Kehrtwende des BAG zur teilweisen Arbeitsunfähigkeit?

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 15.04.2014

Das Urteil ist auf den ersten Blick ein Sieg für die betroffene Arbeitnehmerin. Aber ein solcher, der teuer erkauft sein könnte:

Mit Urteil vom 9.4.2014 (10 AZR 637/13) hat das BAG entschieden, dass eine Krankenschwester, die aus gesundheitlichen Gründen keine Nachtschichten im Krankenhaus mehr leisten kann, deshalb nicht arbeitsunfähig krank ist. Sie hat vielmehr Anspruch auf Beschäftigung, ohne für Nachtschichten eingeteilt zu werden.

Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus der sog. Vollversorgung mit etwa 2.000 Mitarbeitern. Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 1983 als Krankenschwester im Schichtdienst tätig. Arbeitsvertraglich ist sie im Rahmen begründeter betrieblicher Notwendigkeiten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht- und Schichtarbeit verpflichtet. Nach einer Betriebsvereinbarung ist eine gleichmäßige Planung ua. in Bezug auf die Schichtfolgen der Beschäftigten anzustreben. Das Pflegepersonal bei der Beklagten arbeitet im Schichtdienst mit Nachtschichten von 21.45 Uhr bis 6.15 Uhr. Die Klägerin ist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, Nachtdienste zu leisten, weil sie medikamentös behandelt wird.

Nach einer betriebsärztlichen Untersuchung schickte der Pflegedirektor die Klägerin am 12.6.2012 nach Hause, weil sie wegen ihrer Nachtdienstuntauglichkeit arbeitsunfähig krank sei. Die Klägerin bot demgegenüber ihre Arbeitsleistung - mit Ausnahme von Nachtdiensten - ausdrücklich an. Bis zur Entscheidung des Arbeitsgerichts im November 2012 wurde sie nicht beschäftigt. Sie erhielt zunächst Entgeltfortzahlung und bezog dann Arbeitslosengeld.

Die auf Beschäftigung und Vergütungszahlung für die Zeit der Nichtbeschäftigung gerichtete Klage war beim Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts, ebenso wie in den Vorinstanzen, erfolgreich. Die Klägerin ist weder arbeitsunfähig krank noch ist ihr die Arbeitsleistung unmöglich geworden. Sie kann alle vertraglich geschuldeten Tätigkeiten einer Krankenschwester ausführen. Die Beklagte muss bei der Schichteinteilung auf das gesundheitliche Defizit der Klägerin Rücksicht nehmen. Die Vergütung steht der Klägerin unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu, weil sie die Arbeit ordnungsgemäß angeboten hat und die Beklagte erklärt hatte, sie werde die Leistung nicht annehmen.

Die Entscheidung wirft aus meiner Sicht zwei Probleme auf:

Erstens handelt es sich zwar prozessual um einen Sieg gegen die Arbeitgeberin. In Wahrheit betroffen sind aber die Kolleginnen und Kollegen der Klägerin, die in Zukunft deren Nachtschichten mit übernehmen müssen. Die Arbeitgeberin hat (nur) den organisatorischen Mehraufwand. Das gilt insbesondere dann, wenn künftig mehrere Arbeitnehmer die gesundheitlich belastendere Nacht- oder Wechselschicht nicht mehr ausüben können. Die gesünderen, die das noch können, werden dann entsprechend mehr die unbeliebten Arbeitszeiten übernehmen müssen.

Zweitens bricht das Urteil zumindest der Sache nach mit dem bisherigen Grundsatz, dass es keine Teil-Arbeitsunfähigkeit gibt (etwa BAG, Urt. vom 29.1.1992 - 5 AZR 37/91, NZA 1992, 643). Danach galt: Entweder kann ein Arbeitnehmer die - gesamte - geschuldete Arbeitsleistung erbringen, oder er kann es nicht. Ist er dazu auch nur teilweise aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, ist er - vollständig - arbeitsunfähig i.S. des EFZG. Mit diesem neuen Urteil gibt es jetzt plötzlich eine Teil-Arbeitsfähigkeit, zwar nicht hinsichtlich einzelner Teilaufgaben, aber einzelner Arbeitszeiten. Konsequent müsste dann ein Arbeitnehmer, der eine Vollzeitstelle hat, nach ärztlichem Zeugnis aber maximal vier Stunden täglich arbeiten kann, ebenfalls teil-arbeitsfähig sein.

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12 Kommentare

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Hallo Herr Kollege,

 

dieses Urteil ist dahingehend nicht so ungewöhnlich, denn was spricht dagegen, dass ein Teil der Arbeit durchgeführt werden kann, ein anderer eben nicht. Das entspricht den realen Begebenheiten des Arbeitslebens. Wenn ein Teil des Jobs aus personenbedingten Gründen nicht mehr erledigt werden kann, dann entspricht es dem Grundgedanken des KSchG, dass eine Kündigung nur dann verhältnismäßig ist, wenn eine Änderungskündigung nicht vorrangig auszusprechen gewesen wäre. Ein Arbeitgeber wäre daher beispielsweise verpflichtet,vorrangig eine Änderungskündigung (gegebenenfalls mit reduzierten Stundenanzahl) auszusprechen mit dem Inhalt, dass ein Arbeitsverhältnis angeboten wird, das ausschließlich diejenigen Tätigkeiten umfasst, die der Arbeitnehmer auch ausüben kann.

 

Unter Berücksichtigung dessen geht die Entscheidung auch völlig einher mit unseren arbeitsrechtlichen Grundsätzen und ist ein schönes Zeichen dafür, dass dem Trend, soziale Belange aus dem Arbeitsverhältnis stetig zu verdrängen, auch mal entgegen gearbeitet wird.

 

Ein großes Lob für den 10. Senat des BAG

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Wie Sie dazu kommen, eine laut BAG nicht vorhandene Arbeitsunfähigkeit zu einer "teilweisen" Arbeitsunfähigkeit umzudeuten, würde mich schon interessieren. Die Klägerin war nicht krankgeschrieben (anders als im von Ihnen zitierten 5 AZR 37/91) und kann ihren Beruf Vollzeit ausüben. Nur weil der Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit behauptet, tritt die noch lange nicht ein: ein Betriebsarzt kann die AU nicht feststellen. Sollte ein Arbeitsrechtler eigentlich wissen.

Ebenso fehl geht Ihre Behauptung, Nachtdienste seien "unbeliebt". Das Gegenteil ist der Fall: durch die Zuschläge sind gerade diese Dienste begehrt (siehe hier im Blog). Dass der Arbeitgeber Schwierigkeiten haben soll, die Nachtschichten zu besetzen, geht weit an der Lebenswirklichkeit vorbei. Gut, dass wenigstens die BAG-Richter eine Ahnung vom realen Leben haben.

Und das Direktionsrecht des Arbeitgebers, aufgrund dessen Schichtpläne erstellt werden, unterliegt der Billigkeitskontrolle - wie in allen anderen Betrieben auch. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, bei der Ausübung dieses Rechts die Belange der Mitarbeiter zu berücksichtigen - insbesondere hat er Schichtpläne so zu gestalten, dass die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten nicht gefährdet wird. Insofern hat das BAG hier gar kein juristisches Neuland betreten.

@ Nils Kratzer: Streitgegenstand war keine Kündigung, sondern - neben Annahmeverzugslohn für die Vergangenheit - der Anspruch der Klägerin, nur noch in Tagschicht arbeiten zu müssen.

@ Mein Name: Die Schichtpläne unterliegen der Mitbestimmung des Betriebsrats, § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Wenn in der darauf zustandegekommen Betriebsvereinbarung vereinbart ist, dass "eine gleichmäßige Planung ua. in Bezug auf die Schichtfolgen der Beschäftigten anzustreben" ist (so hier), besteht das Direktionsrecht des Arbeitgebers nur in diesen Grenzen, § 106 Satz 1 GewO.

 

@mein Name:

 

Hinter der "Umdeutung" von Prof. Rolfs steckt m.E.  doch Kalkül. Er möchte wahrscheinlich Urteile zu Lasten der Arbeitgeberseite entsprechend kritisch betrachten, um sich bei der Lobby der Arbeitgeber etwas anzubiedern.

 

Wenn man bedenkt, dass für Dozenten die wirklich lukrativen Fortbildungen vorwiegend von Arbeitgeberseite angeboten werden, dann wäre es ökonomisch betrachtet ein guter Schachzug, wenn dies tatsächlich das tragende Motiv von ihm wäre.

 

Aber gut so ist unsere "Wissenschaft" eben. Es ist eigentlich keine Wissenschaft und gerade im Arbeitsrecht gibt es eben keine Rechtssicherheit.

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@ Herrn Prof. Dr. Rolfs:

Auch eine BV kann nicht § 106 Satz 3 GewO ("Bei der Ausübung des Ermessens hat der Arbeitgeber auch auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen.") außer Kraft setzen, insbesondere wenn eine gleichmäßige Planung laut BV nur anzustreben, aber nicht verpflichtend zu erreichen ist.

Warum Sie die irreführende, um nicht zu sagen sachlich falsche Überschrift dieses Themas nicht abändern, darüber kann man nur spekulieren.

Dass Schichtarbeit möglicherweise bei dem einen oder anderen beliebt ist, weil es Zuschläge zu verdienen gibt, ändert nichts an der Tatsache, dass diese krank macht, siehe z.B. hier
http://www.aerzteblatt.de/archiv/117460/Risikomanagement-am-Arbeitsplatz-Praevention-fuer-Schichtarbeiter

Insoweit hat das BAG mE eine arbeitnehemrfreundliche Entscheidung getroffen, die, wie die Stellungnahme von ver.di dazu zeigt, zukünftig Arbeitgeber dazu zwingen wird, dieses Instrument, so es notwendig ist, mit entsprechender Rücksichtnahme auf weniger Leistungsfähige einzusetzen. Wie sich das in der Praxis umsetzen lässt, wird von Fall zu Fall verschieden sein. Wichtig ist doch erst einmal, dass man einen Arbeitnehmer, der zur Schichtarbeit nicht mehr in der Lage ist, nicht einfach deswegen entlassen kann.

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Es ist eine bemerkenswerte Entscheidung des BAGs in einer Zeit, in der die Rechte von Arbeitnehmern scheinbar immer weitergehend beschnitten worden sind.

 

Sobaldwir beginnen, soziale Gesichtspunkte im Bereich des Arbeitsrechts außer Acht zu lassen, bewegen wir uns auch gesellschaftspolitisch auf ein sehr, sehr dünnes Eis hin.

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Nur als nicht abschließend gemeinte Überlegung:

Im vom BAG entschiedenen Fall ging es um die Lage der Arbeitszeit. Diese wird vom Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechtes festgelegt. Der Arbeitnehmer ist - nur - vertraglich verpflichtet, der konkreten Weisung Folge zu leisten, weil diese Verpflichtung zur Schichtarbeit vertraglich, durch Betriebsvereinbarung oder im Tarifvertrag vorgesehen ist. Dies gilt aber nur in den Grenzen billigen Ermessens. Zwar mag der Arbeitgeber aufgrund einer Betriebsvereinbarung verpflichtet sein, die gleichmäßige Heranziehung aller Beschäftigten anzustreben. Das schließt aber die Berücksichtigung einzelfallbedingter Umstände beim Arbeitnehmer im Rahmen des billigen Ermessens nicht aus. Des Rückgriffs auf "Behinderungen" nach § 106 Satz 3 GewO bedarf es dazu nicht unbedingt.

Bei der - zeitlichen - Teil-Arbeitsunfähigkeit (wie in dem Wiedereingliederungsfall des BAG aus 1992) geht es jedoch darum, dass die von beiden Arbeitsvertragsparteien einseitig nicht zu beeinflussende Dauer der vereinbarten Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen nicht geleistet werden kann: Der Arbeitnehmer muss acht Stunden arbeiten, der Arbeitgeber muss acht Stunden beschäftigen. Das geht nur ganz oder gar nicht. Wann diese acht Stunden zu leisten sind, kann dagegen nach § 106 GewO vom Arbeitgeber festgelegt werden.

Arbeitsunfähigkeit besteht demnach dann, wenn die Arbeit an sich nicht mehr geleistet werden kann. Das bestimmt sich nach dem, was vertraglich als Arbeit festgelegt und von beiden Parteien einzuhalten ist. Das gilt für die vereinbarte Dauer der Arbeitszeit, nicht aber für die Lage der Arbeitszeit.

Dementsprechend sehe ich zumindest bezogen auf die Entscheidung des BAG aus 1992 keine Kehrtwende durch die jetzige Entscheidung. Ob das allerdings für andere Aspekte der Teil-Arbeitsunfähigkeit gilt (insbesondere hinsichtlich des Inhalts der Arbeitsleistung gilt), darüber müsste man noch mal näher nachdenken.

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Ich kann das nur aus der Sicht eines (ehemaligen) Arbeitslosen beschreiben. Damals attestierte mir der Amtsarzt des Arbeitsamtes

 

- keine Nachtschicht

- keine Tätigkeit im Freien

-keine Tätigkeit mit Publikumsverkehr

-keine körperlich mittlere bis schwere Tätigkeit.

 

Arbeitsfähig für Vollzeitarbeit war ich laut Amtsarzt trotz bestehender Schwerbehinderung aber ohne weiteres, wenn man diese Punkte berücksichtigt.

 

Robert Stegmann

 

 

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Wie heißt es so schön: ein Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. In diesem Fall: das Arbeitszeitgesetz, § 6.

(1) Die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer ist nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen.
[...]
(4) Der Arbeitgeber hat den Nachtarbeitnehmer auf dessen Verlangen auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz umzusetzen, wenn

  a)

nach arbeitsmedizinischer Feststellung die weitere Verrichtung von Nachtarbeit den Arbeitnehmer in seiner Gesundheit gefährdet [...]

sofern dem nicht dringende betriebliche Erfordernisse entgegenstehen.

Diese wurden vom Arbeitgeber nicht geltend gemacht (wäre bei der simplen Änderung eines Schichtplans wohl auch aussichtslos).

Die Krankenschwester hat also einen gesetzlichen Anspruch auf die Umstellung ihres Schichtplans auf Tagschichten.

Herr Prof. Rolfs, warum ändern Sie Ihre falsche Überschrift nicht?

@ Mein Name:

Die Überschrift ist nicht falsch. Sie ist - und war von Beginn an - als Frage formuliert. Diese kann man verneinen oder bejahen. Dass Sie sie veneinen, haben Sie hinreichend deutlich gemacht. Und falls es Sie beruhigt: Auch ich glaube nicht, dass der 10. Senat mit diesem Urteil die langjährige (und mit Blick auf § 266 BGB auch sehr gut begründbare) Rechtsprechung zum Alles-oder-Nichts-Prinzip bei der Arbeitsunfähigkeit in Frage stellen wollte.

Aber: Der Beck-Blog ist ein Diskussionsforum. Er dient dazu, rechtsdogmatische und rechtspolitische Fragen zu erörtern. Davon machen Sie selbst ja guten Gebrauch, und ich würde mich freuen, wenn es mehr Leser gäbe, die sich hier ebenso engagiert äußerten wie Sie. Das zitierte Urteil gibt die Gelegenheit, über das Alles-oder-Nichts-Prinzip bei der AU zu diskutieren. Das mag aus Ihrer Sicht rechtspolitisch in die falsche Richtung gehen. Aber ein Diskussionsforum lebt davon, dass nicht alle derselben Meinung sind.

@ Nils Kratzer (#4)
Sie dürfen inhaltlich gerne anderer Meinung sein als ich. Aber persönliche Angriffe haben hier nichts zu suchen und werden in Zukunft gelöscht.

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