LG Stuttgart: Türöffnen in den vorbeifahrenden fließenden Verkehr hinein = Alleinhaftung

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 26.05.2015

Ein Klassiker des Verkehrsunfallrechts: Der Kläger öffnet die Tür in den nahe an seinem Fahrzeug entlangfahrenden Verkehr hinein. Es knallt! Kläger will nun Schadensersatz. Das LG Stuttgart meint: Nein, gibt es nicht!

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Esslingen vom 04.11.2014, Az. 7 C 712/14, a b g e ä n d e r t: Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen trägt der Kläger.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Berufungsstreitwert: 739,73 EUR.

Gründe

I.
Der Kläger macht Ansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.
Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Unfall durch ein erhebliches Verschulden der Fahrerin des am rechten Fahrbahnrand parkenden klägerischen Fahrzeugs (Türöffnen in den Verkehrsraum) verursacht wurde, dass den Beklagten Ziff.1 kein Verschulden (nicht zu schnell, ausreichender Abstand) trifft, dass die Beklagten aber eine 20%-ige Betriebsgefahr tragen müssen, welche auch hinter dem erheblichen Verschulden nicht zurücktritt. Gegen dieses Urteil haben die Beklagten Berufung eingelegt - die teilweise Abweisung der Klage ist rechtskräftig -, mit welcher sie weiterhin eine vollständige Klagabweisung anstreben.
Wegen der Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils gem. § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen. Auf die Darstellung des Berufungsvorbringens wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a, 542, 544 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO verzichtet.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und mit einer Begründung versehene Berufung der Beklagten hat Erfolg, sie führt zu einer vollständigen Klagabweisung.

1) Soweit das Amtsgericht feststellt, dass die Klägerseite ein erhebliches Verschulden trifft, die Beklagtenseite dagegen kein Verschulden, ist das Urteil des Amtsgerichts nicht angefochten und daher der Entscheidung der Berufungskammer zugrunde zu legen.

Zutreffend hat das Amtsgericht auch festgestellt, dass die Beklagten den Unabwendbarkeitsbeweis nicht führen konnten. Zu dieser Auffassung ist das Amtsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Vernehmung von Zeugen aufgrund freier Überzeugungsbildung gem. § 286 ZPO rechtsfehlerfrei gelangt. Das Berufungsgericht ist gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit begründen. Solche Anhaltspunkte ergeben sich weder aus der Akte noch aus der Berufungsbegründung. Das Amtsgericht hat die Tatsachen insoweit weder verfahrensfehlerhaft festgestellt noch verstößt die Würdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, gerichts- oder allgemein bekannte Tatsachen. Vielmehr erscheint es auch der Berufungskammer angesichts der Ausführungen des Sachverständigen naheliegend und richtig, dass die Unabwendbarkeit nicht feststeht. Letztlich kommt es darauf aber nicht an.
72) Die Kammer folgt nämlich nicht der Rechtsansicht des Amtsgerichts, dass die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs neben dem erheblichen Verschulden auf Klägerseite bestehen bleibe; jene tritt hier zurück.

a) Nach § 17 Abs. 1 StVG hängt bei einer Schadensverursachung durch mehrere Kraftfahrzeuge die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Fahrzeug verursacht worden ist. Diese Abwägung ergibt hier, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs den Unfall so überwiegend fahrlässig verursacht hat, dass im Verhältnis dazu die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Beklagten Ziff.1 kein anspruchsminderndes Eigengewicht hat.

Nicht nur nach der ständigen Kammerrechtsprechung, sondern auch nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs tritt die einfache Betriebsgefahr regelmäßig hinter einem erheblichen Verschulden der Gegenseite zurück (vgl. BGH Urteil vom 27.05.2014 - VI ZR 279/13). Gerade bei dem plötzlichen Öffnen der Fahrertür eines parkenden Pkws unter Verstoß gegen § 14 StVO ist nach ganz herrschender Ansicht, welcher die Kammer folgt, von einem solchen schweren Verschulden auszugehen, weil das Fließen des Verkehrs nur dann gewährleistet ist, wenn sich die mit angemessener Geschwindigkeit und regelgerechtem Abstand Vorbeifahrenden darauf verlassen können, dass nicht unerwartet eine Fahrzeugtür in den Fahrbereich hinein geöffnet wird (vgl. beispielhaft LG Saarbrücken Beschluss vom 28.01.2010 - 13 S 228/09; KG Beschluss vom 06.03.2008 - 12 U 59/07; LG Limburg Urteil vom 09.10.2009 - 4 O 341/08; OLG Hamburg Beschluss vom 11.06.2004 - 14 U 35/04; OLG Stuttgart Urteil vom 07. 04.2010 - 3 U 216/09).
10b) Im vorliegenden Fall liegt auch keine erhöhte Betriebsgefahr vor, welche ausnahmsweise nicht zurücktreten würde. Darauf, dass an der Unfallstelle regelmäßig und auch zum Unfallzeitpunkt starker Parksuchverkehr geherrscht habe, kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Denn aus diesem Vortrag würde sich auch dann, wenn er unstreitig wäre, weder ein vermindertes Verschulden der Klägerseite noch eine erhöhte Betriebsgefahr auf der Beklagtenseite ergeben. Auch bei regem Parksuchverkehr muss ein Aussteigender mit großer Vorsicht vorgehen und ein Fahrender darf sich darauf verlassen, dass nicht unvermittelt eine Türe geöffnet wird.

Dass der Beklagte Ziff.1 anhand eines aufleuchtenden Innen- oder Kontrolllichts an der Tür des Pkws des Klägers die Absicht der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs vorab hätte erkennen können, hat das Amtsgericht gerade nicht festgestellt, weswegen auch insoweit die Betriebsgefahr nicht erhöht ist. Und schließlich führte auch der Umstand - wenn er denn tatsächlich so gegeben gewesen wäre -, dass sich die Beifahrerin auf dem Gehweg neben dem klägerischen Fahrzeug befand, nicht zu einem anderen Ergebnis. Zum einen steht schon gar nicht fest, ob der Beklagte diese Beifahrerin in der herrschenden Dunkelheit sehen konnte und gesehen hat. Zum anderen ist die Berufungskammer der Ansicht, dass Personen auf dem Gehweg vorbeifahrenden Fahrzeugen keinen Anlass geben, einen größeren Abstand als 0,5 m zu parkenden Fahrzeugen einzuhalten oder besonders langsam (deutlich unter 30 km/h) zu fahren. Personen auf dem Gehweg sind ein ständiges und keineswegs zu besonderer Vorsicht Anlass gebendes Phänomen. Eine Vermutung, dass Personen auf dem Gehweg bedeuten, dass demnächst jemand aus dem Fahrzeug steigen werde, neben dem sie sich befinden, gibt es nicht.

LG Stuttgart, Urteil vom 22.04.2015 - 13 S 172/14

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3 Kommentare

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An einer Stelle kann die Entscheidung nicht überzeugen. Soweit nämlich das LG Stuttgart formuliert, es sei deshalb von

"schweren Verschulden auszugehen, weil das Fließen des Verkehrs nur dann gewährleistet ist, wenn sich die mit angemessener Geschwindigkeit und regelgerechtem Abstand Vorbeifahrenden darauf verlassen können, dass nicht unerwartet eine Fahrzeugtür in den Fahrbereich hinein geöffnet wird"

verkennt es den Verschuldensbegriff. Bildet man nach der Anregung des Tübinger Methodenlehrers Fritjof Haft Extremfälle, sieht man, ob das Argument im Normalfall richtig war. Bilden wir also einen Extremfall:

Das Fahrzeug steht am Straßenrand, der Fahrer - der Fall spielt in Stuttgart - verzehrt am Steuer sitzend eine Maultausche. Der Fahrer verschluckt sich, bekommt keine Luft mehr, ist am Ersticken, und die paroxystischen Zuckungen und Spasmen, die sein Körper vollführt, bewirken, dass sich hierbei die Fahrtür öffnet. Nach der Argumentation des LG Stuttgart wäre auch hier von "schweren Verschulden auszugehen, weil das Fließen des Verkehrs nur dann gewährleistet ist, wenn sich die mit angemessener Geschwindigkeit und regelgerechtem Abstand Vorbeifahrenden darauf verlassen können, dass nicht unerwartet eine Fahrzeugtür in den Fahrbereich hinein geöffnet wird"

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Mit Maultaschen bitte nur argumentieren wenn man weiß, wie sie gegessen werden.

Mein Name schrieb:
Mit Maultaschen bitte nur argumentieren wenn man weiß, wie sie gegessen werden.

 

Dieser Kritik liegt die laienhafte Verwechslung des Autors eines Texts mit dem Gegenstand der textlichen Darstellung zugrunde.

 

Der Betreffende in meinem Beispiel (nicht ich als Verfasser) wusste nicht, wie sie gegessen werden, weshalb die von mir geschilderten fatalen - wenngleich fiktiven - Folgen eintraten.

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