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Reformpädagogik als geistiger Nährboden für sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener?

Bildungsjurist

2010-03-11 13:56

Die abscheulichen Fälle sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener an der renommierten Odenwaldschule in Heppenheim, einem reformpädagogischen Landschulerziehungsheim, durch den ehemaligen Schulleiter und Reformpädagogen Gerold Becker und weiteren Lehrern machen fassungslos. In seinem FAZ-Artikel „Dein Lehrer liebt Dich. Die verführerische Ideologie der Schulgemeinschaft“ vom 9. 3. 2010, S. 29, sucht Jürgen Kaube völlig zu Recht nach einer Erklärung für diese Ungeheuerlichkeit. Allerdings ist Kaube mit aller Entschiedenheit in seiner Intention zu widersprechen, die Taten zum Anlass für eine Generalabrechnung mit der Reformpädagogik zu nutzen. Denn Kaube sieht im sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule den Geist der Reformpädagogik am Werk. Der Reformpädagogik mit ihrem Ideal des ganzen Lebens und der Gemeinschaft, der ganzheitlichen Entwicklung von Kindern, der Freundschaft zwischen Lehren und Schülern sowie dem pädagogischen Eros der Lehrkräfte wohne eine Tendenz zum Totalitarismus inne, der erst den geistigen Nährboden für den sexuellen Missbrauch der Schüler bereitet habe.

Dass insbesondere in Deutschland vor dem Hintergrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit Gemeinschaft geradezu reflexhaft mit Totalitarismus oder Faschismus konnotiert wird, ist ein gewohntes Denkmuster. Doch als Erklärungsansatz  für den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen an Schulen mit reformpädagogischer Prägung ist es nicht tragfähig. Jedes Vertrauensverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern ist letztlich missbrauchsanfällig – ganz gleich ob in Bildungseinrichtungen, Vereinen, in der Familie oder in der Nachbarschaft. Die Missbrauchsgefahr ist kein Spezifikum der Reformpädagogik. Zumal Kaubes Behauptung eine Differenzierung vermissen lässt, gibt es doch nicht die eine Reformpädagogik, sondern eine bunte Vielfalt ganz unterschiedlicher reformpädagogischer Strömungen, die sich nicht ohne weiteres unter einige wenige Merkmale subsumieren lassen.

 

Aber damit nicht genug will der Autor die Reformpädagogik mit basaler soziologischer (Rollen-)Theorie aufklären: So erfährt der Leser, dass an Schulen nicht Kinder und Individuen, sondern Schüler und Klassen unterrichtet werden. Aus diesem nicht gerade anspruchsvollen Ansatz zieht Kaube Konsequenzen für die pädagogische Praxis: Schule sollte sich im Wesentlichen auf Wissensvermittlung in Form des Frontalunterrichts konzentrieren, um die Lehrer gewissermaßen auf Distanz von seinen Schülern zu halten.

Das von Kaube so gezeichnete Bild vom Schulunterricht entspricht nicht der Schulwirklichkeit und trägt gewiss nicht zur Lösung der großen Herausforderungen des Schulsystems bei. Durch Wissensvermittlung allein (Paukschule) lassen sich immer weniger Schüler pädagogisch erreichen. Dies zeigt sich mitunter an der Gewaltbereitschaft der Schüler, der bedenklichen Zahl der Schulunwilligen sowie sonstigen (selbst-)destruktiven Verhaltensweisen. Daher tut auch die Vermittlung von Werten not. Die Entstehung von Werten und Orientierungen stehen allerdings in einem notwendigen Zusammenhang mit gemeinschaftlichen Erlebnissen der Schüler untereinander, und dies auch unter Beteiligung ihrer Lehrer.

 

Die Reformpädagogik besitzt insoweit einen reichen Erfahrungsschatz an vielfach bewährten Ansätzen zur individuellen Förderung und positiv verstandenen Gemeinschaftsbildung an Schulen. Nicht grundlos sind zahlreiche reformpädagogische Ansätze vorbildhaft und haben Eingang in das staatliche Schulwesen gefunden. Zwar ist Kaube zuzugeben, dass Lehrer ihre Schüler mitnichten im emphatischen Sinne lieben müssen, aber Lehrer, denen ihre Schüler emotional gleichgültig sind, sollten den Beruf wechseln.

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