Strafzumessung als Lotterie gefährdet den Rechtsstaat

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 31.08.2017
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologieMaterielles Strafrecht34|14136 Aufrufe

Zunächst die Selbstkritik: Während wir in der Strafrechtswissenschaft über jedes Detail eines Tatbestandsmerkmals, über diffizile Voraussetzungen von Verbots- und Tatbestandsirrtum, Notwehrprovokationen und -überschreitungen diskutieren, Aufsätze schreiben und Vorträge halten, spielt sich das für Medienöffentlichkeit und den "Normalbürger" bzw. Wähler viel wichtigere Geschehen weitgehend unbelastet von rechtswissenschaftlicher Begleitung ab: Das geltende Recht der Strafzumessung erlaubt es den Gerichten, zwischen einer Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen und subjektiven wie objektiven Erwägungen in relativ großen Spielräumen frei von klaren Regeln Strafzumessungsgründe miteinander abzuwägen und die für den Betroffenen wichtigste Entscheidung über Freiheit und Unfreiheit zu treffen.

Aktueller Anlass meines Beitrags ist die Verurteilung eines 21jährigen nicht vorbestraften Niederländers, der bei den Demonstrationen gegen den G20-Gipfel Flaschen auf Polizeibeamte geworfen haben soll (ohne Verletzungsfolgen). Der Strafrichter verurteilte ihn zu 2 Jahren und 7 Monaten Freiheitsstrafe (Näheres hier im Bericht des Stern). Diese Strafe liegt durchaus im Spielraum der für die verletzten Tatbestände (§§ 113, 114, 125a StGB) angedrohten Strafen, kann aber - im Vergleich  zu früheren Urteilen bei ähnlichen Vorwürfen und im Vergleich zur Forderung der Staatsanwaltschaft (21 Monate ohne Bew.) als "hart" eingestuft werden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig und wird möglicherweise in der Berufungsinstanz noch korrigiert.

Ganz anders fiel das Urteil des AG Dresden gegen einen Teilnehmer an einer Pegida-Demonstration aus. Er hatte einem Kameramann des russischen Fernsehens mit einem gezielten Faustschlag einen Schädelknochen gebrochen. Laut Zeitungsbericht war er bereits neunmal wegen Straftaten bei Fußballspielen von Dynamo Dresden vorbestraft und beging die Tat innerhalb einer Bewährungszeit.  Nach seinem Geständnis („Ich wollte aber nicht gefilmt werden. Ich war doch so betrunken" - Tag24) wurde er zu einer Geldstrafe von knapp 5000 Euro verurteilt (Tagessatzanzahl nicht bekannt). Auf Rechtsmittel wurde verzichtet. Ein, jedenfalls aus meiner Sicht, kaum verständlich mildes Urteil.

Es sind unterschiedliche Taten vor unterschiedlichem Hintergrund von unterschiedlichen Personen an unterschiedlichen Opfern begangen. Doch meine ich, dass die Ergebnisse sich wie ein Lotteriespiel ausnehmen, denn selbst wenn man die Spielräume der Gerichte und die notwendige Berücksichtigung der Einzelperson (persönliche Tatschuld) einbezieht, hätte man in beiden Fällen wohl kaum solche Urteile prognostiziert. Die Botschaft des Hamburger Urteils ist wohl: Nach den eklatanten Ausschreitungen in Hamburg muss jetzt hart durchgegriffen werden, um künftige Demonstrationsteilnehmer von Gewaltakten und Widerstandshandlungen gegen Polizisten abzuschrecken und um den Eindruck zu kompensieren, der Staat habe in Hamburg teilweise die Kontrolle verloren. Die Botschaft des Dresdner Urteils lautet dagegen: Wir haben Verständnis dafür, wenn man als besorgter Bürger unter Alkoholeinfluss seinen Frust gewaltsam an anderen auslässt, Straftaten kann der Staat auch beim zehnten Mal noch tolerieren, solange der Täter den Vorwurf einräumt.

Erschreckend: Für beide Ergebnisse finden sich wohl Begründungen im geltenden Recht, das eben in der Strafzumessung keine klaren Regeln setzt, sondern anscheinend auch willkürliche Wertungen nach politischer und regionaler Tagesstimmung zulässt.

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34 Kommentare

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Ich stimme zu, dass das gruselig ist, aber haben Sie auch einen Vorschlag, wie der Rechtsstaat die Lotterie verhindern kann? Die jeweiligen Richter sehen das sicher nicht als willkürliche Wertung nach politischer oder regionaler Tagesstimmung an, sondern als wohlabgewogenes Ergebnis richterlicher Unabhängigkeit.

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Man müsste sich Gedanken darüber machen, wie Strafzumessungsregeln präziser gesetzlich formuliert werden können, ohne dass eine gerechte Beurteilung des Einzelfalls dadurch ausgeschlossen wird. Die richterliche Unabhängigkeit besteht nicht gegenüber dem Gesetz. Der bisherige § 46 StGB ist zu unbestimmt.

Lieber Herr Müller,

in der Strafrechtswissenschaft wird durchaus schon seit geraumer Zeit versucht, die Regeln der Strafzumessung dergestalt zu präzisieren, dass intersubjektiv vermittelbare und einheitliche Entscheidungen im Einzelfall möglich sind. Dies läuft unter der Überschrift der Lehre von der "tatproportionalen Strafzumessung". Zum Beispiel die Berliner Kollegin Tatjana Hörnle hat sich damit in ihrer lesenswerten Dissertation ("Tatproportionale Strafzumessung", Berlin 1999) intensiv auseinandergesetzt. Zum Umsetzung ihrer - wie ich finde - sehr beachtlichen Vorschläge, ist aber nicht nur der Gesetzgeber, sondern vor allem die Kriminologie - genauer: die kriminologische Schwereforschung - gefragt. Es würde gelten, aufgrund umfangreich empirisch fundierter Erkenntnisse über das Schwereempfinden der Bevölkerung, verbindliche Strafzumessungskataloge zu erstellen. Dabei würde sich die Strafzumessung strikt am verschuldeten Unrecht orientieren und Täterinterna (Motive etc.), die sich nicht in der Tat nach außen hin manifestiert haben, unberücksichtigt lassen. Die sich ergebenden Katalogstrafen wären freilich immer noch nicht "exakt" im Sinne einer Punktstrafe, würden dem richterlichen Ermessen im Einzelfall aber klare Grenzen ziehen. Dies scheint mir allerdings - nicht zuletzt aufgrund des Beharrens der Richterschaft auf ihre Unabhängigkeit, die sich in der heute vollkommen herrschenden "Spielraumtheorie" niederschlägt - praktisch kaum durchsetzbar.

Zudem bleibt bei mir der Eindruck, dass auch der Gesetzgeber an einer Veränderung kaum Interesse haben dürfte. Allzu gut lässt sich mit den aktuellen Hamburger Urteilen die "Härte des Rechtsstaats" aufzeigen, die im Wahlkampf von mancher Seite so gerne beschworen wird.

Herzliche Grüße aus Ludwigsburg,

Matthias Kelsch

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Hm, ich glaube, dass eine gesetzliche Vorgabe nicht an der "Unabhängigkeit" der Richter, die ja ans Gesetz gebunden sind.

Der kritische Punkt könnte evtl. Folgendes sein (BVerfG 2 BvR 2545/12): "Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen.!

Insofern  erscheint die Feststellung eines "verschuldeten Unrechts" ohne Blick auf "Täterinterna" (seine Geschichte etc.) widersprüchlich bzw. nicht möglich, oder?

Ein überzeugter Vertreter der tatproportionalen Strafzumessung würde das Problem, das Sie hier skizzieren, wohl gar nicht in dieser Form sehen.

"Verschuldet" ist für die Tatproportionalisten jedes Unrecht, dass im im Zustand zumindest teilweiser Schuldfähigkeit und ohne das Vorliegen von Entschuldigungsgründen begangen wird. Sie würden also den Zusatz "Verschulden des Täters" in der von Ihnen zitierten Entscheidung nur als einen limitierenden Faktor bezogen auf die "Schwere der Tat" (= das Tatunrecht) lesen. Kurz: Für Unrecht kann man nur vollumfänglich bestraft werden, soweit es einem vollumfänglich möglich war, das Unrecht der Tat einzusehen und sich entsprechend zu verhalten.

Bei der Frage der individuellen Schuldfähigkeit muss selbstverständlich auf Täterinterna geschaut werden. Dieses Vorgehen kann aber niemals dazu führen, dass die auszufällende Strafe höher ist als es der Unrechtsgehalt der Tat gebieten würde. Der letztere ist aus einer objektiven Opferperspektive zu bestimmen - was dazu führt, dass Innerlichkeiten, die das Opfer unmöglich wahrnehmen kann, ohne Relevanz sind - und empirisch zu unterfüttern.

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Hm, man bekommt dann nur ein gewisses Argumentationsproblem damit, dass das BVerfG ersichtlich die Schuld einerseits als quantitatives Element sieht, da ansonsten die Forderung nach einem Verhältnis der Strafe dazu nicht sinnvoll wäre, und andererseits das "und" doch recht eindeutig in die Richtung weist, dass Unrecht und Schuld jedenfalls nach der Auffassung des BVerfG jeweils selbstständigen die Strafbarkeit begrenzenden Charakter haben sollen, maW, das Unrecht nur ein das Maß der Schuld bestimmender Faktor ist... wenn man dieses Konzept dann als dem einfachen Gesetzgeber entzogenes Verfassungsrecht einstuft, dann dürfte eine Umsetzung der Proportionalität schwer werden... so jedenfalls verstehe ich das BVerfG und die hL. 

Unabhängig davon täte ich mich im Bereich der schwereren Kriminalität auch schwer, eine Strafe ohne genaues Ansehen der Person guten Gewissens verhängen zu wollen. Wie sehen Sie das? Der BGH scheint ähnliche Bedenken zu haben, wenn man sich die Einschränkungen bei den MordmerkmLen ansieht...

Ihre Interpretation der BVerfG-Rechtsprechung erfasst sicherlich das, was das Gericht gemeint hat.

Dieses Verständnis von Schuld ist historisch überkommen und hat sich - sieht man einmal von Exzessen in der Zeit des Nationalsozialismus ab als die Person des Täters allzu stark ins Zentrum der Urteilsfindung rückte - über die Zeit nicht wesentlich verändert. Eine Umsetzung der Tatproportionalität würde insofern einen klaren Bruch mit der Tradition bedeuten, die in den Worten des BVerfG zum Ausdruck kommt. Obwohl, wie ich versucht hatte darzulegen, rein grammatisch eine Übereinstimmung von Tatproportionalität und dem Spruch des BVerfG schon möglich ist.

Auf einer rein technischen Ebene würde ich daran erinnern, dass wir gerade nur über Verfassungsrechtsprechung und ein historisch überkommenes Verständnis reden. Beide können sich ändern. Das Schuldprinzip würde damit keineswegs abgeschafft, sondern nur anders interpretiert.

Normativ fällt mir eine Entscheidung schwerer. Wenn ich an Fälle wie den in Hamburg denke, in denen sich die Rechtsprechung bei der Strafzumessung erkennbar von Präventionserwägungen und dem Druck der Medienöffentlichkeit leiten lässt und die Strafe recht offensichtlich nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat steht, würde ich mir aber in jedem Fall mehr Tatproportionalität wünschen. Würde man sie praktisch umsetzen, müsste es aber vielleicht nicht die "reine Lehre" im Sinne einer ganz strengen, objektiven Tatproportionalität sein.

M.E. wäre es in jedem Fall wichtig, dafür zu sorgen, dass Gerichte keine härteren (bezogen auf den Unrechtsgehalt der Tat) Strafen mehr aus präventiven Gründen verhängen können. Schon allein deshalb, weil Abschreckung erwiesenermaßen nicht, oder nur in ganz eng umgrenzten Fällen, wirkt. Mit einer bloßen Hoffnung lässt sich die gesteigerte Intensität eines ohnehin schon sehr invasiven Grundrechtseingriffs nicht begründen. Tatproportionalität wäre ein geeignetes Instrument dem einen Riegel vorzuschieben.

Die Mordmerkmale sind nochmal ein anderes Thema. Hier muss man zunächst zwischen Strafbegründung und Strafzumessung differenzieren. Die Tatproportionalität lehnt nicht generell subjektive Tatbestandsmerkmale ab. Ohne Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht ließe sich ein Strafrecht nicht sinnvoll gestalten. Subjektive Elemente sind also bei der Strafbegründung ganz maßgeblich. Dort sind sie aber immer an den Wortlaut des Gesetzes gebunden und wirken strafbarkeitsbeschränkend. Wenn man das Mordmerkmal der "Heimtücke" so interpretiert, dass ein Täter, um es zu verwirklichen, subjektiv in einer feindlichen Willensrichtung handeln muss, ist das für einen Tatproportionalisten kein Problem.

Höchst problematisch ist allerdings das MM der "niederen Beweggründe". Hier wird Strafbarkeit aufgrund reiner Innerlichkeiten ausgeweitet. So sich ein "niedriger Beweggrund" - hier kommt die Frage hinzu, was das eigentlich sein solle - nicht auf die Tat niedergeschlagen hat, kann er an ihrem Unrechtsgehalt nichts beeinflussen und sollte auch auf die Strafhöhe keinen Einfluss haben. Ein Strafgericht wacht über die Einhaltung des Rechts, nicht über die der Moral. Da stimme ich den Tatproportionalisten zu.

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Im Ziel sind war uns da einig. Ich habe aber Bedenken, dass ein - bei richtiger Anwendung - aus humanistischer Sicht entscheidender die staatliche Strafgewalt zu Recht limitierender Faktor aus Furcht vor falscher Anwendung aufgegeben wird. Aus meiner Sicht droht auch bei Anknüpfung an die wahrgenommene Schwere des Delikts eine unverhältnismäßig hohe Strafe, wenn individuelle Gründe für Milde überwiegen. Dies kann, wenn pauschal und bestimmt die Strafe vorgegeben werden soll, wohl kaum vermieden werden. Exemplarisch zeigt sich das vielleicht an der fahrlässigen G Tötung in Straßenverkehr. Einerseits kann Eltern wohl nichts Schlimmeres zustoßen, als der Verlust des Kindes, andererseits kann ein tödlicher Unfall jedem Pendler täglich passieren. Subjektive Umstände wie Augenblicksversagen gegenüber grober Rücksichtslosigkeit machen aktuell möglicherweise den Unterschied zwischen einer Geldstrafe unterhalb des Vorstrafenbereichs und einer erheblichen Freiheitsstrafe aus und sind für das Opfer nicht in jedem Fall wahrnehmbar...

Wie würde man als Proportionalist eigtl das Machtstrukturen Nachtatverhalten erfassen? Geständnis, Entschuldigung, Wiedergutmachung, TOA? Vielleicht sollte ich mich aber auch erstmal einlesen, bevor ich das Forum hier zuspamme...

Zur Frage nach der Legitimation der Strafe vertrete ich eine recht komplexe Auffassung, die ich hier leider nicht im Einzelnen darlegen kann. Nur so viel: Ja, die Generalprävention ist ein Baustein zur Legitimation der Strafe als gesellschaftliche Institution. Bei der Zumessung der einzelnen Strafe darf sie m.E. schon aus den oben angedeuteten verfassungsrechtlichen Gründen keine Rolle spielen. Jedenfalls nicht insofern sie eine Schärfung der unrechtsangemessenen Strafe begründen soll.

Zur Begründung einer milderen Strafe, etwa in dem Fallbeispiel, das Sie skizziert haben, kann die Generalprävention aber durchaus herangezogen werden. Dies wird auch von den Tatproportionalisten so gesehen. Da mag man nun gewisse theoretische Inkonsistenzen ausmachen. Ich finde sie allerdings nicht so gravierend. Außerdem sind wir uns sicherlich einig, dass es letzten Endes darum geht, praktikable Lösungen zu finden und nicht darum, diese oder jene Theorie eins zu eins in die Realität umzusetzen.

Das Nachtatverhalten als strafzumessungsrelevanter Faktor wird von Frau Hörnle in ihrer Dissertation ganz ausführlich diskutiert. Das müsste Sie tatsächlich einmal dort nachlesen.

Ich glaube, dass das Hauptziel der Tatproportionalisten mit unserer Diskussion hier quasi bereits erreicht ist: Nämlich Anstoß für Gedanken darüber zu geben, ob das bestehende System verbessert werden muss und wo man ggf. dabei ansetzen könnte.

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"Wenn ich an Fälle wie den in Hamburg denke, in denen sich die Rechtsprechung bei der Strafzumessung erkennbar von Präventionserwägungen und dem Druck der Medienöffentlichkeit leiten lässt und die Strafe recht offensichtlich nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat steht"

Wie kommen Sie denn darauf?

Der Stern schreibt: "Schuldig gesprochen wurde der junge Mann letztendlich wegen schweren Landfriedensbruchs, besonders schweren Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und wegen Widerstands. Dafür wäre bei einem Verfahren vor dem Amtsgericht sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren möglich gewesen."

Die Strafe steht offensichtlich in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat. Dass vorsätzliche Gewalttaten oft nicht mit der erforderlichen Härte beestraft werden, kann doch wohl nicht der Maßstab sein.

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Wenn Sie das so sehen, werden wir uns dieser Stelle wohl nicht einig werden. Meines Erachtens ist für die Strafzumessung in erster Linie ausschlaggebend, was tatsächlich passiert ist, und nicht, was man von außen an sie heranträgt. M.E. sollte es für die individuelle Bestrafung des Täters keine Rolle spielen, dass das Gericht es gerade für wichtig hält, erlebnisorientierte Gewalttäter in der Hoffnung auf generalpräventive Effekte hart zu bestrafen. Was das tatsächliche Geschehen angeht, so würde ich insbesondere das Erfolgsunrecht der Tat als recht gering einschätzen. Schließlich wurde der angegriffene Polizeibeamte gottlob nicht verletzt, sondern hat nur einen kurzen Schmerz verspürt. Freilich bleibt es dabei, dass wir es mit einer vorsätzlichen Gewalttat zu tun haben. Dies ist aber bereits Voraussetzung dafür, dass der Straftatbestand überhaupt erfüllt ist. Ich würde in diesem Fall sicher nicht für die Mindeststrafe plädieren, doch die ausgefällt Strafe erscheint mir persönlich hoch.

Wirklich stoßen tue ich mich allerdings weniger an der Strafhöhe als eher an der Begründung. Insofern war mein obiger Kommentar wohl etwas zu scharf formuliert.

Trotzdem: Die Divergenzen in unseren individuellen Schwerebeurteilungen dieser Tat zeigen, dass größer angelegte empirische Untersuchungen dazu - so sie methodisch sinnvoll machbar sind - wichtig und spannend wären.

 

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Lieber Herr Kelsch,

selbstverständlich sind die Tatproprtionalitätsüberlegungen bekannt. Das ist ein wichtiger und auch gut nachvollziehbarer Ansatz, der aber, wie Sie richtig schreiben, emprirische Schwereeinschätzungsforschung zur Grundlage nimmt. Und diese Forschung hat wiederum einige methodische Hürden zu überwinden, vgl. dazu Müller, H.E.: Schwereeinschätzungsuntersuchungen nach Sellin und Wolfgang - fabrizierter Konsens? In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 74 (1991), S. 290 - 299. und Müller, H.E./Klocke, G.: Zur Renaissance der Vergeltung, in: Strafverteidiger 2014, S. 370-377.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

M.E. wird eine Entscheidung nach politischer Großwetterlage, politischer Beurteilung oder Tagesstimmung genauso wenig vom Gesetz gedeckt, wie eine solche, die unter dem Druck der Erwartungen der veröffentlichten Meinung erfolgen. Jede Entscheidung, mit der ersichtlich oder auch nur anscheinend eine Botschaft gesendet wird, was aber in Politik und Presse von der Justiz gefordert wird, ist schlicht falsch, weil sie nicht auf der individuellen Schuld des Täters, ausgehend vom verwirklichten Unrecht, beruht. Gesetzliche Präzisierungen, in der Regel ja die wohlfeile Anhebung von Strafrahmen, sind vor dem Schuldprinzip bedenklich, zB das Streichen des minder schweren Falls beim Einbruchsdiebstahl ist eine Katastrophe. Jedenfalls muss aber diskutiert werden, mE sollten Gerichtenund Staatsanwaltschaften in gemäßigten Stellungnahmen der Presse und Politik eher erklären, was ein Strafverfahren leisten kann und was nicht. Sich vor den Karren populärer oder populistischer Erwartungen spannen zu lassen, dürfte langfristig keinen Gewinn an Gerechtigkeit bringen.

Da über die Hälfte aller erfolgreichen Revisionen auf Fehlern bei der Strafzumessung beruht (Sander, StraFo 2010, 365), kann der willküranfällige Spielraum des Tatrichters so groß nicht sein.

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Ich denke, diese Aussage belegt eher meine Ansicht, als dass sie sie widerlegt, denn Revisionsanfälligkeit ist ein Zeichen für unklare gesetzliche Vorgaben: Zwar werden in der Revision extreme Abweichungen korrigiert; andererseits zeigt aber die Häufigkeit der (erfolgreichen) Revisionen, dass die Tatgerichte gerade hier oft "schwimmen", weil das Gesetz keine klaren Maßstäbe vorgibt. Und es wäre noch zu prüfen, ob die vom BGH bzw. den OLG angewendeten Maßstäbe so viel präziser sind, denn eigentlich müsste es ja dann mit den Jahren "besser" werden, weil die Gerichte "lernen".

Das OLG Hamburg hat in einer Haftentscheidung auch recht deutliche Worte zur Straferwartung und zur Jugendstrafe - falls Jugendstrafrecht überhaupt in Betracht komme - bei G20-Touristen gefunden ( NStZ 2017, 544). Die Verfassungsbeschwerde war erfolglos (2 BvR 1691/17).

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Ein aktuell besonders mißglücktes Stück strafgerichtlicher Strafzumessung findet sich heute bei Burhoff. Wenn das Opfer einer Vergewaltigung besonders unattraktiv ist, gilt das als starfschärfend. Im Umkehrschluss heißt dann das wohl, dass es strafmildernd zu werten ist, wenn das Vergewaltigungsopfer attraktiv ist. Das OLG Bamberg (B. v. 24.08.2017 - 3 OLG 7 Ss 70/17) hat diese Strafzumessungserwägung des LG Coburg aufgehoben.

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Gelegentlich kommen solche Fehlleistungen in der Begründung vor, die man auch relativ leicht durch Revision entschärfen kann. Mein Beitrag geht allerdings in eine etwas andere richtung, nämlich dahin, dass auch ganz ohne erkennbare Rechtsfehler die Strafzumessung weit auseinanderliegende Ergebnisse zulässt, weil die (zulässigen) Kriterien nahezu willkürlich kombiniert werden können.
 

Wenn gilt "Für beide Ergebnisse finden sich wohl Begründungen im geltenden Recht", wie können sich dann "die Ergebnisse wie ein Lotteriespiel ausnehmen"?

Viel spannender finde ich allerdings die Frage: Warum ist das erst jetzt erschreckend? Urteile, über die die Bürger den Kopf schütteln, gab es schon immer (ich denke, sie sind dem System mit seinen Vor- und Nachteilen immanent). Dass sie ausgerechnet in der derzeitigen, extrem aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre "erschreckend" sind, zeigt mir: Sie diskutieren das, weil Ihnen die Urteile nicht passen, weil sie sie politisch unerträglich finden.

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Sehr geehrte/r HN, 

Sie schreiben:

 

Wenn gilt "Für beide Ergebnisse finden sich wohl Begründungen im geltenden Recht", wie können sich dann "die Ergebnisse wie ein Lotteriespiel ausnehmen"?

Jede Zahl, die beim regulären Lotto gezogen wird, stammt aus der richtigen Trommel, dennoch ist es Zufall, welche Zahl gezogen wird. Viele Urteile lassen sich rechtsfehlerfrei begründen, dennoch erscheint es manchmal "zufällig", (wie im Lotto), welche Strafe/ welches Urteil bei welchem Fall angewendet wird. So war das gemeint.

Viel spannender finde ich allerdings die Frage: Warum ist das erst jetzt erschreckend? Urteile, über die die Bürger den Kopf schütteln, gab es schon immer (ich denke, sie sind dem System mit seinen Vor- und Nachteilen immanent).

Ich habe nicht behauptet, dass dies "erst jetzt" erschreckend ist und auch nicht bestritten, dass es schon immer solche Urteile gab, über die man den Kopf schüttelt. Dass ich es jetzt anspreche, liegt zugegebenermaßen daran, dass dies ein Blog ist, der eben zu aktuellen Themen Stellung nimmt. Ehrlich: Hätten Sie es denn gelesen, wenn ich dieses Thema schon vor einigen Monaten angesprochen hätte, als noch keine entsprechende Diskussion in den Medien existierte? Ich nehme mir außerdem das Recht heraus, zu Themen Stellung zu nehmen, zu denen man auch früher schon etwas hätte schreiben können.

ich denke, sie sind dem System mit seinen Vor- und Nachteilen immanent

Ich bin da optimistischer (vielleicht zu optimistisch?), da ich glaube, dass man auch ein funktionierendes Strafrechtssystem verbessern kann, wenn man Kritikpunkte identifiziert und Diskussionen anstößt. Auch das sehe ich als meine Aufgabe an. Und das ist ja auch in einer Demokratie so vorgesehen. 

Dass sie ausgerechnet in der derzeitigen, extrem aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre "erschreckend" sind, zeigt mir: Sie diskutieren das, weil Ihnen die Urteile nicht passen, weil sie sie politisch unerträglich finden.

Weder sehe ich, dass die derzeitige Situation für diese Fragestellung "extrem aufgeheizt" ist, noch kann ich Ihre Schlussfolgerung verstehen. Ich halte nicht die Urteile für politisch unerträglich, sondern die gesetzliche Regelung der Strafzumessung für stark verbesserungsbedürftig. Ich habe mir kurz überlegt, ob meine Kritik genauso ausfiele, wenn es bei den Demonstrationen um die umgekehrte politische Konstellation ginge, und ja, das wäre der Fall. Konkret: Ein neunfach vorbestrafter linker Demonstrant, der auf  auf einer G20-Demo einen Kameramann derart traktiert, sollte nach meiner Auffassung auch nicht mit Geldstrafe davonkommen, der Flaschenwurf gegen Polizisten auf einer Pegida-Demo durch einen Nicht-Vorbestraften sollte auch nicht mit 2 Jahren / Monaten bestraft werden. Zudem: Es geht mir nicht primär darum, dass das eine Urteil zu hart, das andere zu milde ausfällt, sondern dass die gesetzlichen Kriterien der Strafzumessung derart sind, dass man daraus keine exakten Maßstäbe für die Beurteilung findet.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

 

"Sie diskutieren das, weil Ihnen die Urteile nicht passen"

Leider wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass es einen zweiten Aufguss bei LTO gibt. Das sieht nach "Kampagne" aus...

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LTO hatte mich gefragt, ob ich zum Thema noch einen Artikel schreiben möchte. Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, meine Auffassung noch einem breiteren Publikum vorzustellen (übrigens in einem zu 90 %  neu geschriebenen Artikel). Andere (v.a. Politiker, Polizeigewerkschafter, Fachleute u.ä.) werden auch immer wieder zum selben Thema in Talkshows eingeladen, ohne dass dies als "Kampagne" bezeichnet wird.  Im Übrigen bestreite ich nicht, selbst eine bestimmte Auffassung zu vertreten. Das liegt in der Natur eines "Blogs" zu aktuellen rechtlichen und rechtstatsächlichen Fragen. Das Strafrecht ist ohnehin keine unpolitische Angelegenheit. Wer sich für eine weitgehend neutrale Darstellung der geltenden Rechtsdogmatik interessiert, der kann sich in einem Lehrbuch informieren.

Ich kann mich noch gut an die Diskussion zum Urteil in der Sache Hoeneß erinnern. Das Gericht hätte eine Bewährungsstrafe genauso gut wie eine Haft von 10 Jahren begründen können.

 

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Modelle gibt es in Asien, in concreto Südkorea und -ich meine- Japan. Die Koreaner haben auf ein Jury-System umgestellt und hatten große Angstungen. Sie haben deshalb staatliche Kataloge aufgestellt, vergleichbar den Schmerzensgeld-Tabellen des ADAC. Also "KV mit Jochbeinfraktur, 3 Wo stat., Angekl. vorher vier mal § 316, § 21 im Sonderangebot dabei", macht 2 J 3 Mo. Die Asiaten sind aber nach meiner Kenntnis auch nicht sonderlich glücklich damit. Ansonsten wäre natürlich komplette  Strafmaßrevision möglich, was aber gerade in dem hier aufgezeigten/kritisierten kleinen Instanzenzug AG-LG-OLG zu 26 letztentscheidenden Gerichten mit vielleicht 120 (?) Senaten führt. Beim BGH sind es dann auch fünf. Eine Vereinheitlichung wäre dann nur durch dieses "Katalogsystem" möglich.

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Und wäre in Deutschland mit Blick auf das Schuldprinzip, wenn man dem denn Verfassungsrang zubilligt, problematisch, weil alle Hintergründe von Tat und Täter egal wären... also maximal für Massen-Bagatelle-Kriminalität geeignet, wo aber jetzt schon inoffizielle Taxen greifen (315c, 316)...

Strafzumessung ist sicher kein Thema, bei dem Theoretiker Nützliches leisten könnten. Eher ist der Gesetzgeber gefragt, wenn er denn typisieren möchte. So ganz falsch wäre das aus meiner Sicht nicht, wenn es jedenfalls für Gewalttaten engere Orientierungsrahmen gäbe, wobei Ausnahmen möglich sein sollten, aber umfassend zu begründen wären.

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Das BVerfG ist jetzt richtig sauer auf die schwindelnde Anwältin, die einen der inhaftierten "Rondenbarg-Beschuldigten" vertritt (siehe mein Posting zur Haftentscheidung des OLG Hamburg und hat ihr 600 € aufgebrummt:

2 BvR 1691/17 vom 27.09.

"Nach dieser Entscheidung ist der Kammer das polizeiliche Video, auf das die Verfassungsbeschwerde vielfach Bezug genommen, das sie aber nicht vorgelegt hat, bekannt geworden. Dieses Video (Gesamtlänge 12:28 Minuten) lässt deutlich erkennen, dass aus der schwarz gekleideten Menschenmenge auch mehrere Steine in Richtung der eingesetzten Polizeibeamten geworfen worden sind und keineswegs nur, wie die Verfassungsbeschwerde behauptet hat, „Bengalos und zwei Böller“. Der Vortrag der Bevollmächtigten zum Inhalt des Videos, mit dem zugleich der Eindruck erweckt wird, das Video in Augenschein genommen zu haben, erweist sich mithin in einem wesentlichen Aspekt als unrichtig. "

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s.a Giehring, Ungleichheiten in der Srafzumessungspraxis und die Strafzumessungslehre - Versuch einer Analyse aus der Sicht eines Strafzumessungswissenschaftlers; in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung. Empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog, 1989, S.77-125

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Zum Stichwort Strafzumessungserwägungen fällt mir immer wieder dieselbe uralte Anekdote ein:

Ein Einbrecher ist wegen zwei Einbrüchen angeklagt, einer tagsüber, einer nachts. Bei dem Einbruch tagsüber fällt strafschärfend ins Gewicht die besondere Dreistigkeit der Tatbegehung, nämlich tagsüber, unter aller Augen. Und bei dem Einbruch nachts fällt strafschärfend ins Gewicht, dass der Täter heimlich, im Schutze der Nacht, gehandelt hat.   

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