Verständigung ok: Höhe der Kompensation für überlange Verfahrensdauer

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 06.03.2016
Rechtsgebiete: VerfahrensdauerStrafrechtVerkehrsrecht1|4105 Aufrufe

Die Verständigungsrechtsprechung in allen Einzelheiten noch zu überblicken ist schwierig. Hier aber findet sich mal wieder eine BGH-Entscheidung, die verständlich ist und Verteidigern durchaus bekannt sein sollte: "Die Höhe der Kompensation für eine hinsichtlich Art, Ausmaß und ihrer Ursachen prozessordnungsgemäß festgestellte überlange Verfahrensdauer ist ein zulässiger Verständigungsgegenstand." Hier dann der Volltext:

Die Revision beanstandet eine Verletzung des § 257c StPO dadurch,
dass die Höhe der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
zum Gegenstand der Verständigung gemacht worden sei. Allein dieses
will sie zur revisionsrechtlichen Überprüfung stellen, wie ausdrücklich erklärt
wird.

1. Die Revision trägt hierzu vor, dass auf ausdrücklichen Wunsch der
Verteidiger, die „großen Wert darauf legten und darauf drängten, dass die Höhe
der Kompensation zum Gegenstand einer Verständigung gemacht wurde“, Verständigungsgespräche
erfolgten. In diesen äußerte der Verteidiger des Angeklagten
u.a. seine Vorstellung zur Strafe und zur Höhe der Kompensation; die
Staatsanwaltschaft stellte letzteres in das Ermessen des Gerichts. Das Gericht
gab an, seinen Vorschlag am nächsten Verhandlungstag unterbreiten zu wollen.
In der Zwischenzeit trug die Verteidigung schriftlich zur Höhe der zu ge-
währenden Kompensation vor. Der gerichtliche Vorschlag lautete schließlich:
„Die Kammer schlägt für den Fall eines glaubhaften Geständnisses des Angeklagten
H. eine Verständigung über eine zu verhängende Gesamtfreiheitsstrafe
innerhalb eines Strafrahmens von 4 Jahren und 3 Monaten bis zu 4 Jahren
und 9 Monaten vor. Für die eingetretene Verfahrensverzögerung in diesem
Verfahren von 2 Jahren und 6 Monaten wird die Kammer 9 Monate als vollstreckt
anrechnen. Die im Urteil des Landgerichts Mannheim vom 22. März
2012 bereits angerechneten 3 Monate (wegen überlanger Verfahrensdauer im
Verfahren des Landgerichts Offenburg) sowie weiteren 3 Monate (wegen geleisteter
Zahlungen im Rahmen der Auflagenerfüllung) gelten zudem weiterhin
als vollstreckt.“ Sodann wurden vom Gericht noch die Fälle benannt, in denen
auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO erfolgen
soll, bevor die Belehrung des Angeklagten nach § 257c Abs. 5 StPO erfolgte.
Dem Vorschlag stimmten Angeklagter, Staatsanwaltschaft und Verteidiger
zu. Der Angeklagte machte anschließend Angaben zur Sache. Das Gericht
hat ihn unter Einbeziehung weiterer rechtskräftiger Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, neun Monate hiervon
wegen der langen Dauer des Verfahrens, drei Monate wegen der langen
Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht Offenburg und drei Monate für die
Zahlungen auf die Bewährungsauflage des Landgerichts Offenburg für vollstreckt
erklärt.
Die Revision meint, die Kompensation sei keine Rechtsfolge und somit
kein zulässiger Gegenstand der Verständigung.

2. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob durch die Revision hinreichend
dargetan ist, dass eine Verständigung gerade über die Höhe der Kompensation
für überlange Verfahrensdauer erfolgt ist oder ob das Gericht mit der 
Bekanntgabe der in Aussicht genommenen Kompensationshöhe den Angeklagten
aus Fairnessgründen über den gesamten Umfang der Rechtsfolgenerwartung
bei der Verständigung informieren wollte, damit dieser eine autonome Entscheidung
über seine Mitwirkung treffen konnte (vgl. hierzu BGH, Beschluss
vom 29. Januar 2014 – 4 StR 254/13, BGHSt 59, 172, 174).
3. Denn jedenfalls stellt es keinen Rechtsfehler dar, die Höhe der Kompensation
für eine hinsichtlich Art, Ausmaß und ihrer Ursachen prozessordnungsgemäß
festgestellte überlange Verfahrensdauer in die Verständigung
einzubeziehen.

a) Nach § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO dürfen Gegenstand einer Verständigung
nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen
Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde
liegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten.
§ 257c Abs. 2 Satz 3 StPO schließt hingegen den Schuldspruch
sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung als Gegenstand einer
Verständigung aus.

Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers können Verständigungsgegenstand
u.a. grundsätzlich die Maßnahmen sein, über die das erkennende
Gericht verfügen kann, somit Maßnahmen, die es im Erkenntnis treffen kann
(Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/12310, Anlage zu Nr. 8).
Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung
sollten hingegen nicht angetastet werden (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom
19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168 Rn. 67).

b) Danach erweist sich die Verständigung über Art und Ausmaß einer
Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer als zulässiger Verständi-
gungsgegenstand
(Moldenhauer/Wenske in KK-StPO, 7. Aufl., § 257c Rn. 15;
Temming in Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 5. Aufl., § 257c Rn. 23;
Wenske, DRiZ 2011, 393, 395; vgl. hierzu auch Eschelbach in BeckOK-StPO,
23. Ed., § 257c Rn. 11.3, der zwar Bedenken anmeldet, diese aber an der als
problematisch erachteten Vollstreckungslösung festmacht, die jedoch st. Rspr.
entspricht; aA Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 257c
Rn. 10 freilich ohne Begründung).

aa) Die tatsächlichen Grundlagen, aufgrund derer das Gericht Art und
Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen ermittelt hat, sind – ungeachtet
der nicht mit dieser Angriffsrichtung erhobenen Rüge – nicht Verständigungsgegenstand
gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass das Gericht eine Verbindung
zwischen der Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung
oder deren Umfang mit dem Einlassungsverhalten des Angeklagten hergestellt
oder diese Feststellung als bloße Honorierung sonstigen prozessualen Wohlverhaltens
des Angeklagten behandelt hätte (vgl. hierzu BGH, Urteil vom
23. Juli 2015 – 3 StR 470/14), ergeben sich weder aus dem vorgetragenen Verfahrensgeschehen
noch aus dem vom Gericht unterbreiteten Verständigungsvorschlag.
Zwar ist dem von der Revision vorgetragenen Schreiben der Verteidigung,
welches an die Vorgespräche anknüpfte, zu entnehmen, dass das Gericht
seine vorläufige Bewertung zu der sich aus den Akten ergebenden Dauer
der Verzögerung, insbesondere des der Justiz zuzurechnenden Anteils, kundgetan
und diese letztlich auch seinem Verständigungsvorschlag zugrunde gelegt
hat. Das ist aber nicht zu beanstanden, vielmehr ist eine Klarstellung der
materiellen Grundlagen der zu gewährenden Kompensation Voraussetzung für
eine nachvollziehbare Bemessung derselben (vgl. zur strafzumessungsrechtlichen
Bewertung des Anklagevorwurfs BGH, Beschluss vom 12. Dezember
2013 – 3 StR 210/13 mit insoweit zust. Anm. Kudlich NStZ 2014, 284, 286).

Anders als in dem Sachverhalt, der dem Beschluss des Bundesgerichtshofs
vom 6. Oktober 2010 – 2 StR 354/10 (JR 2011, 167) zugrunde lag, gab es
kein gerichtliches „Angebot“ einer die tatsächlichen Grundlagen entbehrenden
Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Lag es dort
„auf der Hand, dass eine Art. 6 Abs. 1 MRK widersprechende Menschenrechtsverletzung
nicht vorlag“ (BGH aaO; abl. auch Ignor in Satzger/Schluckebier/
Widmaier, StPO, 2. Aufl., § 257c Rn. 43), konnte hier angesichts des zwischen
der ersten Anklage und der Eröffnungsentscheidung liegenden Zeitraums von
annähernd 45 Monaten – auch unter Berücksichtigung von Phasen nicht der
Justiz zuzurechnender Verzögerung – ein kompensationspflichtiger Konventionsverstoß
gegen den Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 MRK nicht
zweifelhaft sein.

Dem entspricht es, dass die Urteilsgründe hinreichende Feststellungen
zu Ausmaß und Ursachen der Verfahrensdauer zwischen den bis Mai 2008
begangenen Taten, der Bekanntgabe der Ermittlungen an den Beschuldigten
durch eine Durchsuchung noch im Mai 2008, dem polizeilichen Schlussbericht
im Juni 2010, der Anklage vom 2. September 2010 und dem Eröffnungsbeschluss
vom 30. Mai 2014 sowie der am 8. Juli 2014 beginnenden Hauptverhandlung
enthalten. Diese decken sich hinsichtlich des allein der Justiz anzulastenden
Verzögerungszeitraums mit der vorläufigen Bewertung des Gerichts
und folgen dem von der Verteidigung für zutreffend gehaltenen längeren Zeitraum
nicht.

bb) Über die für eine überlange Verfahrensdauer – gegebenenfalls im
Wege eines Vollstreckungsabschlags – zu gewährende Kompensation ist im
Urteil zu entscheiden,
es handelt sich um eine Rechtsfolge im Sinne des
§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO. Es liegt auch kein Grund vor, diese Rechtsfolge 
von der Verständigungsmöglichkeit auszunehmen, da die Pflicht zur Wahrheitserforschung
und zur Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe
hiervon unangetastet bleiben.

Die Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer dient dem Ausgleich
eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven
Verfahrensunrechts; sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung
des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6
Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt
1/07, BGHSt 52, 124, 137; BGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 1 StR
153/11, BGHR MRK Art. 6 Abs. 51 Verfahrensverzögerung 42; Krehl ZIS 2006,
168, 178; StV 2006, 408, 412).

Die im Wege des sog. Vollstreckungsmodells vorzunehmende Kompensation
als Erfüllung einer Art Staatshaftungsanspruch koppelt den Ausgleich für
das erlittene Verfahrensunrecht von Fragen des Tatunrechts, der Schuld und
der Strafhöhe ab.
Der Ausgleich für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö-
gerung stellt eine rein am Entschädigungsgedanken orientierte eigene Rechtsfolge
neben der Strafzumessung dar. Sie richtet sich nicht nach der Höhe der
Strafe. Auch das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld spielen weder für
die Frage, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist, noch für
Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (BGH, Beschlüsse
vom 23. Juli 2015 – 3 StR 518/14 und vom 17. Januar 2008 – GSSt
1/07, BGHSt 52, 124, 138; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung,
5. Aufl., Rn. 770 ff.). Art und Höhe der Kompensation sind vielmehr
an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen
aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Dabei sind stets die Umstände
des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Ver-
zögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die
Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten, entscheidend
(BGH, Beschlüsse
vom 16. April 2015 – 2 StR 48/15 und vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07,
BGHSt 52, 124, 138). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Verfahrensdauer
als solche sowie die damit verbundenen Belastungen des Angeklagten
stets bereits strafmildernd im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen
sind, es bei der Rechtsfolgenbestimmung über die Kompensation nur mehr
um einen Ausgleich gerade der rechtsstaatswidrigen Verursachung der Verzö-
gerung geht (BGH, Beschlüsse vom 16. April 2015 – 2 StR 48/15; vom 5. August
2009 – 1 StR 363/09, NStZ-RR 2009, 339 und vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07,
BGHSt 52, 124, 138).

Eine nach diesen Maßstäben zu bestimmende Kompensation berührt
nicht die Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung;
eine Verständigung insoweit, also die Erzielung eines Einvernehmens
(vgl. hierzu Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks.
16/12310, Anlage zu Nr. 8) stellt weder Gegenstand noch Umfang der dem Gericht
von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage
vorgeworfenen Geschehens zur Disposition der an der Verständigung Beteiligten
(vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a.;
BVerfGE 133, 168).

Die Anerkennung von Art und Höhe der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung als Verständigungsgegenstand im Sinne
des § 257c Abs. 2 StPO findet Bestätigung darin, dass die Zumessung einer
Entschädigung aufgrund der Gewichtung von Belastungen üblicherweise dem
Parteiprozess überantwortet ist und dort der Dispositionsmaxime unterliegt.
Aus 
dem Umstand, dass über die Entschädigung im Strafverfahren und im Wege
des Vollstreckungsmodells, also durch eine faktische Abmilderung des Straf-
übels entschieden werden kann, ergibt sich wegen der Abkopplung von Unrecht
und Schuld dann nichts anderes, wenn – wie hier – die Grundsätze strafrechtlicher
Sachverhaltsaufklärung durch die Verständigung nicht berührt werden.

BGH, Beschluss vom 25.11.2015 - 1 StR 79/15 

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Vielen Dank für den Hinweis auf die Entscheidung. Die unter den Auszügen angegebene Verlinkung ist jedoch nicht richtig und verweist auf einen anderen Beschluss vom selben Tag. Richtig wäre: BeckRS 2016, 04206

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