Basiswissen: Beweiswürdigung bei Freispruch; kein "Aussage-gegen-Aussage" bei Körperverletzung mit Verletzungsfolgen durch Dritte

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 14.10.2015
Rechtsgebiete: OrdnungswidrigkeitenBGHStrafrechtVerkehrsrecht2|4697 Aufrufe

Mal wieder eine schöne prozessuale Situation: Was muss der Tatrichter eigentlich im Freispruchsurteil schreiben? Und: Wo sind die Grenzen so genannter "Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen"?

Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil sich die
ihm zugrundeliegende Beweiswürdigung als nicht tragfähig erweist.

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner
Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht
in der Regel hinzunehmen. Seiner Beurteilung unterliegt nur, ob dem Tatrichter
bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher
Hinsicht etwa der Fall, wenn der Tatrichter die von ihm festgestellten
Tatsachen nicht unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten
gewürdigt hat oder über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung
hinweggegangen ist (BGH, Urteil vom 29. September 1998 - 1 StR 416/98,
NStZ 1999, 153). Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt es demnach
auch, ob überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche
Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 18. Januar
2011 - 1 StR 600/10, NStZ 2011, 302, 303 und vom 10. August 2011 - 1 StR
114/11, NStZ 2012, 110, 111).

Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer theoretischen Möglichkeit gründen (Senat, Urteil vom 1. September 1993 - 2 StR 361/93, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 22; BGH, Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, NStZ-RR 2002, 243). Es ist daher rechtsfehlerhaft, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist, ohne dass
konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen könnten. Alternative, für den Angeklagten günstige Geschehensabläufe sind erst dann bedeutsam, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte erbracht sind und sie deshalb nach den gesamten Umständen als möglich in Betracht kommen (vgl. Senat, Beschluss vom 8. September 1989 - 2 StR 392/89, BGHR StGB § 213 Beweiswürdigung 1; BGH, Urteil vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR
2005, 147).

2. Hieran gemessen unterliegt die Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht
durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Bereits im Ausgangspunkt seiner Beweiswürdigung hat das Landgericht einen unzutreffenden Maßstab zugrunde gelegt. Von einer typischen Aussage-gegen-Aussage-Konstellationbei der ein seine Schuld im Kern bestreitender
Angeklagter allein durch die Aussage eines einzelnen Zeugen belastet wird und objektive Beweisumstände fehlen (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 18. Juni 1997 - 2 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14; BGH, Urteil
vom 24. April 2003 - 3 StR 181/02, NStZ 2003, 498, 499), ist angesichts hier festgestellter objektiver Beweismittel nicht auszugehen.
Durch objektive Beweismittel ist etwa die Feststellung abgesichert, dass die multiplen Prellungen
im Gesicht, am Brustkorb und den oberen Extremitäten des Geschädigten sowie die Lungenquetschung, die der Geschädigte am Morgen des 21. August 2013 aufwies, nur durch Dritte zugefügt worden sein konnten; zudem wurden in
dem Badezimmer der von den vier Angeklagten zur Tatzeit genutzten Wohnung in K. -N. zahlreiche Blutspuren des Geschädigten sowie vier durchtrennte Kabelbinder aufgefunden, was auf die Amputation des Fingers im Badezimmer
schließen lässt.

b) Das Urteil lässt zudem nicht erkennen, dass die Strafkammer alle Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten der Angeklagten zu beeinflussen, in seine Überlegungen einbezogen und dabei
nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt hat (zu diesen Erfordernissen etwa BGH, Urteil vom 21. Mai 2015 - 4 StR 577/14, juris Rn. 15 mwN). Die Strafkammer hat schon den Blick fehlerhaft
dahin verengt, die Aussage des Geschädigten den Feststellungen "nur insoweit zugrundezulegen, als diese durch objektive Umstände außerhalb der Aussage selbst gestützt werden" (UA S. 30 f.). Einzelne, nahezu nur die Aussagekonstanz
betreffende Indizien, die für und gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage des Geschädigten sprechen, werden zwar schematisch benannt und gewürdigt, jedoch ohne sie erkennbar mit allen anderen Umständen gesamtwürdigend
zu gewichten

BGH, Urteil vom 29.4.2015 - 2 StR 14/15

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