Kollonnenüberholer gegen Linksabbieger: hälftige Haftung

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 24.03.2015
Rechtsgebiete: OLG KölnVerkehrsrecht|2953 Aufrufe

Mal wieder Zivilrecht. Fahrzeugkollonne - einer überholt. Aus der Kollonne biegt ein Fahrzeug nach links ab, um in ein Tankstellengrundstück einzubiegen. Beide Fahrzeuge kollidieren. Jeder haftet zu 50 % - so sieht es jedenfalls das OLG Köln:

I. Der Senat weist darauf hin, dass die Berufung des Klägers Erfolg haben dürfte; die Anschlussberufung der Beklagten hingegen nicht.   Die vom Landgericht ausgeworfene Haftungsquote von 70% zu 30% zulasten des Klägers ist nicht angemessen. Unter Berücksichtigung der festgestellten Tatsachen kommt jedenfalls keine höhere, als die mit der Berufung vom Kläger noch verfolgte Haftungsquote von 50% in Betracht.   1. Der Beklagte zu 1. hat gegen § 9 Abs. 3 und Abs. 5 StVO verstoßen, da er ohne Beachtung der Vorfahrt des Klägers nach links in das Tankstellengelände abgebogen ist. Vor allem ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO wiegt wegen der besonderen Sorgfaltsanforderungen (Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer muss ausgeschlossen sein) grundsätzlich schwer, was im Regelfall zu einer deutlich überwiegenden Haftung, wenn nicht gar zu einer Alleinhaftung des Abbiegenden führt. In diesem Zusammenhang kommt es letztlich auch nicht auf die zwischen den Parteien streitige Frage an, ob der Beklagte zu 1. mit seinem Fahrzeug tatsächlich den Fahrweg des Klägers kreuzte oder bereits vorher zum Stehen kam. Denn aufgrund des im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang erfolgten Sturzes des Klägers spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass das Fahrverhalten des Beklagten zu 1. unfallursächlich war. Der Ursachenzusammenhang setzt auch nicht unbedingt voraus, dass es zu einer Fahrzeugberührung kommt. Ein Schaden ist nämlich bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs im Sinne des § 7 StVG entstanden, wenn sich die von einem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben. Eine Fahrzeugberührung ist dafür nicht zwingend notwendig (vgl. BGH, NJW 2005, 2081). Es genügt vielmehr für einen Ursachenzusammenhang, dass ein Fahrmanöver im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang die Reaktion eines anderen Verkehrsteilnehmers auslöst (vgl. OLG Schleswig. BeckRS 2010, 12305; OLG Düsseldorf, NZV 2006, 415). Auf die vom Landgericht bemühte Argumentation, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Beklagtenfahrzeug, welches sich in Vorwärtsbewegung befunden habe, durch das Bremsmanöver des Beklagten zu 1. im Moment der Bremsung für kurze Zeit ein Stück über die Flucht gehaltenen Fahrzeuge hinausgeragt habe und dann wieder ein Stück zurück gerollt sei, kommt es deshalb nicht an. Demgegenüber hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass der Sturz (alleinig) auf eine nicht unfallkausale Überreaktion Klägers (Bremsfehler) zurückzuführen ist. 42. Das Landgericht hat aber richtig erkannt, dass auch dem Kläger ein Sorgfaltspflichtverstoß anzulasten ist. Es handelt sich vorliegend um einen so genannten „Lückenfall“. Nach der Lückenrechtsprechung muss ein Verkehrsteilnehmer, der bei dichtem Verkehr eine Kolonne stehender Fahrzeuge überholt, sich unter Umständen auf Querverkehr (Linksabbieger) aus freigelassenen und für ihn erkennbaren größeren Lücken einrichten. Er muss es insbesondere Verkehrsteilnehmern im Querverkehr ermöglichen, aus der freigehaltenen Lücke heraus bis zur Erlangung freier Sicht auf den vor der haltenden Kolonne nicht besetzten Straßenraum herauszufahren. Dazu muss er entweder in ausreichendem Sicherheitsabstand an der Kolonne vorbeifahren oder eine so geringe Geschwindigkeit einhalten, dass er notfalls vor einem aus der Lücke herausfahrenden Verkehrsteilnehmer anhalten kann. Diese Pflicht wird aus § 1 Abs. 2 StVO hergeleitet.   Entgegen der Auffassung des KG (vgl. NZV 2007, 524; NZV 2003, 182) ist die „Lückenrechtsprechung“ beim Abbiegen in eine Grundstückseinfahrt jedenfalls nicht per se ausgeschlossen. Es ist zwar richtig, dass insbesondere im Großstadtverkehr nicht auf jede beliebige Grundstückseinfahrt geachtet werden und dem grundsätzlich Vorfahrtberechtigten deshalb auch nicht zugemutet werden kann, stets besonders aufmerksam auf etwaige Lücken zu achten. Dies ist aber anders zu beurteilen, wenn besonders signifikante Grundstückseinfahrten vorhanden sind, wie dies eben auf Tankstellen zutrifft. Gerade an solchen Stellen ist nach der Verkehrspraxis bei Rückstau mit einer Lückenbildung und infolgedessen auch einem Durchfahren solcher Lücken durch den abbiegenden Gegenverkehr zu rechnen. Deshalb kann jedenfalls bei Tankstellen die „Lückenrechtsprechung“ sehr wohl Anwendung finden (vgl. OLG Hamm, NZV 1992, 238; OLG Frankfurt, BeckRS 2005, 30365702; BayObLG, DAR 1971, 221; OLG Karlsruhe, NZV 1989, 473; a. A. im Anwendungsbereich des § 10 StVO auch: LG Saarbrücken , NZV 2013, 494; einen Überblick gibt Hagspiel, NZV 2013, 115).   3. Gleichwohl bleibt in einem solchen Fall zu beachten, dass eine Verletzung von § 1 Abs. 2 StVO ohne Hinzutreten weiterer Umstände jedenfalls nicht zu einer überwiegenden Haftung des Vorfahrtsberechtigten führen kann. Das Landgericht hat ausgeführt, dass aufgrund der Aussage der Zeugin C davon auszugehen sei, dass der Kläger in Anbetracht der örtlichen Gegebenheiten zu schnell gefahren sei. Man kann mit der Berufung zwar durchaus bezweifeln, ob allein durch Angaben von Zeugen die Überschreitung einer bestimmten Höchstgeschwindigkeit nachweisbar ist (vgl. dazu KG, NZV 2007, 524). Allerdings können Angaben von Zeugen durchaus einen tragfähigen Rückschluss dazu ermöglichen, ob ein von ihm wahrgenommenes Tempo den Umständen der Verkehrslage angepasst war oder nicht. Dies hat nämlich nichts damit zu tun, ob eine vor Ort geltende Höchstgeschwindigkeit eingehalten worden ist, was im Regelfall nicht durch Zeugenbeweis nachgewiesen werden kann. Eine andere Frage ist es aber - wie immer im Einzelfall -, ob die jeweilige Zeugenaussage inhaltlich für eine Überzeugungsbildung ausreichend ist. Dies kann man mit der Berufung hier durchaus in Frage stellen. Hierauf kommt es aber im Ergebnis nicht an. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass der Kläger schneller als 10 km/h gefahren ist, würde eine nicht angepasste Geschwindigkeit den erheblichen Sorgfaltspflichtverstoß des Beklagten zu 1. nach § 9 Abs. 5 StVO und die hierdurch erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges mangels anderweitiger Umstände keinesfalls überwiegen (vgl. auch LG Berlin, NJW-RR 2003, 678: ¼ zu ¾ zulasten des Abbiegenden).   4. Da die Parteien im Übrigen die Berechnungen des Landgerichts hinnehmen, regt der Senat an, dass sie sich auf der Basis einer hälftigen Schadensteilung entsprechend des Berufungsantrages mit einer dem jeweiligen Unterliegen folgenden Kostenquote einigen. Ein entsprechender Vergleich könnte im Beschlussweg nach § 278 Abs. 6 ZPO festgestellt werden.   II Der Antrag der Beklagten im Schriftsatz vom 10.03.2014, das angefochtene Urteil gemäß § 537 Abs. 1 ZPO für unbedingt vorläufig vollstreckbar zu erklären, soweit es mit der Berufung des Klägers nicht angefochten wurde, ist unstatthaft.   Aus dem Urteil erster Instanz könnten die Beklagten lediglich 86% ihrer Kosten vollstrecken. Es ist umstritten, ob § 537 ZPO auch auf die erstinstanzliche Kostenverurteilung angewendet werden kann. Dies ist nach der Rechtsprechung des Senates (vgl. Beschl. vom 23.01.2014 - 19 U 149/13) zu verneinen, weil hierüber von Amts wegen zu entscheiden ist und sich das Verfahren für eine fiktive Quotenberechnung nicht eignet (vgl. auch BeckOK/Wulf, ZPO, Stand: 15.06.2014, § 537 Rn. 6 m. w. N; OLG Braunschweig, MDR 2006, 1185). Aber selbst wenn man das anders sehen wollte, käme eine Anwendung seinem Sinn entsprechend nur dann in Betracht, wenn die auszuwerfende anteilige Quote eindeutig bestimmt werden kann und die Möglichkeit späterer Korrektur ausgeschlossen, die fiktive Quote also von der Sachentscheidung des Berufungsgerichts unabhängig ist. Dies ist aber nicht der Fall, wenn - wie hier - erstinstanzlich eine gemischte Kostenentscheidung nach § 92 ZPO getroffen worden ist (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 30. Auflage 2014, § 537 Rn. 6). Hier kommt noch hinzu, dass eine fiktive Quote auch aufgrund der Anschlussberufung der Beklagten nicht gebildet werden kann, ohne dass dies Einfluss auf die Sachentscheidung des Senates haben könnte. Der Senat regt deshalb eine Rücknahme des Antrages an.     OLG Köln, Hinweisbeschluss vom 19.08.2014 - 19 U 30/14

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