KJM erhebt Verstoßvorwürfe gegen Bild.de - Verletzen Bilddarstellungen (kindlicher) Todesopfer im Syrienkrieg die Menschenwürde?

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 11.03.2016

Gremiumsmitglieder der für die Medienaufsicht zuständigen Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) gelangten in ihrer Sitzung vom 9.3.2016 zu der Auffassung, der Anbieter Bild.de habe durch seine Bildberichterstattung über Opfer des Syrienkrieges die Menschenwürde verletzt. Der Vorwurf des Verstoßes gegen die Menschenwürde bezieht sich auf Fotografien von schwer verletzten oder toten Babys und Kindern. Zur Begründung führt die KJM aus, dass Gesichter der Kinder "unverfremdet in Nahaufnahme" zu sehen seien, sodass die Opfer identifizierbar seien. Zudem werde "der Effekt durch die Möglichkeit zur großformatigen Darstellung durch Anklicken verstärkt". Einen Verstoß gegen das Verbot der Menschenwürdeverletzung durch Telemedien beziehen die KJM-Gremiumsmitglieder konkret auf zwei Darstellungen, "da die Opfer auf diesen Bildern deutlich zu erkennen" seien. Die KJM leitet hieraus folgende Wertung ab: "Leiden und Sterben der Kinder wird zur Schau gestellt und sie werden dadurch zu Objekten der Schaulust degradiert. Auch wenn es sich um ein tatsächliches Geschehen handelt, besteht nach Meinung des Gremiums kein berechtigtes Interesse an dieser Art der Darstellung, da eine Verpixelung der Bilder die Aussagekraft des Artikels nicht geschmälert hätte".

Rechtlicher Hintergrund der erhobenen Verstoßvorwürfe ist § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV. Danach sind Angebote unzulässig, wenn sie "gegen die Menschenwürde verstoßen, insbesondere durch die Darstellung von Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, wobei ein tatsächliches Geschehen wiedergegeben wird, ohne dass ein berechtigtes Interesse gerade für diese Form der Darstellung oder Berichterstattung vorliegt".

Bild.de tritt den Verstoßvorwürfen entgegen. Nach Auffassung des Anbieters stelle die Entscheidung der KJM eine Fehlentscheidung dar, welche mit der Pressefreiheit nicht zu vereinbaren sei und ihrerseits die Menschenwürde verletze. Der Anbieter hat angekündigt, auch weiterhin in gleicher Weise mit entsprechenden Bilddarstellungen zu berichten.

Im Hinblick auf die zu erwartende Sachauseinandersetzung und die Auslegung des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV sind folgende Aspekte aus Sicht der Verfassers zu beachten:

  • Der Unzulässigkeitstatbestand des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV kann grundsätzlich Realdarstellungen von sterbenden oder schwer leidenden Menschen erfassen, so dass dies auch bei der Bewertung journalistischer Bildberichterstattung nicht von vorneherein ausgeschlossen ist und im Einzelfall die Presse- und Berichterstattungsfreiheit zurücktreten muss (vgl. OVG Lüneburg MMR 2009, 203 ff. m. Anm. Hopf/Braml).
  • Die mediale Darstellung von  (realen oder fiktionalen) Menschenwürdeverletzungen begründet noch keine davon zu unterscheidende Menschenwürdeverletzung durch das Medienangebot selbst. Nur letztere ist für den Tatbestand des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV maßgeblich.
  • Der in § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV geregelte Spezialfall einer Menschenwürdeverletzung betrifft nach seinem Wortlaut nur die Darstellung "sterbender oder schwer leidender Menschen", hingegen nicht die Darstellung toter Menschen. Eine Zurschaustellung von "Leiden und Sterben der Kinder" ist daher bei der rechtlichen Bewertung ungleich der Bilddarstellung bereits verstorbener Personen.
  • Allerdings kann eine (sonstige) Menschenwürdeverletzung auch bei der voyeuristischen Darstellung toter Menschen gegeben sein [vgl. BPjM-Entsch. Nr. 4576 (V) v. 12.11.1999; Liesching/Schuster, Jugendschutzrecht - Kommentar, 5. Aufl. 2011, § 4 JMStV Rn. 24]. Dies setzt aber regelmäßig nach der Gesamtbewertung eine deutliche Intention der Bedienung eines kalten und mitleidlosen Voyeurismus voraus; Intentionen der Empathieerzeugung und der Berichterstattung stehen einer Herabwürdigungsintention indes entgegen.
  • Auch die Aufsichtskriterien der KJM fordern  für das Vorliegen einer Menschenwürdeverletzung, dass durch das Angebot der Mensch "systematisch und zielgerichtet herabgewürdigt" wird (S. 32, 1. Absatz der KJM-Aufsichtskriterien). Dies entspricht den Ergebnissen eines im Aufrag der Medienaufsicht erstellten Gutachtens des ehemaligen BVerfG-Richters Udo di Fabio, wonach die "vorausgesetzte Verletzungsintensität nur dann" erreicht ist, "wenn Menschen wiederholt oder in systematischer und zielgerichteter Weise öffentlich herabgewürdigt werden (...)" (di Fabio, Der Schutz der Menschenwürde, BLM Schriftenreihe 60, 2000, S. 50).
  • Eine Menschenwürdeverletzung hat nichts mit einer (bloßen) Bildnisrechts- bzw. Persönlichkeitsrechtsverletzung zu tun. Daher ist die - auch deutliche - "Erkennbarkeit" einer Person weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine Menschenwürdeverletzung i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV. Es genügt für die Begründung eines Verstoßes gegen die Menschenwürde daher nicht, dass Menschen identifizierbar dargestellt werden; auch "die Möglichkeit zur großformatigen Darstellung durch Anklicken" ist für das Vorliegen einer Menschenwürdeverletzung unerheblich. Dass abgebildete Menschen - wie bei jeder Personenbilddarstellung - Anschauungsobjekte sind, kann nicht gleichgesetzt werden mit einer "Objektsdegradierung" i.S.e. einer Herabwürdigung oder Negierung der Subjektsqualität des Menschen. Allein die identifizierbare Bilddarstellung sterbender oder toter Menschen geht daher auch nicht eo ipso mit einer "Degradierung zu Objekten der Schaulust" einher. Hierfür bedarf es der Feststellung weiterer angebotsinhaltlicher Merkmale wie etwa einer zynischen Bildkommentierung oder verbaler Herabsetzungen der abgebildeten Personen. Eine "Schaulust"-Objektivierung kann demgegenüber umso weniger angenommen werden, je mehr Berichterstattungsintentionen oder auch die Ausrichtung auf Empathieerzeugung beim Rezipienten das Angebot prägen.
  • Zusätzlich zum stets erforderlichen Nachweis einer Menschenwürdeverletzung bedarf es bei Realschilderungen aus dem Bereich der Berichterstattung der Feststellung, dass kein berechtigtes Interesse an der konkreten Art der Darstellung gegeben ist. Insoweit kann gerade die Unmenschlichkeit der Greuel des aktuellen Syrienkrieges von einem hohen Berichterstattungsinteresse getragen sein, zumal hiermit weitere Fragen von erheblichem öffentlichem Interesse - wie insbesondere die Flüchtlingspolitik und die gesellschaftliche Akzeptanz der Hilfe für betroffene Flüchtlinge - in engem Zusammenhang stehen.
  • Nicht ausreichend ist vor diesem Hintergrund die bloße Feststellung, man hätte auch ohne die konkrete Bilddarstellung über Syrienkriegsopfer "aussagekräftig" berichten können. Es obliegt der Medienaufsicht nicht, anstelle der von der Pressefreiheit getragenen Berichterstattungsorgane über redaktionelle Belange wie Aussagekraft eines Beitrags oder Nachrichtenwert zu befinden. Denn es wäre mit Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu vereinbaren, wenn staatliche Aufsichtsstellen darüber entscheiden, ob auch eine weniger intensive Darstellungsform nach ihrer Meinung ausgereicht hätte, um ein Berichterstattungssujet redaktionell ausreichend darzustellen. Die KJM hat allein das "Interesse" an der konkreten Berichterstattung zu ermitteln und hiernach die Legitimität der konkret verbreiteten Darstellungsform zu bewerten. Je höher das Berichterstattungsinteresse aufgrund Aktualität, Betroffenheit der Berichterstattungsadressaten etc. einzustufen ist, umso eher erscheinen auch drastische Realdarstellungen rechtfertigbar.

Von der Rechtsfrage eines Verstoßes gegen den Unzulässigkeitstatbestand des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV ist im Übrigen die Frage der ethischen Legitimität der drastischen Bildberichterstattung unter expliziter Darstellung kindlicher Opfer zu unterscheiden.

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