Loveparade 2010 – OLG Düsseldorf lässt Anklage zu. Hauptverhandlung nach sieben Jahren

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 25.04.2017

Das OLG Düsseldorf hat im Beschwerdeverfahren gegen den Nichteröffnungsbeschluss des LG Duisburg entschieden. Ich bewerte diese Entscheidung als positiv. Es wird nun jedenfalls eine Hauptverhandlung stattfinden, in der über die Verantwortlichkeit der Angeklagten verhandelt wird. Das ist nicht nur im Sinne der Nebenkläger, sondern auch im Interesse der Öffentlichkeit. Ob die Hauptverhandlung auch mit einem Urteil abgeschlossen wird, lässt sich kaum vorhersagen. Hier wird vor allem auch der Zeitdruck durch die drohende Verjährung (nach §§ 222, 78 Abs.3 Nr.4, 78c Abs.3 S.1 StGB sind das zehn Jahre) einen nicht unwesentlichen Einfluss ausüben.

Zunächst will ich hier nur kurz ein paar Bemerkungen zur Entscheidung des OLG machen, wie sie in der Pressemitteilung  zusammenfassend veröffentlicht wurde:

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Duisburg und verschiedener Nebenkläger hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf mit Beschluss vom 18. April 2017 im Loveparade-Strafverfahren die Anklage gegen alle zehn Angeklagten zugelassen. Die Durchführung der Hauptverhandlung wurde vor einer anderen, und zwar der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Duisburg, angeordnet.

Dies entspricht § 210 Abs. 3 StPO. Die bisher befasste Kammer des LG Duisburg könnte durch den Nichteröffnungsbeschluss voreingenommen sein. Allerdings bedeutet dies, dass sich die noch nicht mit dem Fall befasste Kammer nun ganz neu einarbeiten muss. Bei den Aktenbergen des Loveparade-Verfahrens keine leichte Übung.

(…)

Nach Auffassung des Senats sind die den Angeklagten vorgeworfenen Taten mit den in der Anklage aufgeführten Beweismitteln mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisbar. Dass die den Angeschuldigten vorgeworfenen Sorgfaltspflichtverletzungen ursächlich für die Todes- und Verletzungsfolgen waren, dränge sich nach dem Ermittlungsergebnis auf. Das Ermittlungsergebnis lege nahe, dass die unzureichende Dimensionierung und Ausgestaltung des Ein- und Ausgangssystems für die Besucher und die mangelnde Durchflusskapazität planerisch angelegt und für die Angeklagten vorhersehbar zu der Katastrophe geführt haben. Das gegenteilige Ergebnis der Kammer führt der Senat darauf zurück, dass die Kammer zu hohe Anforderungen an die Annahme eines „hinreichenden Tatverdachts“ gestellt habe.

Planungs- und Durchführungsdefizite, die den Angeklagten vorgeworfen werden, insbesondere was die „Dimensionierung und Ausgestaltung des Ein- und Ausgangssystems“ angeht, sind nach allem, was wir wissen, (mit)ursächlich für die tödliche Massenturbulenz geworden. Selbst wenn weitere menschliche Handlungen ebenfalls zurechenbar wirkten, waren auch diese und deren Folgen objektiv vorhersehbar als Folge der unzureichenden Planung. Die Beteiligung, die subjektive Vorhersehbarkeit und Schuld der einzelnen Angeklagten muss das Gericht in der Hauptverhandlung noch ermitteln bzw. bestimmen. Hinreichende Wahrscheinlichkeit (und damit „hinreichender Tatverdacht“ für eine Anklage) bedeutet, dass eine Verurteilung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch. Diese Einschätzung teile ich.

Wesentliche Elemente des ermittelten Sachverhalts seien bei der Prüfung der Kammer nicht ausreichend berücksichtigt und deshalb nicht zur Grundlage der Entscheidung gemacht worden. Alternative Ursachen für die Katastrophe seien zwar als möglich benannt, nicht aber festgestellt worden. Das Gutachten des Sachverständigen Prof. Still sei entgegen der Annahme des Landgerichts in der Hauptverhandlung verwertbar.

Im Einzelnen:

1. Die Kammer habe nicht den ganzen mit der Anklage vorgetragenen Sachverhalt zur Grundlage ihrer Bewertung gemacht. Gegenstand einer Anklage sei immer ein Lebenssachverhalt als Ganzer, vorliegend damit alle Aspekte im Zusammenhang mit der Planung, Genehmigung und Durchführung der Loveparade 2010. Auch wenn der Schwerpunkt der Anklagebegründung auf einer Überschreitung der maximalen Durchflusskapazität für Besucher auf der Rampe Ost gelegen habe, hätte sich die Prüfung der Kammer nicht auf diesen Aspekt beschränken dürfen, sondern alle weiteren Umstände der Planung, Genehmigung und Durchführung berücksichtigen müssen. Hierzu zählten die fehlende Gewährleistung einer begrenzenden Wirkung der Vereinzelungsanlagen, die fehlende Gewähr eines hinreichenden Personenzuflusses zur Veranstaltungsfläche am Rampenkopf und ein dort zu erwartender Rückstau, die Gegenstromproblematik mangels Trennung der Zu- und Ausgangswege sowie die unzureichende Dimensionierung und mangelnde Eignung des Ein- und Ausgangssystems insgesamt.

Dass die Staatsanwaltschaft sich zu sehr auf das Gutachten von Keith Stills gestützt hat, habe ich auch hier im Blog kritisiert. Ebenso habe ich in meinen früheren Beiträgen angesprochen, dass die Staatsanwaltschaft die polizeilichen Handlungen aus dem schädigenden Geschehen ausgeschieden hat. Die Kammer des LG Duisburg hat sich bei ihrer Ablehnung der Eröffnung zu stark an den Defiziten der Anklage orientiert. Aber das hätte nicht zu der Annahme führen müssen, dass die Anklage insgesamt unbegründet ist. Bei einer eigenen Einschätzung des Gesamtsachverhalts hätte das LG auch zu der Annahme gelangen können, dass trotz lückenhafter Anklagebegründung ein hinreichender Tatverdacht gegen die Angeklagten besteht.

2. Anders als die Kammer des Landgerichts sieht der Senat auch ausreichende Anhaltspunkte für einen vorwerfbaren Zusammenhang zwischen den anzunehmenden Planungsfehlern und dem Eintritt der Katastrophe. Die Kammer begründe ihr gegenteiliges Ergebnis damit, dass auch andere Umstände möglicherweise alleinursächlich für die Katastrophe gewesen seien, so etwa die unterbliebene Schließung der Vereinzelungsanlagen, die Bildung von Polizeiketten oder die Einfahrt eines Polizeifahrzeugs in den Rampenbereich.

Richtig ist, dass die Anklage – unzutreffend – diese Aspekte, insbesondere die Polizeikette auf der Rampe, die man kaum als wesentliche Mitursache des konkreten Erfolgs verneinen kann, ausgeblendet hat. Aber, wie ich hier im Blog seit 2010 vertreten habe: Diese Polizeiaktion fiel nicht vom Himmel, sondern war Teil der Ursachenkette, die durch die Planung (mit) ausgelöst wurde. Dass diese Teilursache von der Staatsanwaltschaft (und daher auch vom Gutachter) ausgeblendet wurde, bedeutet aber nicht, dass dadurch die anderen Angeklagten strafrechtlich entlastet sind.

Dies vermag den Senat nicht zu überzeugen. Weder habe die Kammer einzelne dieser Umstände als alleinige Ursache der Katastrophe festgestellt noch sei dies ersichtlich. Sofern aber solche anderen Umstände als alleinige Ursache für die Katastrophe nicht feststellbar seien, könnten diese einen hinreichenden Tatverdacht nicht entkräften.

Hier muss zunächst einmal die Terminologie geklärt werden: Selbstverständlich ist die Planung im Sinne der conditio sine qua non-Formel ursächlich, das ist nicht bestreitbar. Es geht hier um die (objektive) Zurechnung, konkret um den Pflichtwidrigkeitszusammenhang, also ob die Gefahr, die durch fahrlässig fehlerhafte Planung ausgelöst wurde, sich im konkreten Erfolg verwirklicht hat. Allgemein: Wer zurechenbar die fahrlässige Handlung eines anderen verursacht, kann noch wegen eigener Fahrlässigkeit strafbar sein, sofern der andere durch seine Handlung nicht den Zurechnungszusammenhang unterbricht. Nur wenn (beispielsweise) die Polizeikette auf der Rampe den Zurechnungszusammenhang unterbrochen hätte, also unabhängig von den Planungsfehlern durchgeführt worden wäre, hätte dies zur Entlastung der Angeklagten geführt. Dies ist aber erkennbar nicht der Fall. Denn die Polizei hat aufgrund des sich anbahnenden Staus gehandelt und nicht unabhängig davon. Dass dieser Zusammenhang nun nicht mehr so leicht darzulegen ist, hat die Staatsanwaltschaft zu verantworten, die die Angeklagten aus dem Bereich der Polizei zu früh ausgeschieden hat und dies mit der m.E. falschen Begründung, die Polizei habe mit dem zum Erfolg führenden Kausalzusammenhang nichts zu tun. Zur Erläuterung kann ich auf meine früheren Beiträge verweisen.

3. Das Gutachten des Prof. Still sei entgegen der Auffassung der Kammer des Landgerichts sowohl prozessual als auch inhaltlich verwertbar. Weder sei von einer Befangenheit des Gutachters auszugehen noch weise das Gutachten durchgreifende inhaltliche oder methodische Mängel auf. Von einer Besorgnis der Befangenheit, also einer Voreingenommenheit des Gutachters, sei nicht auszugehen. Der Sachverständige habe sich zwar öffentlich in Vorlesungen und in einem Fachbuch zu seinem Ergebnis der Begutachtung geäußert. Dies sei jedoch weder grundsätzlich unzulässig noch folge hieraus die Festlegung auf bestimmte Ergebnisse bei der Erstattung seines Gutachtens in der Hauptverhandlung. Zwar habe sich der Sachverständige überspitzt und ironisch zur Planung und Durchführung der Loveparade geäußert. Dies habe jedoch didaktischen Zwecken und nicht der Herabwürdigung der Angeklagten gedient. Auch sieht der Senat keine Anhaltspunkte für eine unzulässige Einflussnahme auf den Sachverständigen durch Dritte oder eine das erforderliche Maß überschreitende Beteiligung von Hilfskräften bei der Gutachtenerstellung.

Zur möglichen Befangenheitsbesorgnis gegen den Gutachter kann ich mich nicht zuverlässig äußern. Dazu fehlen mir die tatsächlichen Hintergründe. Aber dies allein wäre kein Grund für eine Nichteröffnung. Die Gutachterauswahl obliegt grundsätzlich dem Gericht. Falls dem Gericht die Sachkunde fehlt, einen Sachverhalt selbst zu beurteilen, muss es einen Gutachter beauftragen. Das gilt auch, wenn das Gericht mit dem Sachverständigen, den die Staatsanwaltschaft als Beweismittel anbietet, nicht einverstanden ist.

Soweit das Landgericht inhaltliche und methodische Mängel des Gutachtens anführt, teilt der Senat diese Auffassung in entscheidenden Punkten nicht. So habe der Sachverständige beispielsweise nicht nur eine erste grobe Risikoanalyse der Planungen vorgenommen, sondern konkret ausgeführt, dass das Ein- und Ausgangssystem von vornherein unzureichend dimensioniert und ausgestaltet gewesen sei. Dieses Defizit, so der Sachverständige, habe sich in der Katastrophe auch realisiert. Ihm sei ebenso wenig vorzuwerfen, dass er seiner Begutachtung aus seiner Sicht manipulierte Besucherplanzahlen zugrunde gelegt habe. Diese Zahlen lagen jedenfalls der Planung und Genehmigung zugrunde. Sollte die Kammer davon abweichende Besucherplanzahlen für maßgeblich erachtet haben, hätte sie diese dem Sachverständigen als Anknüpfungstatsache für seine Begutachtung mitteilen müssen. Darüber hinaus hätte es der Kammer oblegen, die vom Sachverständigen mitgeteilten Ergebnisse seines Gutachtens nach deutschem Recht zu bewerten. Deshalb stelle es die Eignung des Gutachtens nicht in Frage, dass der britische Sachverständige diesem ein nicht dem deutschen Strafrecht entsprechendes Rechtsverständnis zu Fragen von Kausalität und Zurechenbarkeit zugrunde gelegt oder deutsche Rechtsnormen möglicherweise nicht ausreichend berücksichtigt habe.

Dieser Einschätzung stimme ich zu. An dem, was Stills vorgelegt hat, ist inhaltlich und methodisch wenig zu beanstanden. Die Unzulänglichkeiten dieses Beweismittels, die die LG-Kammer gerügt hat, sind überwiegend solche, die schon im Gutachtenauftrag und in der Gutachterauswahl begründet sind.

Fazit: Die Entscheidung des Landgerichts, aber auch viele Diskussionsbeiträge hier im Blog und in anderen Medien beruhen auf dem Fehlverständnis, bei mehreren Akteuren, die jeweils möglicherweise Ursachen gesetzt haben, könne man juristisch die einen dann nicht verantwortlich machen, wenn die anderen (auch) Ursachen gesetzt haben. Das beginnt mit der (naiven) Vorstellung, man könne die eigene Verantwortung damit loswerden, dass man andere verantwortlich macht und gipfelt in der Ansicht, das Strafrecht sei strukturell nicht in der Lage, in solch komplexen Sachverhalten zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen. Strafrechtsdogmatisch ist die Sache aber durchaus handhabbar. Die Fahrlässigkeitsdogmatik erlaubt es, zu einer Zurechnung zu kommen, auch wenn zeitlich später andere Personen ebenfalls fahrlässig handeln. Zur Erläuterung wiederhole ich an dieser Stelle meinen Kommentar vom vergangenen Jahr (leicht verändert):

Im Strafrecht (etwas anders als im Zivilrecht) gilt die Kausalität nach dem Äquivalenzprinzip (jede Ursache ist gleichwertig), d.h. auch die Planung und Genehmigung sind kausal für den Tod der Loveparadebesucher, denn ohne Planung/Genehmigung hätte die Veranstaltung gar nicht stattgefunden. Das Problem ergibt sich also nicht auf dieser Stufe, sondern in der nächsten, der Zurechenbarkeit.  Diese ist immer dann schwierig zu beantworten, wenn verschiedene "frei" handelnde Akteure nacheinander Ursachen für ein Ereignis gesetzt haben, hier die Planer, die Genehmiger und dann die Polizei. Denn dann könnte es zu Zurechnungsunterbrechungen kommen - die früher Agierenden wären nicht mehr verantwortlich für den konkreten Schaden, der erst durch den später Agierenden konkret verursacht worden ist.

Um ein Beispiel zu bemühen: Jemand verursacht fahrlässig einen Unfall, das verletzte Unfallopfer wird ins Krankenhaus gebracht, um dort operiert zu werden, und der dortige Anästhesist macht einen Fehler, der letztlich zum Tode des Verletzten führt. In solchen Fällen sind beide Akteure (der Unfallverursacher und der Anästhesist) für den Tod des Opfers kausal geworden. Die Frage ist, ob dem Unfallverursacher der Tod  des Opfers auch dann noch zugerechnet werden kann, wenn der Arzt einen Behandlungsfehler gemacht hat, der letztlich den Tod herbeigeführt hat. Zwei Aspekte sind für die Zurechnung in solchen Fällen entscheidend: Erstens: Hat die frühere Fahrlässigkeit die Gefahr der späteren mit enthalten, also war der Fehler des ersten Akteurs derart, dass das Risiko des Todes durch einen Behandlungsfehler eines anderen vorhersehbar zugleich mit erhöht wurde? Zweitens: Wie schwer war die Fahrlässigkeit des späteren Akteurs? Es ist schwierig, hierzu ganz generelle Aussagen zu treffen, aber  in der Strafrechtslehre  herrschend wird etwa danach differenziert, ob der zweite Akteur "nur" einfach fahrlässig gehandelt hat oder ob er grob fahrlässig gehandelt hat. Man kann dies so begründen: Da menschliche Fahrlässigkeiten relativ häufig auftreten, ist es auch vorhersehbar, dass jemand bei einer Anästhesie durch einfache Fahrlässigkeit geschädigt wird. In der Gefährdung durch die Unfallverletzung steckt sozusagen die einfache Fahrlässigkeit des Anästhesisten „mit drin“. Der Unfallverursacher hat den Tod, der durch den Anästhesiefehler mitbedingt ist, also ebenfalls zu verantworten. Anders ist es bei krassen/groben Fehlern des medizinischen Personals. Diese sind praktisch nicht vorhersehbar, sie hat der Unfallfahrer nicht mitzuverantworten. Die rechtliche Schwierigkeit liegt dann darin zu beurteilen, wie schwerwiegend der Fehler des Mediziners war.

Im Loveparade-Fall gibt es noch einen Unterschied zum obigen Unfall-Beispiel: Während bei dem Zusammenhang Unfall - Krankenhaus die beiden Akteure auf je eigenem Feld selbständig und unter verschiedenen Normen (z.B. Straßenverkehrsordnung, ärztliche Kunst) agieren, sind im Loveparade-Fall die Akteure auf demselben Aktionsfeld tätig und es hängt die polizeiliche Reaktion ganz unmittelbar mit der Gesamtlage (Großveranstaltung mit nur einem gemeinsamen Ein- Ausgang durch Tunnel-Rampen-Anlage) zusammen. Die Polizei hat ja auf die von den Planern und Genehmigern vorbereitete Situation - hoher Besucherandrang mit Stauungen – reagiert und wurde in dieser Situation tätig. Auch gibt es für die polizeiliche Reaktion in solchen Fällen keine Standards, so dass man eher mit dem Risiko von Fahrlässigkeiten rechnen muss.

Nach meinem Dafürhalten hat objektiv fehlerhaftes Agieren der Polizei zwar den konkreten Erfolg mitverursacht, es spricht aber viel dafür, dass dadurch der Zurechnungszusammenhang nicht "unterbrochen" wurde.

Eine zentrale Frage wird sein, ob dieser Zusammenhang in der unter Zeitdruck stattfindenden Hauptverhandlung prozessordnungsgemäß festgestellt werden kann.

Update 3. Mai 2017: Inhaltlich entspricht der Beschluss, der jetzt auch Online verfügbar ist (pdf-Datei, 230 Seiten), meiner schon mehrfach geäußerten Einschätzung, auch wenn - wie allg. in der Rspr. üblich - durchgehend von "Kausalität" statt von "Zurechnung" die Rede ist. Die Schlussfolgerungen sind allerdings kein juristisches Zauberwerk oder gar Genialität. Das sind vielmehr grundlegende Dinge, die man als JurastudentIn in der Vorlesung zum Strafrecht lernt bzw. lernen sollte  (Themen: Objektive Zurechnung, Zurechnungsunterbrechung, Fahrlässigkeit). Hier ein wichtiger Ausschnitt des OLG-Beschlusses (Hervorhebungen von mir eingefügt):

Dass  eine  der  angeführten  „Planabweichungen"  alleinursächlich  für  den  Eintritt  der  Katastrophe  war,  wird  von  der  Strafkammer  nicht  behauptet  und  lässt  sich  auch  nicht  begründen.  Denn  sämtliche  Ereignisse  knüpften  an  die  geplanten  und  am  Veranstaltungstag  vorgefundenen  Bedingungen  an.  Im  Falle  einer  nur  anknüpfen­den  Kausalität  wird  der  Kausalzusammenhang  zwischen  Handlung  und  Erfolg gerade  nicht  unterbrochen  (vgl.  Roxin,  Strafrecht  Allgemeiner  Teil  Bd.  1,  4.  Aufl.,  §  11  Rdn.  28;  Kühl,  Strafrecht  Allgemeiner  Teil,  7.  Aufl.,  §  4  Rdn.  31;  Eisele  in: Schönke/Schröder,  StGB,  29.  Aufl.,  vor  §  13  Rdn.  77  m.w.N.).

Dies  gilt  hier  auch  für  das  Eingreifen  durch  die  Polizeiketten  (vgl.  dazu  Abschnitte  11.3.g  und  11.5.h).

Soweit  die  Strafkammer  annimmt,  es  habe  eine  „grundlegende  tatsächliche  Um­gestaltung  des  geplanten  Ein-  und  Ausgangssystems"  gegeben,  teilt  der  Senat  eine  solche  Bewertung  nicht.  Denn  an  dem  Grundkonzept  und  dem  Hauptrisiko,  dass  die  ankommenden  und  abwandernden  Besucher  gegenläufig  dieselben  zu  eng  bemessenen  Durchgangswege  benutzen  mussten,  änderte  sich  im  Verlauf  der  Veranstaltung  nichts.  Auch  erörtert  die  Strafkammer  nicht  die  naheliegende  Frage,  warum  es  zu  den  als  planwidrig  eingestuften  Entwicklungen  kam  und  ob  diese  vorhersehbar  waren.  Es  ist  bereits  hier  hervorzuheben,  dass  ein  Ein-  und  Ausgangssystem  nicht  so  labil  ausgelegt  sein  darf,  dass  es  für  -  objektiv  und  subjektiv  vorhersehbare  -  Lageentwicklungen,  die  ihrerseits  an  die  geplanten  und  vorgefundenen  Bedingungen  anknüpfen,  keinen  Raum  gibt  und  es  schließlich  zur  Katastrophe  kommt.

(...) [S.77]

Die  Strafkammer  ist  der  Ansicht,  die  Errichtung  der  Polizeikette  auf  der  Rampe  Ost  auf  Höhe  und  unter  Nutzung  der  von  der  Anklage  als  (mit)kausal  erachteten  Verengung  auf  10,59  Meter  um  16.01  Uhr  mit  der  Folge  einer  Durchflusssperre  bis  16.28  Uhr  und  der  Bildung  eines  „zunehmenden  Rückstaus"  auf  der  Rampe  Ost  könnte  möglicherweise  einen  „gänzlich  anderen,  den  Angeschuldigten  nicht  mehr  vorwerfbaren  Kausalverlauf  in  Gang  gesetzt"  haben.93

Abgesehen  davon,  dass  der  hinreichende  Tatverdacht  bezogen  auf  den  Anklage­vorwurf  durch  die  Benennung  einer  solchen  bloßen  Möglichkeit  gerade  nicht  entkräftet  wird,  wurde  durch  die  Errichtung  der  Polizeikette  auf  der  Rampe  Ost  keineswegs  ein  gänzlich  anderer,  den  Angeschuldigten  nicht  mehr  vorwerfbarer  Kausalverlauf  in  Gang  gesetzt.

Die  Errichtung  dieser  Polizeikette  war  Teil  eines  Maßnahmenbündels,  das  auch  die  Bildung  von  zwei  Polizeiketten  in  dem  Tunnel,  die  Schließung  der  beiden  Vereinzelungsanlagen  sowie  die  Öffnung  der  westlichen  Rampe  als  Zugang  umfasste.  Die  Strafkammer  lässt  unberücksichtigt,  dass  die  seitens  der  Veranstal­terin  und  der  Polizei  lagebedingt  getroffenen  Maßnahmen  an  die  vorhersehbaren  Entwicklungen  am  Veranstaltungstag  anknüpften  und  insbesondere  als  Reaktion  auf  die  starke  Druck-  und  Rückstaubildung  am  Kopf  der  Rampe  Ost  sowie  den  erheblichen  Gegenstromverkehr  in  diesem  Bereich  erfolgten.

Im Übrigen kann ich jedem, der sich über die Loveparade 2010 informieren will, empfehlen, sich diesen Beschluss des OLG Düsseldorf - insbesondere wegen der Darstellung der Ermittlungsergebnisse und der zusammenfassenden Bewertung - durchzulesen. Vieles von dem, was hier skeptische und kritische Kommentatoren zu den hier im Blog dargelegten Tatsachen in Zweifel gezogen haben, wird darin erstaunlich klar widerlegt. 

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Wer sich über die bisherigen Diskussionen im Beck-Blog informieren möchte, kann die Links hier finden - unmittelbar darunter noch einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.

Juli 2016: Loveparade 2010 - nach sechs Jahren noch kein Hauptverfahren (76 Kommentare, ca. 8600 Abrufe)

April 2016: Loveparade Duisburg 2010 - Fahrlässigkeiten, 21 Tote, keine Hauptverhandlung? (252 Kommentare, ca. 20000 Abrufe)

Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)

Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 7000 Aufrufe)

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 8200 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 14500 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 15500 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 12800 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 28200 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 37800 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 33600 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 24600 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 40300 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 46600 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Loveparade Selbsthilfe

Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

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104 Kommentare

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Als Laie bitte ich um Entschuldigung, kann aber nicht nachvollziehen, wo der Zeitdruck herkommt.

Ich bin ganz spontan davon ausgegangen, dass hier ein Sachverhalt aus § 78c StGB greift, der eine Unterbrechung der Verjährungsfrist bewirkt. 

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Meine Frage hat sich erledigt, gerade Abs. 3 entdeckt.

 

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Habe die Normenkette im Beitrag ergänzt, so dass die Verjährung im Jahr 2020 nachvollziehbar ist.

In der Hoffnung, juristischen Erwägungen eine breitere Öffentlichkeitswirkung zu verschaffen, habe ich mir soeben erlaubt, dieses Blogthema auf dem einschlägigen Wikipedia-Artikel einzubauen.  

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

herzlichen Dank für die verständlichen Ausführungen zum Beschluss des Oberlandesgerichts. Insbesondere Ihre Erklärung der Zurechenbarkeit hat mir geholfen, die Kernfragen des demnächst anstehenden Prozesses zu verstehen.

Es ist in hohem Maße befriedigend zu sehen, dass das vergleichsweise alte Strafrecht seine Anwendbarkeit über die Jahrzehnte nicht eingebüßt hat. Die Sachverhaltsaufklärung, in diesem Fall unterstützt durch eine beispiellose Akribie vieler Freiwilliger, die Fotos und Videomaterial ausgewertet und sich dazu in sozialen Netzwerken verknüpft haben, bediente sich moderner Technik. Das Strafrecht ist auch dem gewachsen.

Ich bin nicht Partei, war noch nie auf der Loveparade, kenne keine Betroffenen, wohne Stunden vom Tatort entfernt. Dennoch bewegt mich dieses Ereignis und dessen juristische Aufarbeitung wie kaum ein zweites.

Ich werde daher das Verfahren und diesen Blog weiter verfolgen - im Falle der Revision werden ja noch Jahre ins Land gehen bis zu einem rechtskräftigen Urteil.

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Drei Jahre bis zur Verjährung... schließt das Rechtsmittel mit ein? Falls ja, kann man die Sache ja quasi schon beerdigen.

Falls die Sache durch Verjährung "enden" sollte, wäre das m. E. aber skandalös. Gericht und Justizminsiterium sollten hier - im Rahmen der Möglichkeiten - eine vorrangige Behandlung sicherstellen, um dem Eindruck entgegenzuwirken, man wolle die Sache wegmauscheln, bspw. weil der Fall komplex und unangenehme ist. Denn der drängt sich doch ein wenig auf.

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[Wird ein Urteil gefällt, aber nicht bis zum Ablauf der Verjährung rechtskräftig, erfolgt wegen des Verfahrenshindernisses die Einstellung. Das gilt ggf. auch noch in der Revisionsinstanz.]
Sorry, Korrektur:
Es gilt § 78b Abs.3 StGB. Ich war auf eine missverständliche Kommentierung hereingefallen, die sich aber nur auf den Fall bezieht, dass das Verfahrenshindernis erst in der Revisionsinstanz auffällt.
 

Mich hat das Ereignis damals sehr berürht und bin ehrlich erstaunt, wie schnell die Zeit doch vergangen ist, da mir die Bilder noch so lebhaft in Erinnerung sind.

Die Gefahr, dass nicht ordnungsgemäß abgeschlossen werden kann, tritt überdeutlich in hervor.

Verjährungsfristen haben ihre Richtigkeit, nicht nur in der Theorie sondern auch im "praktischen" Leben, aber hier wäre es doch sehr stossend. Nicht nur für die nächsten Angehörigen.

Ein derart komplexer Sachverhalt läuft der Intention des Gesetzgebers klar entgegen.

Überspitzt formuliert: Das Verbrechen muss nur groß genug sein, dann bleibt es ungesühnt. (Ausdrücklich kene Aussage zum konkreten Tatvorwurf und den Beteiligten; nur theoretisch gesprochen)

Es wäre wirklich bedauerlich.

Das Gesetz nimmt bei den  Verjährungsfristen Rücksicht auf die (maximale) Strafe bei dem angeklagten Sachverhalt, also auf die verwirklichte Schuld, nicht aber auf die Komplexität der Ermittlungen. Wird wegen einer Straftat, die höchstens mit fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, ermittelt, ist nach zehn Jahren "Schluss". Das führt im vorliegenden Fall zu den tatsächlich bedenklichen Folgerungen.

Man könnte daran denken, die absolute Verjährung nur für die Zeit bis zum Abschluss der ersten Instanz zu zählen, also die Rechtsmittelinstanz herauszunehmen - dazu müsste aber das Gesetz geändert werden. Sorry, Korrektur: Das ist in § 78 b Abs.3 StGB so geregelt.

Man kann natürlich auch umgekehrt fragen, was bzw. wer denn diese ewig langen Verzögerungen zu verantworten hat. Zwischen Ende 2011 und 2015  ist m.E. Zeit verschwendet worden, u.a. mit der fragwürdigen Strategie der StA, die Polizei, die zunächst noch mit beschuldigt wurde, aus den Ermittlungen herauszustreichen.  

Henning Ernst Müller schrieb:

Zwischen Ende 2011 und 2015  ist m.E. Zeit verschwendet worden, u.a. mit der fragwürdigen Strategie der StA, die Polizei, die zunächst noch mit beschuldigt wurde, aus den Ermittlungen herauszustreichen.  

Zumal es ja absehbar war, dass die Schuldfrage der Polizei ohnehin geklärt werden muss, um die von Ihnen dargestellte Frage der Zurechenbarkeit zu klären.

Nur mal angenommen, der Taterfolg wäre den Angeklagten nur deshalb nicht zuzurechnen, weil die Polizei den Taterfolg grob fahrlässig durch ihr eigenes Handeln herbeigeführt hätte. Ein solches Prozessergebnis wäre doch äußerst unbefriedigend.

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Meines Erachtens ergibt sich aus § 78b Abs. 3 StGB, daß keine Verjährung mehr eintreten kann, wenn das Landgericht innerhalb der Verjährungsfrist zu einer Verurteilung oder einem Freispruch kommt. Entscheidend wäre danach, daß das Landgericht bis zum 28. Juli 2020 durchs Ziel kommt.

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Aber wäre das im Ergebnis nicht unbillig? Ich meine, würde die Verjährung mit Freispruch am 28. Juli 2020 nicht dennoch von da ab wirksam? 

Achso 78 b. Richtig. 

Fair ist das bei Freispruch nicht.

Hallo Herr Dr Mueller:
Das Love Parade genannte Ereignis war am 24. Juni 2000. Das Gefahrpotential war seit Wochen bekannt. Warum hat der SPD-Berufspolitiker als damaliger Regierungspräsident in Düsseldorf, Herr Jürgen Büssow, das Ereignis in Wahrnehmung seiner Verantwortung für Gefahrenabwehr im Bereich Duisburg nicht spätestens am Freitagvormittag, dem 23. Juli 2010 verboten ?

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Vielleicht mag die 6. Strakammer des Landgerichts Duisburg das mit der nötigen professionellen Distanz als sportliche Herausforderung annehmen, aber für die Angehörigen und Opfer ist das Risiko der Verjährung nur schwer zu ertragen.

Die Strafkammer wäre gut beraten, sich beim Landesgericht Salzburg (Verfahren zum Kaprun-Unglück, 37 Hv 60/02), beim Landgericht Traunstein (Einsturz der Eissporthalle Bad Reichenhall, 2 KLs 200 Js 865/06) und beim Landgericht Düsseldorf (Verfahren zum Flughafenbrand 1996) Anregungen einzuholen.

Bspw. könnte man bei den Opfern nicht jeden Beteiligten, sondern nur ausgewählte Personen aus Gruppen (Tunnel, Rampe unten, Rampe oben, Gelände) exemplarisch als Zeugen hören. Das wäre für die Opfer zwar wahrscheinlich auch nur schwer zu ertragen, dass sie nicht alle gehört werden, aber mit dem Hinweis auf die drohende Verjährung vermutlich vermittelbar.

Auch ich sehe es übrigens so, dass vor allem die Staatsanwaltschaft das Verfahren vor die Wand gefahren hat. Es leuchtet mir bis heute nicht ein, wie ich ein so großes Verfahren auf bestimmte Tatverdächtige einschränken kann. Und dann aber so lange zum Ermitteln brauche, dass die Vorwürfe gegen die Übrigen verjährt sind, weil ich sie nicht einmal verantwortlich vernommen habe. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Verjährung auch für weitere Beteiligte zu unterbrechen (§ 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB).

 

Wenn sich ein Verfahren gerade nicht als Vorbild für den Loveparade-Prozess eigenet, dann ist das der gerichtliche Vertuschungsskandal um das Unglück von Kaprun.

http://www.zeit.de/2009/33/A-Kaprun/komplettansicht

Das ist sicher richtig.

Mir ging es auch nicht um die juristische Behandlung, oder das Ergebnis, sondern allein um die Technik bei der Behandlung eines Massenfalles.

Na also, da haben die 350.000 Unterschriften ja doch was gebracht. Und ebenso die Unterstützung durch die Ministerpräsidentin, die die Nichteröffnungsentscheidung des LG mit angemessener Schärfe kritisiert hatte und jetzt ihrer Genugtuung Ausdruck verleihen darf. Es lebe die Demokratie! Oder??

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Ich denke, dass es tatsächlich angebracht ist, einen neuen § 78c III 3 StGB einzufügen. Der § 78c III 3 StGB n.F. könnte etwa lauten:

"In diesem Fall reicht zur Unterbrechung der Verjährung das Vorliegen eines erstinstanzlichen Strafurteils aus, ein Eintreten der Rechtskraft des erstinstanzlichen Strafurteils ist für die Wirksamkeit der Unterbrechung nicht erforderlich." 

§ 78b Abs.3 StGB haben wir übersehen (zerknirschtes Lächeln)

Henning Ernst Müller schrieb:

§ 78b Abs.3 StGB haben wir übersehen (zerknirschtes Lächeln)

Während alle auf Herrn Prof. Dr. Müller warteten, hatte ich zwischenzeitlich aber auch das schon mal studiert:

"BGH 5 StR 263/10 - Beschluss vom 28. Oktober 2010 (LG Berlin) Absolute Verjährung; Ruhen der Verjährung;"

http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/10/5-263-10.php?referer=db

Da aber lese ich doch eine Priorität der absoluten Verjährung heraus, und damit ergäbe sich ein Widerspruch zwischen dem § 78c (3) Satz 3 und dem § 78b (3). Aber dazu können ja andere, wie auch Herr Prof. Dr. Müller, sich auch noch äußern.

Aber zu der Antwort von Herrn Prof. Dr. Müller auf meine eigene Erwähnung von Herr Wolfgang Daschner werde ich einige Zeit später auch noch näher eingehen, auch wenn ich ja keine Debatte darüber lostreten wollte. Nur jetzt sehe ich mich doch dazu gezwungen, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller, ich werde also darauf noch antworten.

Mit den besten Grüßen

Günter Rudolphi

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Gast schrieb:

Da aber lese ich doch eine Priorität der absoluten Verjährung heraus, und damit ergäbe sich ein Widerspruch zwischen dem § 78c (3) Satz 3 und dem § 78b (3). Aber dazu können ja andere, wie auch Herr Prof. Dr. Müller, sich auch noch äußern.

Die Lösung steht in dem von Ihnen angeführten § 78c Absatz 3 Satz 3, nach dem die Regeln des § 78b StGB unberührt bleiben.

Damit ergibt sich als "maximale" Verjährungsfrist die absolute Verjährungsfrist (also die doppelte Verjährungsfrist des §78 Absatz 3 StGB) zuzüglich der Ruhenszeiten.

So sah es auch der BGH in dem von Ihnen zitierten Urteil in folgendem Satz:

"Nachdem diese knapp viermonatige Frist, die Ruhensfrist nach § 78b Abs. 4 StGB und die absolute Verjährungsfrist nach § 78c Abs. 3 StGB abgelaufen sind, ist hinsichtlich sämtlicher ausgeurteilter Taten Verjährung eingetreten." (Fundstelle bei Ihnen).

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Das heißt ja, diese Urteile wurden aber doch aufgehoben wegen Überschreitung von summierten Fristen am Ende.

"Entscheidungstenor"

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Dezember 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben und das Verfahren nach § 206a Abs. 1 StPO eingestellt.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

Sind Sie der Meinung, wenn im Fall Loveparade 2010 sich auch noch weitere Instanzen anschließen - also inklusiv dem BGH oder auch noch dem EuGH, oder mit Anrufen des BVerfG - bis zu einer endgültigen Rechtskraft, daß dann noch weitere Fristen dazu kommen könnten?

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Übrigens hatte ich ja niemals behauptet, bereits 2020 wäre Schluß mit jeder individueller Strafverfolgung aller Beschuldigter, der Begriff "absolut" ist mir aber aus der Physik bei der Temperatur bekannt durch den Absoluten Nullpunkt.

Die Juristen haben offensichtlich auch andere Vorstellungen von "absolut", nehme es aber noch zur Kenntnis als deren eigene Flexibilität.

Die Anregung, nicht detailliert auf den Fall Daschner / Gäfgen als Replik einzugehen, bei dem gerade nicht mehr von Folter gesprochen werden kann nach der obersten und letzten Rechtsprechung, nehme ich an.

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Gast schrieb:

Sind Sie der Meinung, wenn im Fall Loveparade 2010 sich auch noch weitere Instanzen anschließen - also inklusiv dem BGH oder auch noch dem EuGH, oder mit Anrufen des BVerfG - bis zu einer endgültigen Rechtskraft, daß dann noch weitere Fristen dazu kommen könnten?

Es kommt m.E. nur noch der BGH als Revisionsinstanz in Frage, wenn es um Verjährung geht.

Weitergehende Rechtsbehelfe, z.B. die Verfassungsbeschwerde, würden die Angeklagten ja ohnehin nur im Falle ihrer Verurteilung bemühen. Und im Falle ihrer Verurteilung würde das Verfahren ja nicht wegen Verjährung enden und ihnen die Möglichkeit nehmen, sich gegen die Verurteilung zur Wehr zu setzen.

Die Verjährung ist ja eine Schutzvorschrift, die einseitig zu Gunsten des Angeklagten und nie gegen ihn wirkt.

Umgekehrt steht der Staatsanwaltschaft nicht das Recht zur Verfassungsbeschwerde zu.

Als Fazit können wir m.E. ziehen, dass es nun darauf ankommt, dass das LG sein Urteil bis zum 24.7.2020 verkündet.  

Drei Jahre sind keine sehr lange Zeit, denn den Strafverteidigern steht natürlich eine lange Liste von legalen Möglichkeiten zur Verfügung, das Verfahren zu strecken. Allein die recht große Anzahl an Beteiligten stellt eine Herausforderung dar. Allein im OLG-Beschluss sind 10 Angeklagte, 22 Strafverteidiger, 38 Nebenkläger, 38 Nebenkläger-Anwälte genannt. Als ich eben die Liste zusammenstellte, erschrak ich doch ein Bisschen.

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IUS schrieb:

Die Verjährung ist ja eine Schutzvorschrift, die einseitig zu Gunsten des Angeklagten und nie gegen ihn wirkt.

Eben nicht ganz in meinem Szenario b) einer schludrigen Verurteilung unter Zeitdruck, die anschließend in der Revison (aus welchen Gründen auch immer) aufgehoben wird und dann müßte doch neu verhandelt werden. Dann hätten die Bestimmungen zur Verjährung (Ruhen und Unterbrechung) gegen den Angeklagten gewirkt.

Nur noch einmal präzisiert.

 

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Geehrte Kommentatoren,

die Verjährung ist nicht nur eine rein rechtliche Angelegenheit, sondern auch eine politische, das zeigten ja auch die Debatten um die Mord-Verjährung im Bundestag mit der ganzen NS-Problematik. Wir kennen alle das Argument "Irgendwann muß Schluß sein" in dem Zusammenhang. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es ja ein globales Gedächtnis als "Archiv", und da werden alle Akten darüber auch i.d.R. niemals ausgesondert. Beim Mord ist es zum Teil ähnlich, weil der auch nicht mehr verjährt, mit dem biologischen Tod von Beschuldigten oder Angeklagten hört aber jede individuelle Strafverfolgung auf, dann sind aber auch noch oft Historiker und Kriminologen usw. an diesen Akten interessiert. Bei Akten unterhalb von Mord als besonderer Form eines Tötungsdeliktes werden wegen der Verjährung Akten dazu i.d.R. einmal geschlossen und auch einmal ausgesondert, vernichtet, und nehmen keinen Raum mehr ein in den oft bereits vollen Justiz-Archiven.

Meine These nun: Die Verjährung dient auch noch der Justiz, um ihren eigenen Archivierungsaufwand zu begrenzen, hat also nicht nur eine Funktion in Bezug auf die Beschuldigten und Angeklagten.

Der Rechtsfriede, der auch oft dafür angeführt wird, ist ja auch nur eine Fiktion, weil Morde und schwere Verbrechen manchmal in Familien und deren Nachkommen auch oft über Generationen hinweg nicht vergessenen werden, besonders die ungesühnten Morde und schweren Verbrechen nicht, das zeigt die Empirie. Das wären meine Überlegungen zu einer Systematik bei der Verjährung, die ich aber noch nicht in den bisherigen §§ dazu erkennen kann.

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Das zitierte Urteil betrifft genau den Fall, der mich zuerst irritiert hatte: Hier trat nämlich die Verjährung schon VOR dem Erlass des angefochten Urteils ein; dies wurde aber erst in der Revisionsinstanz entdeckt. Aber hier ging es ja um die Frage, was NACH Erlass eines Urteils (aber vor Rechtskraft) passiert. Und da gilt eben § 78b Abs.3 StGB.

Auch wenn das hier wieder zensiert wird: Ich bewerte die Entscheidung des OLG als negativ. Das Verfahren ist genauso sinnlos wie NS-Prozesse gegen 90-Jährige. Herauskommen wird nichts. Außer viel Presserummel.

Einem stimme ich zu: Der Fehler liegt bei der Staatsanwaltschaft. Allerdings liegt der erste Fehler darin, das Strafverfahren nicht auf einen oder wenige Personen zu konzentrieren. Eine schnelle Anklage gegen den jedenfalls politisch verantwortlichen Oberbürgermeister wäre sinnvoll gewesen.

Nun hat man einen praktisch gar nicht mehr handhabbaren Prozess unter Zeitdruck. Als Verteidiger würde ich mich freuen und wäre mir nahezu sicher, einen Verfahrensabschluss vor Verjährungseintritt torpedieren zu können.

Schade, dass es nicht bei der Strafkammerentscheidung geblieben ist.

 

 

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@Teilzustimmung, Herr Schulze, OB Sauerland (CDU) war pol. "vor Ort" verantwortlich. Die "Dienstaufsicht" hatte RP Büssow (SPD), so gesehen also NRW-Groko-Gemeinschaftshandeln. Und sagt man nicht auf Deutsch: Der Fisch fängt am Kopp zu stinken an?

Eine schnelle Anklage gegen den Oberbürgermeister hätte vermutlich mit einem Freispruch geendet. Dabei wären eine Reihe von Probleme aufgetreten, ihm a) die Schuld nachzuweisen und b) den Taterfolg zuzurechnen.

Sauerland bleibt einer der moralisch und politisch Verantwortlichen. Das ist eindeutig und bedarf keines Gerichtsurteils (im Gegenteil - ein Freispruch wäre ihm ja dienlich, da er ihn auch zur moralischen und politischen Entlastung nutzen könnte).

Insgesamt sollte man diese Fragen nicht vermischen - moralische, politische und rechtliche Verantwortung.

Rechtlich verantwortlich sind m.E. diejenigen Spitzenbeamten, die geltendes Recht anzuwenden hatten und dies anscheinend nicht getan haben. Ein Beamter, insbesondere des höheren Dienstes, muss auch "seinem" Oberbürgermeister die Stirn bieten und darf die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften nicht auf politischen Druck hin aufgeben.

Dass die Staatsanwaltschaft die Polizei sehr früh aus dem Verfahren ausschloss, wurde hier schon mehrfach, auch von Prof. Müller kritisiert.

Ich halte es ohnehin nicht für ideal, wenn gerade kommunales Versagen durch eine lokale Staatsanwaltschaft und vor einem lokalen Gericht verhandelt wird - aber das ist noch ein anderes Thema.

 

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Gast schrieb:

 

Insgesamt sollte man diese Fragen nicht vermischen - moralische, politische und rechtliche Verantwortung.

Rechtlich verantwortlich sind m.E. diejenigen Spitzenbeamten, die geltendes Recht anzuwenden hatten und dies anscheinend nicht getan haben. Ein Beamter, insbesondere des höheren Dienstes, muss auch "seinem" Oberbürgermeister die Stirn bieten und darf die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften nicht auf politischen Druck hin aufgeben.

Der Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner stand ja auch vor einer ähnlichen Problematik und hatte dann selber aber Verantwortung übernommen und - Beamter durch und durch - auch einen Aktenvermerk angefertigt, der ihm dann auch zum Verhängnis wurde, weil ein Staatsanwalt den entdeckte. Wer wird danach noch einmal Verantwortung übernehmen wollen?

 

Sehr geehrter herr Rudolphi,

Ich halte Ihren Vergleich (Beamter, der der geplanten Loveparade aus Sicherheitsgründen entgegentritt vs. Wolfgang Daschner, der die Androhung von Folter in einem Extremfall für richtig hielt) für eher fernliegend. Aber auch ansonsten ist Ihre Argumentation  widersprüchlich: "Verantwortung"  übernehmen heißt in diesem Zusammenhang doch gerade, dass man in vollem Bewusstsein der möglichen Konsequenzen handelt und bereit ist diese ggf. zu tragen. Wie kann diese Konsequenz  dann zugleich "Verhängnis" sein? Und wenn das offene Bekenntnis zu einer Handlung ("Aktenvermerk") automatisch dazu führen müsste, jemanden von Strafe/Sanktionen (= Verhängnis?) freizustellen, was wäre an dem offenen Bekenntnis denn noch riskant und wertvoll? Abgesehen davon wird/wurde bei der Würdigung eines Verhaltens ja durchaus berücksichtigt, mit welchen Motiven jemand gehandelt hat und in welchem Konflikt sich die Person gestellt sah ("Verhängnis" im konkr. Fall: Verwarnung mit Strafvorbehalt). Aber bitte jetzt nicht einen völlig anders gelagerten Fall mit der Loveparade2010 - Diskussion in Verbindung bringen.

Jemand, der der herrschenden Meinung in der Duisburger Politik 2010 ("Loveparade ist ne tolle Sache, das ziehen wir durch") entgegengetreten wäre ("Veranstaltungsort zu riskant, Zugangswege gefährlich"), wäre wohl das Risiko eingegangen, beschimpft zu werden. Vielleicht wäre es für künftige Beförderungen negativ gewesen. Aber eine Straftat wäre das ja wohl nie und nimmer.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Schulze schrieb:

Das Verfahren ist genauso sinnlos wie NS-Prozesse gegen 90-Jährige. Herauskommen wird nichts. Außer viel Presserummel.

Schärfster Widerspruch!

Auch die noch wenigen möglichen Verfahren gegen 90-Jährige sind bei Anstiftung, Beihilfe, Mittäterschaft usw. zu Mord durchzuführen mit Ermittlungen und Anklagen, denn Mord verjährt nicht mehr im Strafrecht. Auch wenn dann evtl. noch eine Verhandlungsunfähigkeit und später eine Haftunfähigkeit eintreten sollte. Das muß die deutsche aber Justiz unbedingt noch leisten, nachdem sie so viele Jahre das doch versäumt hatte.

Besten Gruß, Herr Schulze!

Günter Rudolphi

So negativ wie Kommentator Schulze sehe ich das nicht, denn auch eine gefühlte Aufklärung und Wahrheitsfindung vor einem abgeschlossenen Prozeß mit Urteil hat schon eine gewisse Wirkung für und auf alle Beteiligten und Zeugen.

Die Marschrichtung für die Verteidigung aber ist klar: Konsequentes Spielen auf Zeit, denn eine Verlängerung mit Elfmeterschießen ist ja defintiv ausgeschlossen.

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"Das Gesetz nimmt bei den  Verjährungsfristen Rücksicht auf die (maximale) Strafe bei dem angeklagten Sachverhalt, also auf die verwirklichte Schuld, nicht aber auf die Komplexität der Ermittlungen. Wird wegen einer Straftat, die höchstens mit fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, ermittelt, ist nach zehn Jahren "Schluss". Das führt im vorliegenden Fall zu den tatsächlich bedenklichen Folgerungen."

Volle Zustimmung.

Parallel dazu: Je komplexer der Sachverhalt, desto höher die Aussicht, die Justiz zu einem Deal bewegen zu können. Für komplexe Sachverhalte, für White-Collar-Crime fehlt der Justiz offenbar die fachliche und personelle Stärke. Den Banküberfall durch den bewaffneten Externen kann man verfolgen, den Banküberfall durch den Vorstand nicht.

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Sehr geehrter Herr Professor Müller,

könnten Sie freundlicherweise das Thema Verjährung noch einmal aufgreifen und näher erläutern?

Insbesondere interessiert mich die Frage, welche Rolle § 78b Abs. 3 StGB in diesem Fall spielt (oder spielen kann).

Herzlichen Dank

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Auch wenn ich nicht der Prof. Müller bin, aber vielleicht kann ich Ihnen auch schon weiterhelfen. Sie meinen offenbar den § 78c III StGB (nicht den § 78b III StGB). Die Sytematik des Verjärungsrechts im Strafrecht ist im Prinzip dieselbe wie im Zivilrecht. Das Gesetz teilt erstmal mit, welche Verjährungsfristen laufen. Im Zivilrecht meistens drei Jahre zum Jahresende, im Strafrecht meistens fünf Jahre taggenau. Dann teilt das Gesetz mit, wie die Verjährung wirksam unterbrochen werden kann. Im Zivilrecht z.B. durch Klageerhebung, im Strafrecht z.B. durch Beschuldigtenvernehmung (am einfachsten). Das Strafrechrt differenziert dabei zwischen Verfolgungsverjährung (§§ 78 ff StGB) und Vollstreckungsverjährung ( §§ 79 ff) StGB). An dieser Stelle kommen wir zum § 78c III StGB. Das Gesetz sagt - der eben beschriebenen Systematik folgend - zweierlei: 1) Die Verjährung beträgt längstens hier fünf Jahre mal zwei, also zehn Jahre. 2) Die Verjährung kann nur durch ein rechtskräftiges Strafurteil wirksam unterbrochen werden.  

An dieser Stelle setzt, in aller Unbescheidenheit, mein Vorschlag zur Änderung des Gesetzes ein: Es soll für die wirksame Unterbrechung der 10-Jahres-Frist ausreichen, dass ein Urteil des LG Duisburg vorliegt. Es ist zur Wirksamkmeit der Unterbrechung nicht notwendig, dass der BGH eines sehr fernen Tages die Revision verwirft oder sonstwie rechtskräftig über die Sache entscheidet.         

Noch zwei Nachsätze zu meiner "Gesetzesinitiative":

1)  Verfassungsrechtlich unproblematisch

Ich kann mich erinnern, an die Debatte 1965 über die Änderung der Verjährungsfrist für Mord von 20 Jahre auf unverjährbar. Damals wurde die verfassungsrechtliche Frage schon geklärt, dass es unter dem Gesichtspunkt der nulla poena sine lege zulässig ist, auch noch nach Tatbegehung die Verjährungsfrist zulasten des Beschuldigten zu ändern.

2) "Lex Loveparade" ist ebenfalls unproblematisch

Wenn die "Lex Holzmann" (ungefähr aus dem Jahr 2000) seinerzeit zulässig war, dann ist es eine "Lex Loveparade" allemal, oder dasselbe, ein bisschen akademischer umschrieben: Ein unzulässiges "Einzelfallgesetz" ist hier meilenweit entfent.  

 

 

RA Würdinger schrieb:

Ich kann mich erinnern, an die Debatte 1965 über die Änderung der Verjährungsfrist für Mord von 20 Jahre auf unverjährbar. . Damals wurde die verfassungsrechtliche Frage schon geklärt, dass es unter dem Gesichtspunkt der nulla poena sine lege zulässig ist, auch noch nach Tatbegehung die Verjährungsfrist zulasten des Beschuldigten zu ändern.

Da ich mich an diese Debatten auch noch erinnern kann, darum hier eine Darstellung, wie es von 20 Jahren auf zuerst 30 Jahre und danach auf keine Verjährung mehr kam:

Einzelne Rechtssysteme legen allerdings die entsprechenden Straftatbestände unterschiedlich aus, auch das deutsche Recht unterlag im letzten halben Jahrhundert diesbezüglichen Wandlungen. Was ein Mord ist, muss juristisch qualifiziert aufgearbeitet werden. Es ist für die Verjährung beziehungsweise Nicht-Verjährung höchst bedeutsam, denn andere Tötungsdelikte wie beispielsweise die fahrlässige Tötung, die im Straßenverkehr recht häufig vorkommt, verjähren schon nach fünf Jahren. [...]

Verjährungsdebatte zum Mord

Am 10. März 1965 debattierte das bundesdeutsche Parlament über die Verjährung von Mord, um nationalsozialistisches Unrecht weiter sühnen zu können. Es hatte zuvor eine ähnliche Debatte 1960 gegeben, danach gab es sie nochmals 1969 und 1979. Diese Debatten – vor allem 1965 – führten zur Aufhebung der Verjährung von Mord, deren Frist zuvor 20 Jahre betragen hatte. Der Zeitpunkt 1965 war daher 20 Jahre nach der deutschen Kapitulation vom Mai 1945 logisch.

Zunächst einmal setzte der Bundestag den Fristbeginn für die Verjährung neu auf 1949 (Gründungsjahr der Bundesrepublik) fest, bei der nächsten Debatte 1969 verlängerte das Parlament die Verjährungsfrist auf 30 Jahre, bis schließlich 1979 die Verjährung grundsätzlich aufgehoben wurde. Den Verjährungsdebatten zum Mord gingen umfangreiche Anträge voraus, die teilweise scheiterten.

Jedoch war die Aufhebung der Verjährung aus deutscher Sicht notwendig, denn die alten Verjährungsfristen stammten aus der letzten Fassung des seit 1900 geltenden BGB (wiederum übernommen aus dem Vorläuferrecht von 1871), als man massenhafte Verbrechen, wie sie im 20. Jahrhundert und vor allem von den Nationalsozialisten verübt worden waren, noch nicht gekannt hatte.

Wenn aber ab 1979 die Verjährung von Mord generell aufzuheben war, weil immer noch nicht alle nationalsozialistischen Morde gesühnt worden waren, dann musste man die Verjährung für alle Morde, nicht nur für Massen-, Völker-, Rassen- und Politikmorde aufheben. Das führte zur heute gültigen Rechtsprechung in Deutschland, nach welcher Mord nicht mehr verjährt.

https://www.verjaehrungsfristen.org/mord/

Sehe ich nicht unbedingt als zwingend an ("Lex Loveparade"), denn die Verjährungsfrist für Mord von 20 auf 30 und dann auf unendlich zu erhöhen, erfolgte ja wegen der Massenmorde aus der NS-Zeit. Hier gibt es aber keinen Mordvorwurf, sondern höchsten den der fahrlässigen Tötung, wenn auch von einer zweistelligen Zahl von Menschen. Das sind zwei verschiedene Ligen, aber auch beim Mißbrauch wären die Verjährungsfristen dann doch einmal insgesamt neu zu ordnen.

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Mir kam es natürlich nicht auf einen Vergleich mit dem Dritten Reich an, da missverstehen Sie mich. Mir ging es vielmehr nur darum, dass die verfassungsrechtliche Vorfrage in Hinblick auf nulla poena sine lege seither geklärt ist.

Darum ging es mir auch nicht, Herr Würdinger. Das "nulla poena sine lege" beziehe ich auf die zu erwartende Strafe beim Begehen der Tat, nicht auf die geltende Verjährung bei der Tatbegehung selber bzw. auf die bereits eingetretene Verjährung.

(NS-Straftaten haben da schon eine Problematik, die auch bei den Nürnberger Prozessen ja auftrat, als  völkerrechtlich neue  Straftatbestände damit eingeführt wurden. Die Nürnberger Prozesse aber wurden ja sowieso nicht nach deutschem Recht geführt btw.)

Aber angesichts dieser Problematik mit der Verjährung bei der Loveparade 2010 wäre m.E. mal der Gesetzgeber wieder aufgerufen, Mißbrauch verjährt ja auch ganz unterschiedlich.

Zitat:

Für Taten, die schon verjährt waren, als der § 78b StGB im Jahre 1994 eingeführt wurde, gilt dies selbstverständlich nicht. Konkret: War die Tat im Jahre 1994 bereits verjährt, kann sie trotzdem die Verjährungsfrist durch § 78b Absatz 1 Nr. 1 StGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres hinausgeschoben wird, nicht mehr verfolgt werden.

https://strafverteidigung-hamburg.com/955/verjahrung-von-kindesmissbrauch/

Mir fehlt da eine Systematik, aber die fehlt mir oft bei der ganzen Justiz, mit Verlaub.

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Zu Ihrem 2)

Hier scheint mir eine semantische Nachlässigkeit vorzuliegen. 

Die Verjährung wird ja im eigentlichen Sinne mit rechtskräftigem Urteil nicht wirksam "unterbrochen". Sie "entfällt" doch vielmehr.

Man kann sich daher dem Problem auch anders nähern:

Ist es nicht so, dass die Verjährungsunterbrechung durch Ablauf der absoluten Frist aufgehoben wird? 

Wie ist das denn bei der Vollstreckungsverjährung? Wirkt die bei einer Gefägnisstrafe auch nach Haftantritt ebenso? d.h., dass eine 5 jährige Haftstrafe sich plötzlich auf 3 Monate verkürzen kann?

Ich weiss es nicht, aber mir fallen dafür nun wirklich keine sachlichen Gründe ein. 

Analog könnte man doch plädieren, dass ein laufendes Hauptverfahren abgeschlossen werden können sollte.

 

 

Mit dem Odium der "semantischen Nachlässigkeit" haben Sie natürlich völlig Recht. Ich habe mich oben in meiner Darstellung des Verjährungsrechts auf das Aller-Wesentlichste beschränkt. Die Damen und Herren Kollegen im Publikum mögen mir das verzeihen. Aber an der Sache ändert sich dadurch nichts: Nach der geltenden Prozessrechtslage brauchen die Verteidiger tatsächlich nur genüsslich auf Zeit zu spielen (die Frau Zschäpe macht das ja im NSU-Prozess "mustergültig" vor), alles andere erledigt sich von selbst. Das ist in vorliegendem Fall schlicht unerträglich! Also muss die Prozessrechtslage in diesem Punkt geändert werden. Darauf zielt mein Vorschlag. "Semantische Nachlässigkeiten" bitte ich mir verzeihen zu wollen.     

Ich wollte gar keine sprachlichen Angriff gegen Sie führen, ich wollte auf einen anderen Punkt hinaus:

Analog zur Vollstreckungsverjährung könnte man doch sagen die absolute Vervolgungsverjährung ist zwar eingetreten, wird aber erst nach Ablauf der Unterbrechung wirksam.

Dieses an Rechtsmissbrauch grenzende Verhalten des auf Zeitspielens würde damit nicht mehr den erwünschten Effekt erzielen.

Nach meinem Dafürhalten ist es eigentlich schon in der vorliegenden Fassung grammatikalisch möglich zu dieser Auffassung zu gelangen.

"Nach jeder Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem. Die Verfolgung ist jedoch spätestens verjährt,..."

Ihr Vorschlag ist in § 78 b (!) Abs 3 schon realisiert und schafft keine Abhilfe im laufenden Verfahren.

Ich hielte meine Lesart/Vorschlag eigentlich für unproblemtaisch und gerechter, was den Normzweck angeht.

Wird der Angeklagte freigesprochen, ist die Verfolgung beendet. Wird er verurteilt, kann er sich über die "Beschwer" weiterhin verfassungsrechtlich unbedenklich in Revision begeben.

Mir fallen ad-hoc keine Argumente ein, die dagegen sprechen sollten. (Analog zur Vollstreckungsverjährung)

Vielen Dank für die Ausführungen. Ich möchte aber tatsächlich auf § 78b Abs. 3 StGB hinaus und verstehen, warum dieser in dem hier behandelten Verfahren keine Rolle spielen wird.

"Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist."

Angenommen, das LG Duisburg urteilte in 2019, dann wäre doch das Revisionsverfahren auch über 2020 hinaus ohne Hindernis, da die Verjährung nach §78b Abs. 3 StGB ruhte.

Ich lese hier aus den Kommentaren, dass dies nicht so zu sein scheint, verstehe aber noch nicht warum.

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Ja. § 78b Abs.3 StGB ist einschlägig. D.h., das LG Düsseldorf muss bis Juli 2020 ein Urteil sprechen, danach ruht (bis zur Rechtskraft) die Verjährung. Die Rechstmittelinstanz kann dann ohne Zeitdruck durchgeführt werden. ich hatte mich zuvor durch  eine Kommentarstelle irritieren lassen, die aber nur den Fall betraf, dass die Verjährung erst in der Rechtsmittelinstanz auffällt. Deshalb habe ich meine obigen Kommentare korrigiert.

O.k., dann muss uns Prof. Müller wohl noch einmal seine Bemerkung erklären, die er oben gemacht hat. Er sagte:

"Wird ein Urteil gefällt, aber nicht bis zum Ablauf der Verjährung rechtskräftig, erfolgt wegen des Verfahrenshindernisses die Einstellung. Das gilt ggf. auch noch in der Revisionsinstanz."

Ich frage mich nun auch: Wie passt das zu § 78b III StGB?

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