noch innerhalb einer Dauer der Abstandsunterschreitung von drei Sekunden ohne Dritteinwirkung einerseits das Bewusstsein zu verlangen, dass er handeln und den Sicherheitsabstand vergrößern muss, sowie andererseits auch eine entsprechende Umsetzung abstandsvergrößernder Maßnahmen.

Jedenfalls ist eine länger andauernde Gefährdung des Straßenverkehrs durch eine bußgeldbewehrte und damit in jedem Fall erhebliche Unterschreitung des gebotenen Sicherheitsabstandes nicht hinnehmbar. Fährt der Betroffene trotzdem mit einem unzulässig geringen Abstand weiter hinter einem anderen Fahrzeug her, so kann hier von einem nur vorübergehenden Pflichtenverstoß nicht mehr die Rede sein."

Das liest sich für mich schon so, dass man nicht nur "abstandsvergrößernde Maßnahmen" ergreifen muss, sondern dass der Zustand der Unzulässigkeit auch innerhalb der 3 sec ausgeschaltet werden muss, mal abgesehen davon, dass bei den meisten Auswertungen dieser Abstandsmessungen nicht die eine eventuelle Abstandsveränderung analysiert wird, sondern eben erst mal ein Wert festgestellt wird. 

Mich würde interessieren, ob in dem Fall jemand ein paar fundierte Weg-Zeit-Betrachtungen angestellt hat.

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Da sich die deutsche Richterschaft aus bekennenden Nicht-Rechnern besteht, duerften Weg-Zeit-Betrachtungen nach meinen Erfahrungen nahezu ausgeschlossen sein. Sie sind aber auch nicht notwendig. Vernuenftiger ist die Beachtung der Feststellung, dass der Fahrer in diesem Fall eben gerade nicht hinter jemandem fuhr, der gerade erst eingeschert ist:

"Für die Ahndung eines Abstandsverstoßes ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wie auch der Obergerichte erforderlich, dass die Abstandsunterschreitung nicht nur ganz vorübergehend ist. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es Situationen geben kann, wie z.B. das plötzliche Abbremsen des Vorausfahrenden oder einen abstandsverkürzenden Spurwechsel eines vorausfahrenden Fahrzeugs, die kurzzeitig zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden könnte (OLG Hamm NZV 1994, 120; OLG Koblenz, Beschl. v. 02.05.2002 – 1 Ss 75/02 = BeckRS 2002, 30257446; OLG Koblenz, Beschl. v. 10.07.2007 – 1 Ss 197/07 = BeckRS 2008, 08770; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 4 Rdn. 22).

...

Der Senat hält jedenfalls eine Abstandsunterschreitung für die Dauer von mehr als 3 Sekunden – wie hier – für kein kurzfristiges Versagen des Fahrzeugführers mehr, wenn kurz zuvor erfolgte abstandsverkürzende, vom Betroffenen nicht zu vertretende, Ereignisse (Abbremsen des vorausfahrendes Fahrzeugs, abstandsverkürzender Fahrspurwechsel eines Dritten, auf die der Betroffene noch keine Möglichkeit hatte zu reagieren) – wie hier – ausgeschlossen werden können (in diese Richtung wohl auch: OLG Koblenz a.a.O.)."

Denn dass es im Hinblick auf die zu verteidigende Verkehrssicherheit total kontraproduktiv ist, in diesem Fall die maximale Bremskraft abzurufen, liegt ja auf der Hand. Daduch wuerden nachfolgende Fahrzeuge moeglicherweise sogar in einen Auffahrunfall verwickelt. Das kann das Gericht nicht wollen und will es auch nicht.

Hier wure der Fall beurteilt, dass ein Fahrzeug grundlos ungebremst von hinten aufschloss und dabei den Mindestabstand fuer mindestens drei Sekunden unterschritt. Das sollte doch wohl ohne weiteres zu vermeiden sein.

 

Gruss

 

DrFB

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Gerade weil Weg-Zeit-Berechnungen (inkl. Schrecksekunde) ergeben, dass die notwendigen Fahrmanöver kritisch bis unmöglich sind, verbietet sich eine Auslegung hin zu "binnen 3 sek Sicherheitsabstand wieder herstellen".

Ich lese im Schwerpunkt Bewusstsein erlangen und Maßnahmen umsetzen. Ein Umsetzen ist aber nicht gleichbedeutet mit Erfolgseintritt, schon gar nicht dessen Abschluss.

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Bußgeldbewehrt ist nur fahrlässiges Fehlverhalten. Wenn aber fristgerecht bereits zumutbare Beendigungshandlungen eingeleitet wurden, dann fehlt es mir an eben jener Fahrlässigkeit.

Wenn man Gegenmaßnahmne gegen einen Zustand eingeleitet hat, dann hat man ihn nicht hingenommen.

Und auch bei trotzdem weiter sehe ich ein Merkmal des Unveränderlichen, während das Einleiten von Gegenmaßnahmen auf Veränderung abzielt.

 

Daneben bleibt es eine Einzelfallentscheidung, die gerne von anderen Gerichten aufgegriffen werden darf. Dass dabei ein anderes Gericht die strittigen/unklaren Worte des OLG Hamm lebensfremd auslegt, möchte ich nicht unterstellen.

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