Nochmals: LG München I: Fusion von Linde und Praxair

von Dr. Klaus von der Linden, veröffentlicht am 29.01.2019

LG München I v. 20.12.2018 – 5HK O 15236/17, BeckRS 2018, 36419 meint, die jüngst vollzogene Fusion von Linde AG und Praxair, Inc. habe keiner Mitwirkung der Hauptversammlung bedurft. Dies sei Folge der besonderen Transaktionsstruktur, die keine „klassische“ Verschmelzung vorsehe. Über dieses Ergebnis habe ich hier bereits berichtet. Nunmehr liegen die Urteilsgründe vor. Sie geben Anlass, das Thema abermals zu betrachten – etwas näher:

Der Sachverhalt in aller Kürze:

Es geht um den jüngst vollzogenen Zusammenschluss der Linde AG und der Praxair, Inc. zum weltweit größten Industriegas-Konzern. Das vorbereitende Business Combination Agreement – kurz: BCA – zwischen Linde und Praxair wurde im Juni 2017 geschlossen. Es sah vor, dass beide Unternehmen sich unter einer gemeinsamen neuen Holding vereinen – der Linde plc mit Sitz in Dublin. Zur Umsetzung unterbreitete die Linde plc den Aktionären der Linde AG ein öffentliches Tauschangebot nach dem WpÜG. Es besagte, dass jeder Aktionär bei der Linde AG „aus-“ und stattdessen bei der Linde plc als neuer Obergesellschaft „einsteigen“ konnte – ganz nach Belieben. Tatsächlich fand das Angebot breiten Zuspruch. Nur rd. 8% der Aktien verblieben in den Händen von Minderheitsaktionären. Und dies auch nur vorübergehend – denn es folgte alsbald ein Squeeze-out, beschlossen mit den Stimmen der neuen Hauptaktionärin Linde plc im Rahmen einer außerordentlichen Hauptversammlung.

Auf diesen letzten Schritt – den Squeeze-out der verbliebenen Minderheit – soll es hier nicht weiter ankommen. Im Fokus steht vielmehr der Weg dorthin, sprich: das im BCA vorgezeichnete Tauschangebot und die damit verbundene Vereinigung von Linde und Praxair unter einer neuen gemeinsamen Holding. Dieses Fusionsmodell ist keineswegs neu. Es kam in der Praxis bereits mehrfach zur Anwendung, etwa bei den beabsichtigten, schlussendlich aber nicht umgesetzten Fusionen Deutsche Börse/NYSE und Deutsche Börse/LSE. Auch bei diesen früheren Transaktionen wurde die Hauptversammlung nicht eingebunden. Dafür bestand auch kein Anlass. Denn nach h.M. gibt es bei dieser Transaktionsstruktur keine Zuständigkeit der Hauptversammlung, und zwar weder eine geschriebene noch eine ungeschriebene – auch und insbesondere nicht nach altbekannten Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen. Eine Vorlage an die Hauptversammlung wäre allenfalls denkbar auf freiwilliger Basis nach § 119 Abs. 2 AktG.

Dem entspricht es, dass der Linde-Vorstand im Vorfeld der oHV 2017 ein Verlangen der DSW gem. § 122 Abs. 2 AktG zurückwies. Allein, die DSW ließ dies nicht auf sich beruhen, sondern suchte gerichtliche Klärung. Zwar wählte sie nicht den Weg der Selbstvornahme nach § 122 Abs. 3 AktG. Sie erhob aber eine nachträgliche Feststellungsklage. Ihre Kernthese lautete, wegen der wirtschaftlichen Tragweite des Zusammenschlusses und der (nachteiligen) Auswirkungen auf die Rechtstellung der Aktionäre sei eine (neue) HV-Kompetenz anzuerkennen. Und damit blieb die DSW nicht allein. Schützenhilfe erhielt sie von prominenten Stimmen im Schrifttum, in erster Linie Strohn, ZHR 182 (2018), 114; ebenso jüngst Hoffmann, in: Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 119 Rn. 33a.

Die 5. KfH des LG München I ist dem nicht gefolgt. Sie bestätigt also die tradierte h.M. Das ist meines Erachtens richtig und auch „rechtspolitisch“ wünschenswert – sowohl aus aktien- als auch aus übernahmerechtlicher Perspektive:

Das geschriebene Aktienrecht kennt schlechterdings keine Kompetenz der Hauptversammlung für Übernahmeangebote, auch nicht im Wege des Aktientauschs. Dies auch dann nicht, wenn die Übernahme in einem BCA vorgezeichnet ist und einem „höheren Ziel“ dient. Und auch mit „Holzmüller“ und „Gelatine“ hat eine solche Übernahme per Aktientausch nichts gemein: Das Gesellschaftsvermögen bleibt der Zielgesellschaft vollständig erhalten. Daher lässt sich auch nicht sagen, dass es den (kargen) Mitspracherechten der Aktionäre, etwa über die Verwendung des Bilanzgewinns, entzogen würde. Vielmehr beurteilt jeder Aktionär selbst, ob er das Übernahmeangebot annehmen und sich somit aus der Zielgesellschaft verabschieden möchte.

Und aus übernahmerechtlicher Sicht: Das WpÜG sieht ein geordnetes Verfahren für Übernahmeangebote vor – seien sie nun freiwilliger oder verpflichtender, freundlicher oder feindlicher Natur. Dabei nimmt es neben dem Bieter auch die Organe der Zielgesellschaft in die Pflicht: Erstens sind sie allein dem Interesse der Zielgesellschaft verpflichtet (§ 3 Abs. 3 WpÜG). Zweitens müssen sie eine begründete Stellungnahme abgeben (§ 27 WpüG). Und drittens: Der Vorstand darf den Erfolg des Übernahmeangebots nicht behindern (§ 33 WpÜG). Diese und andere Vorgaben des WpÜG gewähren der Zielgesellschaft und ihren Aktionären ausreichenden Schutz – und zwar auch ohne Beteiligung der Hauptversammlung. Daran ändert sich nichts, nur weil der Vorstand das Angebot mit dem Bieter abstimmt und es über ein BCA von vornherein in eine bestimmte Bahn lenkt.

Fazit: Die Entscheidung ist Pflichtlektüre für jeden Aktien- und Übernahmerechtler – gleich, wie man subjektiv zu ihrer Kernfrage steht.

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