Loveparade Duisburg 2010 - nach mehr als acht Jahren: Gerlach-Gutachten belegt Ursachenkomplex mit Polizeibeteiligung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 13.09.2018

Am 23.09.2010, also knapp zwei Monate nach der Loveparade in Duisburg, die 21 Todesopfer und einige hundert Verletzte forderte, habe ich hier im Beck-Blog einen Beitrag unter der Überschrift

Love Parade-Unglück – zwei Monate nach den tragischen Ereignissen – im Internet weitgehend aufgeklärt

veröffentlicht.

Er fasste die Quintessenz der Beobachtungen, Video- und Foto-Zeugnisse sowie bis dahin öffentlich gewordene Dokumente aus der Planungs- und Genehmigungsphase zusammen. Ich kam als Fazit zu einem mehrstufig gestaffelten Ursachenkomplex, in dem die Planungen, die Genehmigung und die am Tag der Loveparade getätigten (Fehl-)Entscheidungen zusammengeführt wurden. Ich habe mich in den acht Jahren seither nur in wenigen Details korrigieren müssen. Einige Aspekte konnten im weiteren Verlauf, nach Bekanntwerden von weiteren Beweismitteln (etwa polizeilicher Funkverkehr), Zeugenaussagen, Aktenbestandteilen und der Anklageschrift präzisiert werden – etwa die damals noch nicht bekannten Öffnungs- und Schließzeiten der Vereinzelungsanlagen im entscheidenden Zeitraum, aber im Wesentlichen hat das Fazit von damals die mehrjährigen Ermittlungen und (bislang) einige Monate der Hauptverhandlung erstaunlich gut „überlebt“. Ich möchte daher diesen Beitrag vom September 2010 hier nochmals wörtlich wiedergeben:

"Schon bei der Planung der LoPa hat man nicht beachtet, dass der ohnehin problematische gemeinsame Ein- und Ausgang zwischen den Tunneleingängen und der oberen Rampe zwar knapp die erwarteten Besucherströme in einer Richtung verkraften konnte, aber nicht die (vorab angenommenen) Besuchermengen in beiden Richtungen. Durch Ein- und Ausgang hätten über mehrere Stunden hinweg laut Planung in der Summe hunderttausend und mehr Personen pro Stunde geschleust werden sollen. Trotz des erkennbaren Widerspruchs (60.000 Personen/Stunde  maximaler Durchgangsstrom in einer Richtung unter optimalen Bedingungen, 100.000 Personen/Stunde in gegenläufigen Richtungen für den Nachmittag geplant) wurde dieses unstimmige Konzept von den Veranstaltern geplant und von den zuständigen Behörden genehmigt.

Dass die Tunnel problematisch waren, war zwar jedem bewusst, aber man "plante" dieses Problem weg, indem man meinte, den Zustrom sicher steuern zu können. Für die Steuerung des Abstroms während der Veranstaltung (z.T. mehr als 50.000 Personen/Stunde wurden am Nachmittag erwartet) gab es kein Konzept. Und weder die zu einer Besuchersteuerung notwendige Anzahl von Ordnern, noch die dazu von den Experten vorab geforderten Lautsprecher waren am Veranstaltungstag vorhanden.

Das für die Veranstaltung geforderte Sicherheitskonzept enthielt eine Lücke gerade in dem (von allen) zuvor als sicherheitstechnisch problematisch angesehenen Eingangsbereich (der auch unklar mal dem Veranstaltungsgelände mal dem Straßengelände zugewiesen wurde und keinerlei Fluchtwege aufwies). Ein Konzept dafür, was man tun könne, wenn es dort zu Stauungen kommt, war nicht vorhanden. Entgegen dieser Lücke, die aus den veröffentlichten Dokumenten (einschließlich der Entfluchtungsanalyse) erkennbar ist, wurde die Veranstaltung genehmigt.

Die Auflagen der Genehmigung, die u.a. beinhalteten, die Zuwege und Fluchtwege von Hindernissen frei zu halten, wurden in eklatanter und gefährlicher Weise missachtet. Die Zu- und Abgangsrampe wies am Veranstaltungstag noch etliche Hindernisse auf: Zur Personenstromsteuerung ungeeignete Bauzäune, Brezlbuden, Polizeifahrzeuge hinter weiteren Bauzäunen. Ein Gulli und ein Schlagloch mit Baumwurzel wurde - Gipfel der Rücksichtslosigkeit - mit einem Bauzaun abgedeckt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab im Gedränge ein Stolpern oder Verhaken in diesem Bauzaun den unmittelbaren Ausschlag für viele der Todesfälle.

Als es dennoch zu Stauungen (wie nach der Entfluchtungsanalyse vorhersehbar und unvermeidlich zunächst am oberen Rampenende) kam, fehlte das Konzept für diesen Fall. Das "Pushen" durch Ordner und "Wegziehen" durch die Floats konnte bei der Anzahl der Besucher, die die Veranstaltung gerade verlassen wollten, nicht funktionieren: Es waren dort insgesamt zu viele Personen in beiden Richtungen für diesen Engbereich.

Man war nun auf ein adhoc-Konzept angewiesen und auf die Hilfe der Polizei. Die Polizei sperrte daraufhin an einer Engstelle auf der Mitte der Rampe den Zu- und Abgang. Gleichzeitig wurden in den Tunneln Sperren errichtet, um den Zugang zur Rampe zu hindern. Beide Sperrpositionen waren höchst ungeeignet. Sie widersprachen den vorab gegebenen Empfehlungen (Stauungen im Tunnel unbedingt vermeiden) und hatten erkennbar keine Entlastung zur Folge, sondern eine bloße Verlagerung und Verschärfung der Gefährdung. Durch die Platzierung der Sperre auf der Rampenmitte konzentrierte sich das Gedränge nunmehr im unteren Drittel der Rampe und an den Tunnelausgängen. Da die feststeckenden Besucher (die teilweise schon stundenlang auf den Zuwegen verbracht hatten) weiterhin nicht per Lautsprecher  informiert wurden, suchten sie selbst Auswege aus dem Dilemma - Masten, v.a. eine Treppe, Container, mit der Folge, dass sich das Gedränge in den Richtungen dieser vermeintlichen Auswege noch verschärfte und es hier über Minuten zu Massenturbulenzen kam.

Die Sperren in den Tunneln wurden schon zeitlich vor der Sperre auf der Rampenmitte aufgelöst bzw. überrannt, so dass sich das Gedränge auf dem unteren Rampendrittel nochmal verschärfte. Offenbar war auch die Funk-Kommunikation zwischen den Sicherheitsbehörden und sogar der Polizei untereinander gestört. Niemand wusste zeitweise, was er oder die anderen taten, welche Sperren geöffnet, welche geschlossen waren. Zu spät wurde eine Sperre am oberen Rampenende aktiviert, und die Abströmenden über die zweite Rampe (Korrektur: Abströmende zunächst blockiert, später über die Notausgänge) geschickt. Und auch als der Weg nach oben wieder relativ "frei" war, konnten das die im Gedränge feststeckenden nicht erkennen - niemand informierte sie.

Die genannten Umstände führten - zusammen - zur Katastrophe. Entgegen den vorherigen Ankündigungen (Sicherheit hat Vorrang) hat man diese in entscheidenden Punkten vernachlässigt. Bei allen drei "Akteuren" (Veranstalter, Stadt, Polizei) lassen sich meiner Meinung nach fahrlässige Handlungen und Unterlassungen feststellen, die Tod und Verletzung zurechenbar mitverursachten und zu einer Anklageerhebung wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) oder Körperverletzung (§ 229 StGB) führen könnten. Die genaue institutionelle "Zuständigkeit" für jede dieser Fahrlässigkeiten ist allerdings noch in der Diskussion, auf den entsprechenden Internetseiten und hier im Blog. Und die im Strafrecht notwendige individuelle Zurechnung ist m.E. Sache der Staatsanwaltschaft."

Soweit mein Text vom September 2010. Eine Hauptabweichung von diesem Fazit war im Verlauf des Ermittlungsverfahrens die Würdigung der Staatsanwaltschaft, mit der sie auf die Anklage von Personen aus der Polizei verzichtet hat. Bei meiner Kritik an dieser Entscheidung ging und geht es mir weniger darum, ob man den Polizeibeamten tatsächlich (im Ergebnis) einen Schuldvorwurf machen konnte, denn anders als die Planer und Genehmiger hatten sie nicht wochenlang Zeit, um Entscheidungen zu treffen, sondern sollten spontan auf eine Gefahr reagieren. Nein, außergewöhnlich und mit den Tatsachen absolut nicht im Einklang stand die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, polizeiliche Handlungen – insbesondere die Polizeiketten – hätten mit dem zum Tod führenden Ursachenkette nichts zu tun. Das Geschehen sei vielmehr – ganz unabhängig vom Tätigwerden der Polizei – vollkommen allein aus dem Planungs- und Genehmigungsprozess zu erklären. Diese Einschätzung, gepaart mit der Konzentration auf den Sachverständigen Keith Still, musste scheitern und war auch mitverantwortlich für die wesentliche Verzögerung des Zwischenverfahrens.

Ich habe mich seither immer wieder in den hiesigen Beiträgen und Diskussionen gegen diese staatsanwaltliche Interpretation gewendet. Allerdings: Anders als die jetzige Verteidigung im Hauptverfahren, habe ich auch immer wieder ausgeführt, dass durch eine Mitverantwortlichkeit der Polizei die Firma Lopavent und die Stadt Duisburg keineswegs von ihrer Verantwortung für diese eklatant fehlgeplante Veranstaltung entlastet werden.

Nun ist das sehr umfangreiche schriftliche Gutachten des Sachverständigen Gerlach bekannt geworden
(WDR-Bericht)  und auch ich kenne seit wenigen Tagen dieses Gutachten. Die Quintessenz, die im Text und auch auf etlichen Diagrammen klar und überzeugend dargestellt wird und auf vielen hundert Seiten detailreich belegt wird: Den Todesfällen und Verletzungen in der Massenturbulenz lag ein komplexes Ursachensystem zugrunde, das von Handlungen und Unterlassungen in der Planung und Genehmigungsphase bis zu Fehlentscheidungen am Tag der Loveparade und zu den ungeeigneten Polizeiketten reicht. Das Gutachten bestätigt meine Einschätzung vom September 2010, es kommt ihr im Resultat sehr nahe.

Das auf den ersten Blick positive Gefühl aufgrund dieser Bestätigung, wendet sich aber sogleich ins Negative: Erst jetzt, nach einer ewig langen Wartezeit für die Opfer und Angehörigen der Opfer, und zu einer Zeit, in der sich viele Zeugen nicht mehr oder nur ungenau erinnern, erst jetzt nähert sich die Beweisaufnahme mittels des Sachverständigen Gerlach der Wahrheit. Das ist nicht die Schuld des Sachverständigen, denn er wurde ja erst spät eingeschaltet und er hat sogar in relativ kurzer Zeit sein klares und überzeugendes Gutachten erstellt. Aber dieses Gutachten löst eben auch ein bisschen Verzweiflung aus: Technische Laien (wie auch ich) konnten vor acht Jahren anhand von Internetrecherchen bereits erkennen, worin die Ursachen des Unglückgeschehens lagen und mussten sodann mit Erschrecken feststellen, wie ein Ermittlungsverfahren jahrelang verzögert wurde bis (fast) an die Grenze der absoluten Verjährung.

Links zu früheren Beiträgen und Diskussioneen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:

Juli 2018: Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später (11 Kommentare, ca. 2700 Aufrufe)

März 2018: Loveparade 2010 - Der Gullydeckel/Bauzaun-Komplex in der Hauptverhandlung (11 Kommentare, ca. 3500 Aufrufe)

Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 10000 Aufrufe)

Juli 2017: Loveparade 2010 - sieben Jahre später: Hauptverhandlung in Sichtweite (61 Kommentare, ca. 5100 Aufrufe)

April 2017: Loveparade 2010 – OLG Düsseldorf lässt Anklage zu. Hauptverhandlung nach sieben Jahren (105 Kommentare, ca. 7500 Aufrufe)

Juli 2016: Loveparade 2010 - nach sechs Jahren noch kein Hauptverfahren (76 Kommentare, ca. 9200 Abrufe)

April 2016: Loveparade Duisburg 2010 - Fahrlässigkeiten, 21 Tote, keine Hauptverhandlung? (252 Kommentare, ca. 115000 Abrufe)

Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)

Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 8000 Aufrufe)

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 30000 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 39000 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 37000 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 26500 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 43000 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 51000 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Loveparade Selbsthilfe

Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

Rechtswissenschaftlicher Aufsatz von Thomas Grosse-Wilde: Verloren im Dickicht von Kausalität und Erfolgszurechnung. Über "Alleinursachen", "Mitursachen", "Hinwegdenken", "Hinzudenken", "Risikorealisierungen" und "Unumkehrbarkeitszeitpunkte" im Love Parade-Verfahren, in: ZIS 2017, 638 - 661.

Der Anklagesatz

Blog von Thomas Feltes zur Hauptverhandlung

Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)

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