OLG Oldenburg: "Das AG Meißen stellt nicht alles auf den Kopf..."

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 26.05.2016
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Das AG Meißen hatte mit einem über 100-seitigen Urteil zu eso ES 3.0 für erhebliche Unruhe gesorgt. Das Urteil vom 29.05.2015 - 13 OWi 703 Js 21114/14 findet man etwa hier im Netz im Volltext bei der VUT: http://vut-verkehr.de/downloads/2015-05-29%20AG%20Meissen%20Freispruch%2...

Das OLG Oldenburg hat jetzt aber klargestellt: Durch das Urteil des AG Meißen ändert sich nichts! 

 

Bei einer Geschwindigkeitsmessung mit dem hier eingesetzten Einseitensensor ... handelt es sich um ein sog. standardisiertes Messverfahren. Standardisiert ist ein durch Regelungen vereinheitlichtes technisches Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (grundlegend BGH, Beschl. v. 19.08.1992, 4 StR 627/92, BGHSt 39, 291ff.).
8Diese Voraussetzungen erfüllt grundsätzlich auch die Geschwindigkeitsmessung mit dem Gerät ..., wenn sie von geschultem Messpersonal unter Beachtung der Betriebsanleitung des Geräteherstellers und der Zulassungsbedingungen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) durchgeführt wird (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 16.10.2009, 1 SsRs 71/09, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 02.08.2012, III-3 RBs 178/12, juris).
9Der Bauartzulassung des Geschwindigkeitsmessgerätes durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) kommt dabei die Funktion eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu. Die Zulassungsprüfung stellt ein von Gesetzes wegen angeordnetes Behördengutachten dar (§§ 13, 25 EichG i. V. m. §§ 16, 36 ff EO-AV). Mit der amtlichen Zulassung des Messgerätes bestätigt die PTB nach umfangreichen messtechnischen, technischen und administrativen Prüfungen sowie Festlegung der Eichprozeduren, dass sie die Ermittlung des Messwertes auf Grundlage der in der Gebrauchsanweisung festgelegten Vorgehensweise einer Sachverständigenprüfung unterzogen und die Messergebnisse als innerhalb einer zulässigen Toleranz liegend eingestuft hat (OLG Bamberg, Beschl. v. 22.10.2015, 2 Ss OWi 641/15, juris).
10Die Anerkennung von standardisierten Messverfahren dient dabei insbesondere dem Zweck, das Bußgeldverfahren im Hinblick auf seine vorrangige Bedeutung für die Massenverfahren des täglichen Lebens zu vereinfachen und Ermittlungsbehörden und Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung und Erörterung des Regelfalls freizustellen (BGH, a. a. O., OLG Bamberg, a. a. O.). Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass die Obergerichte durch eine Fülle von massenhaft vorkommenden Bagatellsachen blockiert und sie so für ihre eigentliche Aufgabe funktionsuntüchtig gemacht würden (BGH, a. a. O.)
2. Die Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens ergibt sich auch nicht aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Meißen vom 29.05.2015 (13 OWi 703 Js 21114/14, juris). In dieser Entscheidung war das Amtsgericht Meißen nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dem Ergebnis gelangt, dass das Geschwindigkeitsmessgerät ... bauartbedingte Fehlerquellen bei der Messwertbildung aufweise, die nicht innerhalb der zulässigen Verkehrsfehlergrenze lägen und auch nicht durch einen größeren Toleranzwert ausgeglichen werden könnten (AG Meißen, a.a.O, Rdn. 23.). Aufgrund dessen ist das dortige Amtsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die innerstaatliche Bauartzulassung durch die PTB nicht mehr geeignet sei, Gewähr dafür zu bieten, dass bei Beachtung ihrer Vorgaben mit dem ... Fahrzeuge zuverlässig im Straßenverkehr gemessen werden können (AG Meißen, a. a. O., Rdn. 582 ff.)
a) Zwar geht das Amtsgericht Meißen im Ansatz zutreffend davon aus, dass die von der PTB erteilten Bauartzulassungen nicht der richterlichen Kontrolle entzogen sind. Bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für strukturell angelegte Fehler des Geschwindigkeitsmessgerätes kann das Tatgericht vielmehr durch Bestellung eines Sachverständigen überprüfen, ob trotz einer Messung innerhalb der PTB Zulassung eine Fehlmessung vorliegt, die ihre Ursache in einem strukturell angelegten Fehler in der Messtechnik, der Messsoftware oder der Auswertungssoftware findet (vgl. hierzu OLG Frankfurt, Beschl. v. 04.12.2014, 2 Ss OWi 1041/14, Rdn. 21, juris).
b) Solche strukturell angelegten Fehler des Geschwindigkeitsmessgerätes vermochte das Amtsgericht Meißen in seiner Entscheidung indessen nicht aufzuzeigen.
(1) Das Amtsgericht Meißen stellt in seiner Entscheidung fest, dass das beim ... verwendete Messverfahren eine zu geringe Anzahl an Messwerten generiere, um ein charakteristisches Helligkeitsprofil zu erstellen. Für die Korrelationsprüfung müssten genügend geeignete Messwerte im Helligkeitsprofil vorhanden sein, um zu einem belastbaren Wert zu gelangen. Das beim … eingesetzte Verfahren zur Korrelationsprüfung sei ein zeitkritischer Prozess, dessen Rahmenbedingungen durch den Aufbau der Messanlage bestimmt würden. Zur Verfügung stehe der Zeitabschnitt, den das Objekt benötige, um eine Strecke von 3 m zwischen den Sensoren und der Fotolinie zurückzulegen. Da der ... mit einer konstanten Rate von 10 Tausendstelsekunden messe, hänge es von der Geschwindigkeit des zu messenden Objekts ab, wie viele Messwerte genommen werden könnten. Ein Objekt, das sich mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h bewege, lege die zur Verfügung stehende Strecke von 3,00 m in 0,108 Sekunden zurück. Somit stünden in diesem Fall lediglich 10 Messwerte zur Verfügung. Dies sei zur Erstellung eines charakteristischen Helligkeitsprofils zu wenig, zumal im Fall eines Fahrzeugs davon ausgegangen werden müsse, dass einige dieser 10 Messwerte wegen eines sich drehenden Rads verworfen werden müssten (AG Meißen, a. a. O., Rdn. 579 f.).
(2) Mit diesen Einwänden des Amtsgerichts Meißen hat sich die PTB in der dienstlichen Erklärung vom 12.01.2016 auseinandergesetzt. Bei Vorliegen eines strukturellen Fehlers eines Geschwindigkeitsmessgerätes kann die PTB die Zulassung entsprechend der neuen Erkenntnis aufheben oder abändern. Zu einem Tätigwerden in einem solchen Fall ist die PTB sogar gesetzlich verpflichtet (§ 25 a EO-AV). Zu einer Aufhebung oder Abänderung der Bauartzulassung sah sich die PTB allerdings aufgrund der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen nicht veranlasst. Vielmehr hat sie mit nachvollziehbarer und überzeugender Begründung die dargestellten Einwände zurückgewiesen. Dieser Wertung schließt sich der Senat an.
(3) Die dienstliche Erklärung war zwar nicht Gegenstand der hier angefochtenen Entscheidung; gleichwohl ist sie berücksichtigungsfähig. Denn sie stellt eine Ergänzung des antizipierten Sachverständigengutachtens der Bauartzulassung des Geschwindigkeitsmessgerätes ... dar. Ein solch ergänzendes Gutachten kann vom Rechtsbeschwerdegericht im Freibeweisverfahren in das Verfahren eingeführt und überprüft werden (für die Revisionsinstanz BGH, Urt. v. 01.02.1985, 2 StR 685,84, BGHSt 33, 133, 136; Meyer-Goßner/Schmidt, Strafprozessordnung, 58. Aufl., § 337 Rdn. 31).
(4) Wie sich der dienstlichen Erklärung der PTB entnehmen lässt, beruht das Urteil des Amtsgerichts Meißen auf gravierenden Missverständnissen bezüglich der Funktionsweise und Messwertbildung der ... Nach der Stellungnahme der PTB geht das Amtsgericht Meißen fehlerhaft von der Annahme aus, die Sensoren tasteten ihren Erfassungsbereich nur etwa alle 10 Millisekunden ab. Tatsächlich bestehe - wie aufgrund der detaillierten Analysen der Funktionsweise der Messwertbildung im Rahmen des Zulassungsverfahrens festgestellt worden sei - ein zeitlicher Abstand zwischen den Abtastwerten von 10 Mikrosekunden. Daraus resultiere eine um den Faktor 1000 höhere Anzahl an Abtastwerten, die der Geschwindigkeitsmessung zugrunde liege, als in der Urteilsbegründung ausgeführt. Bezogen auf eine Strecke von 3,00 m ergäben sich damit nicht- wie vom Amtsgericht Meißen angenommen - 10 Abtastwerte, sondern vielmehr eine Anzahl von 10.800 Abtastwerten.
Die Feststellung des Amtsgerichts Meißen, dass für die Ermittlung eines charakteristischen Helligkeitsprofils durch das streitgegenständliche Gerät zu wenige Abtastwerte ermittelt würden, ist vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Damit ist dem tragenden Argument der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen die Grundlage entzogen.
(5) Hieran vermag auch die vorgelegte Stellungnahme der VUT Verkehr vom 26.01.2016 nichts zu ändern. In dem zentralen Punkt der Anzahl der Abtastwerte pflichtet die VUT Verkehr der PTB bei und führt aus, dass die PTB den Zahlenwert richtig ermittelt hat (Stellungnahme VUT, S. 4, 2. Absatz), so dass selbst bei Zugrundelegung dieser Stellungnahme das Amtsgericht Meißen von einer falschen Grundannahme ausgeht.

Die übrigen Einwände der VUT Verkehr führen zu keinem anderen Ergebnis.
Die VUT Verkehr bemängelt, die PTB habe unbeantwortet gelassen, ob die durch das Gerät generierte Datenmenge ausreichend sei, um die tatsächliche Geschwindigkeit zu bestimmen. Zwar setzt sich die PTB mit dieser Fragestellung in ihrer Stellungnahme nicht ausdrücklich auseinander. Aus dem Umstand, dass die PTB unter Berücksichtigung der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen keinerlei Veranlassung zu einer Aufhebung oder Abänderung der Bauartzulassung gesehen hat, kann jedoch geschlossen werden, dass die PTB die durch das Gerät ... generierte Datenmenge für ausreichend erachtet.
Gleiches gilt im Hinblick auf die fehlende Auswertung der Rohmessdaten seitens der PTB. Die PTB führt nachvollziehbar aus, dass sie von einer Überprüfung der Rohmessdaten durch die Herstellerfirma abgesehen hat, weil der Hersteller dieselbe Software-Bibliothek (SpeedandDistance.dll) und damit denselben Auswertealgorithmus verwende, der auch im Messgerät implementiert sei. Im Rahmen des Bauartzulassungsverfahrens sei in detaillierten Untersuchungen verifiziert worden, dass die Software des Geschwindigkeitsüberwachungsgerätes ... die Helligkeitssignale einer jeden Fahrzeugvorbeifahrt korrekt bewerte und die vom Messgerät ausgegebenen Geschwindigkeitsmesswerte die Verkehrsfehlergrenzen einhielten. Die von der VUT Verkehr geforderte Untersuchung der Wechselwirkung zwischen dem Online-Dienst der Herstellerfirma und der Software-Bibliothek dll war aus diesem Grund nicht erforderlich.
c) Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen bestand damit kein Anlass, ein technisches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hat. Weil die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht erforderlich war, erübrigte sich auch die im Rahmen eines solchen Gutachtens vorzunehmende Untersuchung des Datensatzes der Messung beim Betroffenen.
d) Konkrete Einwände gegen die Messung und das Messergebnis sind nicht erhoben, so dass auch insoweit kein Anlass für das Amtsgericht bestand, den konkret durchgeführten Messvorgang gutachterlich überprüfen zu lassen.

 

OLG Oldenburg, Beschluss vom 18.04.2016 - 2 Ss (OWi) 57/16

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17 Kommentare

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abgesehen davon, dass das AG Meißen eine zu 99  % völlig nutzlose Fleißarbeit geleistet hat, denn wie sich aus der Entscheidung ergibt, hatte es schon wegen mangelnder Fahreridentifizierung den Betroffenen freizusprechen. Die Muße für 99 Seiten obiter muss man beim AG  erst mal haben (wollen).

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"Die VUT Verkehr bemängelt, die PTB habe unbeantwortet gelassen, ob die durch das Gerät generierte Datenmenge ausreichend sei, um die tatsächliche Geschwindigkeit zu bestimmen. Zwar setzt sich die PTB mit dieser Fragestellung in ihrer Stellungnahme nicht ausdrücklich auseinander. Aus dem Umstand, dass die PTB unter Berücksichtigung der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen keinerlei Veranlassung zu einer Aufhebung oder Abänderung der Bauartzulassung gesehen hat, kann jedoch geschlossen werden, dass die PTB die durch das Gerät ... generierte Datenmenge für ausreichend erachtet."

Das ist m. E. keine überzeugende Argumentation. Mit derselben Logik könnte ein VG entscheiden, Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit eines angefochtenen Bescheids bestünden nicht, weil die Klagegegnerin bei einer etwaigen Rechtswidrigkeit diesen ja aufgehoben hätte.

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Ich persönlich finde es etwas schade, dass das OLG Oldenburg die Entscheidung aus Meißen nur so kurz behandelt hat. In der Sache hat das OLG natürlich Recht, dass es nicht richtig sein kann, dass ein von der PTB zugelassenes und gültig geeichtes Gerät „ins Blaue hinein“ ohne konkreten Anhaltspunkt zu Meßfehlern im jeweiligen Einzelfall sachversdtändig überprüft wird.

Ablehnung verdient die Entscheidung aus Meißen m.E. aber vor allem deshalb, weil hier versucht wird, die Maßstäbe des naturwissenschaftlichen Beweisbegriffes als Maßstab für eine Verurteilung einzuführen. Es handelt sich damit in der Sache um den Versuch der einer Rückkehr der 1879 abgeschafften strengen Beweisregeln gegen den Willen des Gesetzgebers, welcher für eine Änderung des § 261 StPO zuständig wäre. Die Tendenz contra legem naturwissenschaftlich zwingende Beweisketten für eine Verurteilung zu fordern scheint mir auf dem Vormarsch zu sein. Eine Rückbesinnung auf den Sinn und Zweck des § 261 StPO kann da viele Unklarheiten beseitigen.

 

„Beweis“ meint im juristischen Sinne nicht die fehlerfreie Herleitung der Richtigkeit einer Aussage aus einer Menge von Axiomen, die als wahr vorausgesetzt werden, und anderen Aussagen, die bereits bewiesen sind (naturwissenschaftlicher Beweisbegriff). Für die Verurteilung ist notwendig, aber auch genügend, dass der Sachverhalt für den Tatrichter zweifelsfrei feststeht. Diese persönliche Gewissheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann (§ 261 StPO). Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung setzt das Gesetz dabei nicht voraus.

 

Das AG Meißen stellt in diesem Zusammenhang den Satz: "Auf Glauben kann das Gericht seine Entscheidung nicht stützen." auf (AG Meißen, Urteil vom 29.5.2015, Az.: 13 OWi 703 Js 21114/14, zitiert nach juris, Rn. 572). Hier umgeht das Amtsgericht Meißen die Pflicht des Gerichtes zur freien Beweiswürdigung durch einen im Gesetz nicht vorgesehenen Rückgriff auf den naturwissenschaftlichen Beweisbegriff. Nach § 261 StPO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. "Überzeugung" bedeutet: 1. (seltener) das Überzeugen, 2. feste, unerschütterliche [durch Nachprüfen eines Sachverhalts, durch Erfahrung gewonnene] Meinung; fester Glaube (http://www.duden.de/rechtschreibung/Ueberzeugung). Auch EInlassungen, Zeugenaussagen oder die Echtheit von Urkunden muss der Richter glauben oder eben nicht glauben. Das Urteil basiert dann darauf, welchen Tatsachen und Beweismitteln das Gericht Glauben schenkt und warum es das tut.

 

Auch das von Verteidigern und in der Literatur regelmäßig vorgebrachte Argument, die Verweigerung eines Sachverständigengutachtens unter Hinweis auf das standardisierte Messverfahren sei ein Zirkelschluss, weil ohne Sachverständigengutachten nicht festgestellt werden könne, ob die Voraussetzungen standardisierten Verfahrens vorlägen, verfängt nicht.

Diese Argumentation ignoriert, dass unter Hinweis auf das standardisierte Messverfahren die Beweiserhebung regelmäßig in den Fällen abgelehnt wird, in denen keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte für einen Messfehler vorliegen und ein solcher lediglich behauptet und mit Vermutungen begründet wird. Denn das Rechtsinstitut des standardisierten Messverfahrens dient ja gerade dazu, eine Sachverständigenbegutachtung von normalen Regelfällen zu vermeiden (BGHSt 39, 291, zitiert nach juris, Rn. 21). Die Prüfung, ob Anhaltspunkte für einen Fehler gegeben sind, der einen Regelfall ausschließt, kann logischerweise nicht darauf hinauslaufen, dass die Messung mithilfe eines Sachverständigen überprüft werden müsste. Denn wollte man dies fordern, so wäre das standardisierte Messverfahren letztlich ad absurdum geführt (OLG Bamberg, Beschluss 04.04.2016, Az.: 3 Ss OWi 1444/15, zitiert nach juris, Rn. 32).

 

 

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Das war lesenswert!

Eine Frage: Wenn das Gericht Beweise frei und ohne gesetzliche Beweisregeln zu würdigen hat, ist es dann falsch, wenn ein Gericht für eine Frage, die einer solchen Klärung zugänglich ist, einen Beweis im naturwissenschaftlichen Sinne fordert?

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Das Tatgericht ist in der Würdigung der Beweise nicht völlig frei. Sonst könnte es ja auch Vorurteile, Feindbilder oder "Ich habe jetzt keine Lust zu denken"-Argumente zur Beweiswürdigung heranziehen. Daher gibt es Fehler in der Beweiswürdigung, die zugleich auch Fehler in der Rechtsanwendung von § 261 StPO sind. Dazu gehören z.B. Logikfehler oder das Ignorieren von Teilen des Beweisergebnisses. Einer dieser klassischen Fehler ist das "Überspannen der Beweisanforderungen", d.h., dass zugunsten des Angeklagten eine günstige Alternative in Betracht gezogen wird, für die es im konkreten Fall keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt oder dass das Gericht zu hohe Hürden für eine Verurteilung annimmt ("Zwei Zeugen reichen nicht... aber bei drei Zeugen wäre er verurteilt worden..."). Hierzu gehört im OWi-Bereich auch die Variante, dass der Richter Zweifel an der Genauigkeit eines von der PTB zugelassenen, gültig geeichten und von einem ausgebildeten Anwender eingesetzten Messgerätes hat, wenn nicht tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in diesem konkreten Einzelfall etwas schief gelaufen ist.

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Die Prüfung die PtB scheint - in zivilrechtlichen Termini - zu einer Art Anscheinsbeweis der Korrektheit der Funktionsweise des Gerätes zu führen. Was ist der Grund für diese Regel? Unfehlbarkeit amtlicher Prüfungen kann es offensichtlich nicht sein. Existieren unabhängige Überprüfungen Dritter, dass das Prüfverfahren der PTB aussagekräftig ist oder die das Ergebnis im konkreten Einzelfall bestätigen?

Die hier zu diesem Thema veröffentlichen Urteile wirken auf mich als Sachfremden häufig sehr dogmatisch, die Argumentationen wie Zirkelschlüsse, die Veröffentlichungen wie freudestrahlende Verkündungen eines Gottesbeweises. Die Sprache erinnert m. E. an andere überkommene Gedanken wie die Strafbarkeit von Geschlechtsverkehr unter Männern - die damals auch ganz selbstverständlich richtig war, Sex ohne Frau ist halt nichts für echte Deutsche -, die Zwei-Personen-Banden-Theorie des BGH oder die - gelinde gesagt - freiheitsorientierte Beurteilung von Verbrechen im Namen des NS-Staates. In sich einigermaßen schlüssig, so wie quasi jedwede Irrlehre mit genügend Hirnschmalz gerechtfertigt werden kann, im Ergebnis aber dann doch leider völliger Unsinn.

Wenn die Ergebnisse des fraglichen Messverfahrens nicht als sicher gelten würden, wäre das für die Rechtsprechung - jedenfalls deren verfolgungsfreudigen Teile - sicherlich unerfreulich. Aber ich frage mich aufgrund der einseitigen Heftigkeit der Diskussion doch, ob da nicht der Wunsch so stark ist, dass er auch vernünftige Bedenken beiseite fegt.

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Die PTB-Zulassung ist mehr als ein „Anscheinsbeweis“, es ist ein antizipiertes Sachverständigengutachten (OLG Bamberg, Beschluss vom 22.10.2015, Az.: 2 Ss OWi 641/15, auch OLG Oldenburg, s.o.). Unfehlbarkeit ist nicht erforderlich. Auch ein Sachverständigengutachten muss keine mathematische, jede Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ausschließende, von niemandem anzweifelbare Gewissheit erbringen (BGH, NJW 2008, 2846, zitiert nach juris, Rn. 22).

Ich persönlich betrachte es als Lob, wenn meine Argumentation als „dogmatisch“ bezeichnet wird. Denn dann mag sie aus der Sicht eines allwissenden Beobachters möglicherweise falsch sein, sie ist aber zumindest nicht willkürlich und von dem ernsten Bestreben um dogmatische Konsequenz getragen.

Ansonsten ist festzustellen, dass das Godwin‘sche Gesetz auch im OWi-Bereich gilt. :-)

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Manch einer sieht eben den Untergang des Rechtsstaats, weil man nicht wie das AG Meissen an den theoretisch mit 80 kmh zeitgleich mit dem Auto am ESO vorbeifliegenden Storch glaubt, der in Wahrheit die Aufnahme ausgelöst hat.   Der ganze Aufwand in Verkehrsowisachen ist offensichtlich dem Rechtsschutzversicherungswesen geschuldet; in keinem anderen Rechtsgebiet wird um die Zuverlässigkeit und Richtigkeit technische Messungen ein derartiger Affentanz betrieben.

Ich kenne jedenfalls keine Entscheidung aus dem Zivilrecht oder etwa Immissionsschutzrecht, in der eine Partei etwa einen Sachverständigen für Lärm/Schallschutzfragen nach Eichschein, Bediungungsanleitung und Zulassung des verwendeten Geräts und nach seinen Schulungsnachweisen befragt hat, nachdem dieser sein Gutachten zu Schallschutzmängeln oder Lärmemissionen erstattet hat, bzw. dass diese Fragen irgendwo in den Entscheidungsgründen eine Rolle spielen.  Und ja, auch da geht es  u.a. um Dinge, die mindestens so wichtig sind wie der Führerschein.

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Vollkommen zutreffende Einschätzung. Vor dem Landgericht werden Prozesse um Hunderttausende oder Millionen geführt, in denen der Sachverständige für die Frage zB der qm-Berechnung einen Zollstock benutzt. Ich glaube, dass das Urmeter irgendwo in Paris rumliegt; wenn die Herren OWi-Anwälte künftig die Bauprozesse führten und die wenigen "rebellischen" OWi-Amtsrichter, die (nach meiner Erfahrung meist aus ureigenem Frust über eigenes Geblitzt-Worden-Sein) der Veranstaltung vorsäßen, könnte jeder Zollstock erstmal nach Paris gekarrt werden.

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Gast schrieb:

..... Affentanz ..... nach Eichschein, Bediungungsanleitung und Zulassung des verwendeten Geräts und nach seinen Schulungsnachweisen .......  um Dinge, die mindestens so wichtig sind wie der Führerschein.

Vorab bitte ich um Entschuldigung für eine kleine Abschweifung, aber ähnlicher Problematik:

Wenn es bei Mordprozessen aber um die Ermittlung des Todeszeitpunktes und seines einzugrenzenden Intervalls mit Mittelwert und Standardabweichung gemäß einer angenommenen Gaußverteilung geht, und damit ein Alibi erschüttert oder bestätigt werden könnte, spielen z.B. auch Thermometer eine wichtige Rolle für die Rechtsmediziner.

In OWi-Sachen wird da ein "Affentanz" betrieben, oft wegen der Punkte in Flensburg und z.B. einem drohenden befristeten Fahrverbot, wenn es um einen Mordfall geht, dann würde es m.E. eher einen Sinn ergeben, hier einmal noch genauer bei den dabei eingesetzten Meßmitteln und ihren Spezifikationen und Zertifizierungen hinzuschauen.

Ein End - Ergebnis kann ja nicht genauer sein, als es die vorher zur Messung eingesetzten Meßmittel  hergeben. Mit dem Zollstock können auch nur höchstens Millimeter, aber keine µ (Mü-Meter) mehr gemessen werden. Erinnerlich suggerieren also Angaben von Minuten zur Abgrenzung bei einem ganzen Intervall von z.B. 24 Stunden eine Genauigkeit von 0,7 Promille, eine solch hohe Genauigkeit erreicht kein normales Temperaturmeßgerät. Eines der handelsüblichen Digitalen-Leichen-Thermometer mit PTB-Bauartprüfung zeigt auch nur eine Nachkommastelle an, das letzte Digit ist in der Regel auch da bereits unsicher.

Die erreichbare Meß-Genauigkeit dürfte damit lediglich im Prozent-Bereich liegen.

Link zu einem solchen Gerät für die Spurensicherung am Tatort und für die Rechtsmedizin:

http://www.coloprint.de/kriminaltechnik/tatort-hilfsmittel/leichen-therm...

Die weitere Auswertung der Kerntemperaturmessungen an der Leiche zusammen mit Umgebungstemperaturmessungen und mit Hilfe der herkömmlichen Nomogramme, oder der alternativen Finite-Elemente-Methode mit dem Computer, kann ebenfalls keine höhere Genauigkeit mehr ergeben.

GR

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Dazu auch ein sehr einfacher Fall einer mathematischen Todeszeitpunkt-Bestimmung mit nur 3 Temperaturmessungen:

"Eine schöne Leiche -- Bestimmung des Todeszeitpunkts"

Quelle: http://www.mathe.tu-freiberg.de/~bernstei/HMI/Leiche.html

3 Temperatur-Meß-Unsicherheiten fließen hier aber bereits in das Ergebnis ein.

(Die Umgebungstemperatur war da auch noch konstant T und nicht zeitabhängig, was relativ selten vorkommt bei längeren Liegezeiten und die Bestimmung dann schwierig macht.)

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Da oben eine genau Angabe zur Meßgenauigkeit fehlte, habe ich ein m.E. vergleichbares Gerät mit entsprechenden Werten und Angaben herausgesucht. Dort wird die Meßgenauigkeit mit +/- 0,3°C angegeben bei einer Auflösung von 0,1°C.

http://www.warensortiment.de/technische-daten/eichfaehiges-praezisionsthermometer-tfx-422.html   

Einfachere Meßgeräte dagegen haben nur Meßgenauigkeiten von +/- 1°C, die Auflösung eines digitalen Meßinstruments darf auch keinesfalls mit der erreichbaren Meßgenauigkeit verwechselt werden.

Bei langer Liegezeit und nur geringfügig höherer Kerntemperatur über der Umgebungstemperatur gehen also auch systembedingte Meßfehler besonders stark in das Ergebnis ein, wegen der asymptotischen Annäherung der Kerntemperatur an die Umgebungstemperatur und der geringen Temperaturunterschiede dabei, zumal wenn mit verschiedenen Thermometern die Kerntemperatur und die Umgebungstemperatur gemessen wird, was als Normalfall anzusehen ist. Nach den mathematisch immer gültigen Regeln der Fehlerfortpflanzung wird dann der Rückschluß auf den Todeszeitpunkt höchst unsicher, auch wenn mit einem Supercomputer vom Deutschen Rechenzentrum, oder mit einem Rechenschieber gerechnet wird, der hier dann vollkommen ausreicht.

Die Sachverständigen müssen da schon sehr dabei aufpassen, was sie in der Hauptverhandlung in ihrem Gutachten präsentieren.

"Wer viel mißt, mißt auch viel Mist" sagen da die alten Meßtechniker immer dazu ........

Das Meßgerät und der verwendete Meßfühler bilden zusammen eine Einheit, für die relevanten Temperaturen gibt es auch Kalibratoren zur regelmäßigen Überprüfung. Die allgemeine Labortechnik hält alles bereit für wirkliche Präzisionsmessungen bei langen Liegezeiten.

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Der hohe Aufwand bei OWi-Verfahren beruht nicht auf den oft gern als Ursache gesehenen Rechtsschutzversicherungen (die wie ein Prozess auch bezahlt werden müssen), sondern auf der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Ohne die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde sähe wohl manches anders aus.

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P.S.: Im Übrigen erscheint mir die BKatV deutlich zu unflexibel. Die Verhängung von Fahrverboten bei Geschwindigkeitsverstößen wird zudem von OLG-Bezirk zu OLG-Bezirk höchst unterschiedlich gehandhabt.

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