Urteilsbesprechung "für lau": Bremsen bei grüner Ampel ohne zwingenden Grund

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 18.01.2016
Rechtsgebiete: AnscheinsbeweisVerkehrsrecht1|2853 Aufrufe

Mal wieder ein Hinweis auf Beck-Aktuell. Dort findet sich eine interessante verkehrsrechtliche Entscheidungsbesprechung aus dem zivilrechtlichen Bereich. Es geht um den Anscheinsbeweis, der ja in Fällen eines Auffahrunfalls für denjenigen streitet, dem aufgefahren wird.

LG Saarbrücken: Bremsen bei grüner Ampel ohne zwingenden Grund erschüttert Anscheinsbeweis gegen Auffahrenden
StVO § 4 I 2; StVG §§ 7, 17 I; VVG § 115

Der bevorrechtigte Fahrzeugführer ist gehalten, die Grünphase einer Ampel auszunutzen, um einen ungehinderten Verkehrsfluss zu gewährleisten. Bremst er während der Grünphase ohne zwingenden Grund vor dem Kreuzungsbereich stark ab und fährt das nachfolgende Fahrzeug auf, ist der gegenüber dem Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis erschüttert.

LG Saarbrücken, Urteil vom 20.11.2015 - 13 S 67/15 (AG Homburg), BeckRS 2015, 20007

Hier der Link zur Besprechung.

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Den Lesern möchte ich ein aufrichtiges "Sorry" zurufen! Als ich vor zwei oder drei Tagen den Beitrag verfasst habe, war der Inhalt in Beck-Aktuell noch kostenfrei online. Das ist aber stets nur für eine begrenzte Zeit der Fall. Heute ist die Besprechung nicht mehr da. Daher habe ich hier einmal die Entscheidung selbst in wesentlichen Teilen im Volltext eingefügt:

 

 

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Homburg vom 30.03.2015 - 16 C 195/14 (13) - abgeändert und die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 2.880,37 € sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von 366,38 € jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.04.2014 zu zahlen. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 28.11.2013 in ... ereignet hat.
Die Klägerin und die Erstbeklagte standen mit ihren Fahrzeugen hintereinander in einer Reihe von insgesamt vier Fahrzeugen vor einer roten Ampel in der ... Straße im Kreuzungsbereich zur ... Straße. Die Erstbeklagte hielt an dritter Stelle, die Klägerin an vierter Stelle. Nachdem die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte, fuhren die Fahrzeuge los. Nachdem die ersten beiden Fahrzeuge bereits in die ampelgeregelte Kreuzung eingefahren waren, bremste die Erstbeklagte ihr Fahrzeug noch vor dem Kreuzungsbereich ab, weil sie von rechts kommend die Zeugin ... mit ihrem Fahrrad auf dem dortigen Fuß- und Radweg sah und die Befürchtung hatte, die Zeugin ... würde die Straße queren. Die Klägerin fuhr auf das Beklagtenfahrzeug auf.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin den ihr entstandenen Schaden in Höhe von 4.320,55 € unter Anerkennung einer eigenen Mithaftungsquote von 1/3, mithin 2.880,37 €, sowie vorgerichtliche Anwaltskosten jeweils nebst Zinsen geltend gemacht. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Erstbeklagte habe ihr Fahrzeug aus der Beschleunigung abrupt bis zum Stillstand abgebremst, obwohl die Zeugin ... keinerlei Anstalten gemacht habe, mit ihrem Fahrrad trotz auf Rot geschalteter Fußgängerampel auf die Fahrbahn zu fahren.
Die Beklagten sind der Klage entgegen getreten und haben behauptet, die Erstbeklagte habe abgebremst, weil an der Fahrweise der Zeugin ... nicht zu erkennen gewesen sei, ob diese an der dortigen Fußgängerampel anhalten werde. Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, die Klägerin treffe die Alleinhaftung, weil der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden spreche.
Das Erstgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme auf der Grundlage einer Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zulasten der Klägerin stattgegeben. Zur Begründung hat der Erstrichter, auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, ausgeführt, die Erstbeklagte habe zwar grundlos stark gebremst. Die Klägerin treffe aber ein schwereres Verschulden, weil sie unaufmerksam gewesen sei und/oder keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten habe, obwohl sie sich in ständiger Bremsbereitschaft hätte halten müssen.
Mit ihrer Berufung verfolgen die Parteien ihre ursprünglichen Klageanträge im Umfang ihres jeweiligen Unterliegens weiter. Sie vertiefen hierzu ihr erstinstanzliches Vorbringen.
II.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
1. Zu Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch die Klägerin grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i. V. m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies wird in der Berufung auch nicht in Zweifel gezogen.
2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG ist der Erstrichter davon ausgegangen, dass die Erstbeklagte gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO verstoßen habe. Auch dies ist zutreffend.
a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO darf der Vorausfahrende nicht ohne zwingenden Grund stark abbremsen. Voraussetzung ist danach zum einen, dass der Vorausfahrende deutlich über das Maß eines normalen Bremsvorgangs hinaus gebremst hat (vgl. KG, VersR 2002, 1571; OLG München, Urteil vom 22.02.2008 - 10 U 4455/07, juris; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 4 StVO Rn. 11). Zum anderen muss nachgewiesen sein, dass kein zwingender Grund für ein entsprechendes Bremsmanöver vorlag. Ein zwingender Grund setzt dabei eine plötzlich drohende ernste Gefahr für Rechtsgüter und Interessen voraus, die dem Schutzobjekt der Vorschrift (Sachen und Personen) mindestens gleichwertig sind (vgl. OLG Karlsruhe, VersR 1988, 138; Saarl. OLG, Zfs 2003, 118; OLG München, Urteil vom 22.02.2008 - 10 U 4455/07, jeweils m. w. N.).
b) Dass die Erstbeklagte im Streitfall deutlich über das Maß eines normalen Bremsvorgangs hinaus gebremst hat, hat das Erstgericht zutreffend feststellt. Dies wird auch von den Beklagten nicht in Abrede gestellt. Entgegen der Auffassung der Beklagten lag auch kein zwingender Grund für ein starkes Abbremsen vor. Denn von der Zeugin ... ging - wie der Erstrichter ebenfalls zutreffend festgestellt hat - keine plötzliche Gefahr aus, die ein starkes Abbremsen rechtfertigte.
Nach der Darstellung der Zeugin ... der das Erstgericht gefolgt ist und deren Glaubhaftigkeit von der Berufung ebenso wenig in Zweifel gezogen wird wie die Glaubwürdigkeit der Zeugin, hatte sich die Zeugin mit ihrem Rad dem Fußgänger-/Radübergang nur langsam genähert und war gerade dabei, auf dem Bürgersteig anzuhalten, als die Erstbeklagte stark abbremste. Auch wenn die Erstbeklagte in dieser Situation befürchtete, die Zeugin ... könnte direkt vor ihr auf die Fahrbahn fahren, lag bei objektiver Betrachtung kein zwingender Grund für ein starkes Abbremsen vor. Dies folgt insbesondere daraus, dass es sich hier um eine Kreuzung handelt, die insgesamt, also auch für den dortigen Fußgänger- und Radverkehr, durch Lichtzeichen geregelt ist. In einem solchen Fall hat der durch Grün bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer allein aufgrund einer Annäherung eines anderen, wartepflichtigen Verkehrsteilnehmers an die Kreuzung keine Veranlassung zu einem starken Bremsen. Denn die Regelung des Kraftfahrzeug-, Fußgänger- und Radverkehrs durch eine Lichtzeichenanlage ist gerade dazu bestimmt, die Verkehrsverhältnisse zu ordnen und den Fahrzeugverkehr vom Fußgänger- und Radverkehr sicher auseinander zu halten (vgl. hierzu OLG Frankfurt, VersR 2006, 668; Hentschel a. a. O. § 37 StVO Rn. 15 f. m. w. N.). Der durch Grün Bevorrechtigte darf deshalb grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Querverkehr stillsteht (vgl. hierzu Hentschel a. a. O. § 37 Rn. 15 f. m. w. N.), und ist deshalb umgekehrt auch gehalten, die Grünphase auszunutzen, um einen ungehinderten Verkehrsfluss zu gewährleisten (vgl. hierzu OLG Düsseldorf, DAR 1975, 303; Hentschel a. a. O. § 4 StVO Rn. 11 m. w. N.).
3. Auch die Klägerin trifft ein Mitverschulden an dem Unfall.
a) Zwar ist der gegen die Klägerin als Auffahrende sprechende Anscheinsbeweis im Hinblick auf den nachgewiesenen Verstoß der Erstbeklagten gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO erschüttert (Kammer, st. Rspr.; vgl. zuletzt Hinweisbeschluss vom 21. Mai 2013 - 13 S 72/13; ebenso KG, VerkMitt 1983, Nr. 15, S. 13; OLG Köln, MDR 1995, 577; OLG-Report 1995, 286; OLG Frankfurt, VersR 2006, 668;).
b) Die Klägerin hat aber nachweislich gegen die Pflichten aus § 3 Abs. 1, Satz 4, § 4 Abs. 1 Satz 1, § 1 StVO verstoßen. Zwar ist beim Anfahren bei Grün die Pflicht zur Einhaltung des Mindestabstands nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO außer Kraft gesetzt. Dies geht allerdings einher mit der Pflicht zu besonderer Aufmerksamkeit und erhöhter Bremsbereitschaft (vgl. KG, NZV 2013, 80; Hentschel a. a. O. § 4 StVO Rn. 9 m. w. N.). Dass die Klägerin hiergegen verstoßen hat, hat der Erstrichter in tatsächlicher Hinsicht festgestellt. Dies wird von der Berufung nicht mit konkreten Tatsachen angegriffen.
4. Die Berufung der Klägerin wendet sich aber zu Recht gegen die durch das Amtsgericht getroffene Haftungsverteilung. Zwar trifft den Auffahrenden in der Regel die überwiegende Haftung. Dies gilt allerdings nicht, wenn dem Vorausfahrenden - wie hier - ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO zur Last fällt. In diesem Fall kommt eine Mithaftung des Vorausfahrenden in Betracht, die umso größer ist, je unwahrscheinlicher nach der Verkehrssituation ein starkes Abbremsen ist (vgl. KG, MDR 2006, 1404; OLG Hamm, Schaden-Praxis 2014, 186). Nach diesen Grundsätzen hält die Kammer vorliegend eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zulasten der Beklagten für angezeigt. Denn die Erstbeklagte hat mit ihrem überraschenden und verkehrswidrigen Abbremsen die maßgebliche Ursache für den Unfall gesetzt. Dies gilt insbesondere, weil die Klägerin davon ausgehen durfte, dass auch die Erstbeklagte während der Grünphase der Ampel zügig weiterfahren würde, nachdem bereits die ersten beiden Fahrzeuge über die Ampel gefahren waren und auch die Erstbeklagte beim Umschalten der Ampel auf Grün „normal“ angefahren war. Gegenüber diesem schwerwiegenden Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO fällt das Mitverschulden der Klägerin vergleichsweise gering aus (vgl. OLG Düsseldorf, DAR 1975, 303; KG, NZV 2004, 526; OLG Frankfurt, VersR 2006, 668; LG München, DAR 2005, 690).
Da der Schadensumfang zwischen den Parteien insgesamt unstreitig ist, war der Klage danach in vollem Umfang - auch im Hinblick auf die Nebenkosten - stattzugeben.

 

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