Gericht ist nicht "Libero" der StA!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 10.02.2015

Angeklagt ist schnell - das Gericht eröffnet ein Verfahren aber nur dann, wenn es den hinreichenden Tatverdacht ebenso bejaht wie die StA. Wann der aber gegeben ist, kann schon mal unterschiedlich beurteilt werden. Gerade dann, wenn die Akte noch nicht richtig ausermittelt scheint, entstehen Streitigkeiten: Ist trotz der fehlenden Ausermittlung schon vom hinreichenden Tatverdacht auszugehen, oder müssen noch weitere Beweise erhoben werden. Genau in diesem Spannungsfeld spielte nachfolgender Fall, mit dem sich das AG Gummersbach beschäftigt hat. Das AG wollte nicht "Libero" der StA sein und hat das auch so geschrieben:

Der Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens wird aus tatsächlichen Gründen abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

Nach § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat - nämlich der ihm in der Anklage vorgeworfenen - hinreichend verdächtig erscheint, die Verurteilung des Angeschuldigten auf der Grundlage der Anklage mithin wahrscheinlich ist.
Diese Voraussetzung ist indes nicht erfüllt.
Die Anklage wirft dem Angeschuldigten vor, am 24.01.2014 in F. durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung anderer Personen verursacht zu haben (§§ 229, 230 StGB).
Er habe am Tattag gegen 18:30 Uhr mit einem Pkw unter anderem die Bundesautobahn 0 in Richtung I. befahren. Infolge Unachtsamkeit sei er auf das vor ihm abbremsende Fahrzeug des Zeugen L. aufgefahren. Durch die Wucht des Aufpralls sei das Fahrzeug des Zeugen auf das Fahrzeug des Zeugen T. geschoben worden. Dadurch habe der Angeschuldigte einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem die Zeugen L., T. sowie die Zeugen T., E. und T. J. und A. E. leicht verletzt worden seien. Bei Beachtung der im Straßenverkehr notwendigen Sorgfalt habe er den Unfall vermeiden können.
Der Angeschuldigte hat den Tatvorwurf bestritten. Er hat sich dahingehend eingelassen, er habe mit dem von ihm geführten Pkw die A ... mit einer Geschwindigkeit von etwa 160 km/h auf der linken Spur befahren. Es sei wenig Verkehr und die Sicht sei frei gewesen. Er sei mit voller Aufmerksamkeit gefahren, ohne abgelenkt zu werden. Beim Zufahren auf eine Bergkuppe in einer lang gezogenen Rechtskurve habe der Verkehr auf der rechten Fahrspur gestoppt bzw. begonnen sich zu stauen. Er, der Angeschuldigte, habe deshalb begonnen, sein Fahrzeug zu verlangsamen, obwohl die linke Spur frei gewesen sei. In dieser Situation sei plötzlich ein Pkw, nämlich der von dem Zeugen L. gesteuerte Pkw, in einigem Abstand vor dem Angeschuldigten sehr langsam (etwa Schrittgeschwindigkeit) aus dem Stand auf die Spur des Angeschuldigten gefahren. Dies sei erfolgt, ohne einen Blinker zu setzen. Auch sei keine Warnblinkanlage eingeschaltet worden. Als der Angeschuldigte das Ausscheren des Pkw bemerkt habe, habe er sofort eine Vollbremsung vollzogen. Der Bremsweg habe jedoch nicht ausgereicht, um ein Auffahren zu verhindern. So sei es zum Aufprall gekommen. Für den Angeschuldigten sei der beginnende Rückstau auf der rechten Spur aufgrund der örtlichen Verhältnisse erst zu einem sehr späten Zeitpunkt einsehbar gewesen. Er habe sofort mit der Verlangsamung seines Pkw begonnen, um seine Geschwindigkeit an die neue Verkehrssituation anzupassen. Auf die von ihm befahrene Fahrspur - welche aus seiner Perspektive noch frei gewesen sei - sei der Pkw des Zeugen L. plötzlich mit extrem langsamer Geschwindigkeit gezogen. Er, der Angeschuldigte, habe sofort mit einer Vollbremsung begonnen.
Nach dem Ergebnis des vorbereitenden Verfahrens erscheint der Angeschuldigte einer Straftat nicht hinreichend verdächtig. Dabei kann dahinstehen, dass der von der Staatsanwaltschaft angenommene Sorgfaltspflichtverstoß in der Anklageschrift nicht näher konkretisiert ist (In der Anklageschrift heißt es, der Angeschuldigte sei unachtsam gewesen. In der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 24.09.2014 heißt es, der Angeschuldigte sei mit nicht angepasster Geschwindigkeit gefahren.). Denn der Sachverhalt ist nicht ausermittelt. Nach derzeitigem Stand der Ermittlungen ist die Einlassung des Angeschuldigten, der Zeuge L. habe einen plötzlichen, für den Angeschuldigten überraschenden, Spurwechsel bei sehr langsamer Geschwindigkeit vorgenommen, aufgrund dessen der dem Angeschuldigten zur Verfügung stehende Bremsweg derart verkürzt worden sei, dass dieser trotz unmittelbar eingeleiteter Vollbremsung die Kollision der Fahrzeuge nicht habe vermeiden können, nicht widerlegbar. Soweit die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 24.09.2014 darauf verweist, der vom Angeschuldigten behauptete plötzliche Spurwechsel werde von keinem Zeugen bestätigt, ist zu bemerken, dass ein Spurwechsel des Zeugen L. sowohl von diesem selbst (Bl. 00 der Akte) als auch von dem Zeugen E. J. (Bl. 00 der Akte) bestätigt wurde. Zutreffend ist insoweit, dass die beiden Zeugen keinen plötzlichen Spurwechsel geschildert haben, der für den Angeschuldigten überraschend gewesen sein könnte. Vor dem Hintergrund, dass die Zeugen nicht polizeilich vernommen worden sind sondern sich lediglich schriftlich über Äußerungsbögen geäußert haben, wäre indessen eine Nachvernehmung dieser Zeugen sowie der weiteren Zeugen T. J. und T. J. zu der Einlassung des Angeklagten erforderlich gewesen, insbesondere zu den Fragen, wie weit der Zeuge L. nach hinten auf die linke Spur blicken konnte, als er den Spurwechsel vollzogen hat, wie kurz vor der Kollision der Spurwechsel erfolgt ist und mit welcher Geschwindigkeit dieser erfolgte.. Die Staatsanwaltschaft hat nach Hinweis des Gerichts auf die bestehenden Bedenken und den nicht ausermittelten Sachverhalt (Bl. 00 der Akte) von den erforderlichen Nachvernehmungen abgesehen. Hiernach war die Eröffnung des Hauptverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts nach Aktenlage abzulehnen.
Es bestand für das erkennende Gericht auch keine Rechtspflicht nach § 202 StPO, durch eigene (umfangreiche) Ermittlungen im Zwischenverfahren die Grundlage für den hinreichenden Tatverdacht erst noch zu schaffen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes stehen Ermittlungen im Zwischenverfahren im Ermessen des Gerichts. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den in § 202 StPO benannten Beweiserhebungen um solche zur einzelnen Ergänzung oder Überprüfung eines im Ermittlungsverfahren grundsätzlich bereits aufgeklärten Sachverhalts handelt. Für Ermittlungen nach § STPO § 202 StPO ist dann kein Raum, wenn erst durch eine Ermittlungsanordnung des Gerichts ein hinreichender Tatverdacht geschaffen werden muss (vgl. LG Köln - Beschluss vom 16. November 2011- 110 Qs 19/11).
Das Gericht ist nämlich nicht der „Libero der Anklagebehörde“ (KK-Schneider, 7. Aufl. 2013, § 202 StPO Rn. 3; LG Köln - 111 Qs 497/09).
Im Zwischenverfahren kommen eingedenk der strukturellen Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht nur einzelne ergänzende richterlich veranlasste Beweiserhebungen in Betracht. Ermittlungen größeren Umfangs zur Komplettierung des von der Staatsanwaltschaft unzulänglich belegten Anklagevorwurfs sind gesetzlich nicht vorgesehen (KK-Schneider, 7. Aufl. 2013, § 202 StPO Rn. 2; OLG Karlsruhe wistra 2004,  276, 279; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2009, 88; OLG Celle StV 2012, STV Jahr 2012 Seite 456, STV Jahr 2012 457; LG Berlin NStZ 2003, 504 mit Anm. Lilie NStZ 2003,  568; Meyer-Goßner, § 202 Rn. 1; Stuckenberg LR Rn. 3; Radtke/Hohmann/Reinhart Rn. 1; Eisenberg JZ 2011, 672; Beulke Rn. 355). Gleichermaßen unstatthaft sind umfangreiche Beweisaufnahmen wie etwa die Vernehmung zentraler Zeugen zur Vorabklärung der Belastbarkeit ihrer Angaben; hierin läge ein von Rechts wegen nicht vorgesehener Vorgriff auf die Hauptverhandlung (Paeffgen SK StPO Rn. 3; Stuckenberg LR Rn. 2).

AG Gummersbach, Beschluss vom 15.10.2014 - 81 Ds-922 Js 2198/14-326/14 = BeckRS 2015, 00601

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