BVerfG: Durchsuchung wegen Identifizierung nach VerkehrsOWi mit 80 Euro Geldbuße ist unverhältnismäßig!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 30.08.2016
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Durchsuchungen in Verkehrs-OWi-Sachen werden nicht ganz so häufig durchgeführt. Typisch sind aber die Fälle, in denen ein Motarradfahrer gemessen wurde. Denn dort kann man meist vom Gesicht nur einen Mini-Ausschnitt sehen. Aussagekräftiger für die Identifizierung sind da schon individulle Kleidungsstücke, die man z.B. beim Fahrzeughalter auffindet. Hier führt eine Durchsuchung erfahrungsgemäß zu recht guten ergebnissen. Aber: Ist sie auch verhältnismäßig? 

Das AG Reutlingen hatten da bei 80 Euro Geldbuße keine Probleme gesehen. Das BVerfG schon:

Entgegen der Auffassung des Landgerichts waren die Durchsuchungsmaßnahmen jedoch bei dieser Sachlage zur Ermittlung und Verfolgung der Ordnungswidrigkeit nicht mehr angemessen.

In Ordnungswidrigkeitenverfahren ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von ganz erheblicher Bedeutung (vgl. Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche Ordnungswidrigkeitenverfahren, 4. Aufl. 2014, Rn. 914). Bei der Abwägung zwischen den durch eine Ermittlungsmaßnahme beeinträchtigten Grundrechten und dem Verfolgungsinteresse des Staates ist zu berücksichtigen, dass der Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit stets weniger schwer wiegt als der einer Straftat (vgl. Lampe, in: KK-OWiG, 4. Aufl. 2014, § 46 Rn. 13). Es ist bei der Angemessenheitsprüfung auch zu bedenken, dass im Bußgeldverfahren das öffentliche Interesse an der Ahndung aufgrund der Nichtgeltung des Legalitätsprinzips niedriger ist als im Strafverfahren (vgl. Gassner, in: HK-OWiG, 1. Aufl. 2016, § 46 Rn. 7). Daher ist im Bußgeldverfahren von Eingriffsbefugnissen in der Regel nach den Wertungen des Gesetzgebers zurückhaltender Gebrauch zu machen (vgl. Seitz, in: Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 46 Rn. 10).

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt aber nicht, dass bei Ordnungswidrigkeiten generell von einer Durchsuchung (und Beschlagnahme) abgesehen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2005 - 2 BvR 1178/04 -, HRRS 2005 Nr. 313; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 2007 - 2 BvR 1994/02 -, juris, Rn. 20). Die Durchsuchung hat der Gesetzgeber gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit §§ 102, 103 StPO grundsätzlich auch im Bußgeldverfahren vorgesehen. Soweit durch Bußgeldvorschriften Eingriffe in die Sicherheit des Straßenverkehrs sanktioniert werden, dient die Prävention des Ordnungswidrigkeitenverfahrens jedenfalls auch dem Schutz der hochrangigen Rechtsgüter Leib und Leben (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 2007 - 2 BvR 254/07 - ZfSch 2007, S. 655 f.).

Eine schematische Untergrenze für intensivere Eingriffsmaßnahmen etwa im Hinblick auf die Bußgeldhöhe existiert jedenfalls nicht; vielmehr ist jeweils eine Abwägung im konkreten Einzelfall vorzunehmen. Dabei sind - unabhängig davon, ob es sich um eine Durchsuchung bei einem Betroffenen oder einer dritten Person handelt - unter anderem die Schwere der Tat und die Stärke des Tatverdachts, die Auffindewahrscheinlichkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 2007 - 2 BvR 254/07 -, ZfSch 2007, S. 655 f.), etwa bereits vorliegendes oder anderweitig zu gewinnendes Beweismaterial, Inhalt und Umfang der Anordnung, Voreintragungen des Betroffenen im Verkehrszentralregister (vgl. LG Itzehoe, Beschluss vom 10. Oktober 2008 - 1 Qs 143/08 -, juris, Rn. 13), die Art der betroffenen Räumlichkeiten und Schutzvorkehrungen zur Beschränkung der Maßnahme zu berücksichtigen (vgl. EGMR, III. Sektion, Urteil vom 28. April 2005 - 41604/98 -, NJW 2006, S. 1495 ff.). Auch nicht aufzuklärende vorausgegangene Ordnungswidrigkeiten mit dem gleichen Kraftfahrzeug können mit in Betracht zu ziehen sein (vgl. LG Mühlhausen, Beschluss vom 24. September 2008 - 3 Qs 153/08 -, juris, Rn. 25).

Die demnach vorzunehmende Abwägung aller Kriterien führt im vorliegenden Fall zur Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchungsanordnungen.

Zwar war der Tatverdacht nicht unerheblich und nicht lediglich auf Vermutungen gegründet (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1999 - 2 BvR 2158/98 -, juris, Rn. 11; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. März 2008 - 2 BvR 103/04 -, juris, Rn. 24). Insoweit waren die Haltereigenschaft und nach der Einschätzung des erkennenden Gerichts die Ähnlichkeit der Person auf dem Überwachungsfoto mit dem Betroffenen jedenfalls ausreichende Indizien.

Das Gewicht der Ordnungswidrigkeit sowie die auf Grund der guten Qualität der vorhandenen Beweismittelfotos erfolgversprechende Möglichkeit einer Identitätsfeststellung durch Einholung eines anthropologischen Gutachtens sprachen im vorliegenden Fall jedoch gegen den mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Zwar handelt es sich bei der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit nicht um eine Bagatelle (vgl. dazu z.B. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. September 2006 - 2 BvR 1141/05 -, juris, Rn. 17), aber auch nicht - wie von den Fachgerichten angenommen - um eine „beträchtliche“ Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Geldbuße nach Nr. 11.3.5 des zum Tatzeitpunkt gültigen Bußgeldkatalogs in Höhe von 80 € befand sich vielmehr am unteren Rand der Geschwindigkeitsüberschreitungen mit Krafträdern, die überhaupt zu einer Eintragung im Verkehrszentralregister führten. Ein Fahrverbot war im Regelfall bei erstmaliger Begehung nicht vorgesehen (zur Relevanz eines drohenden Fahrverbots vgl. z.B. LG Freiburg, Beschluss vom 3. Februar 2014 - 3 Qs 9/14 -, SVR 2014, S. 275, juris, Rn. 8).

Es waren auch keine erschwerenden Umstände bei der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Tat erkennbar. Die Geschwindigkeitsüberschreitung trug sich außerhalb geschlossener Ortschaften zu und wies somit nicht die gleiche abstrakte Gefährlichkeit auf wie eine Geschwindigkeitsüberschreitung in gleicher Höhe innerhalb einer geschlossenen Ortschaft (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. November 2005 - 2 BvR 1307/05 -). Gegen die Durchsuchungsanordnungen ist zudem anzuführen, dass bei dem Beschwerdeführer keine Voreintragungen im Verkehrszentralregister vorlagen. Weiter war mit der Wohnung die Privatsphäre des Beschwerdeführers betroffen und nicht etwa lediglich nicht besonders privilegierte Geschäftsräumlichkeiten (vgl. z.B. LG Mühlhausen, a.a.O., juris, Rn. 23).

Insbesondere aber haben Amtsgericht und Landgericht verkannt, dass im vorliegenden Einzelfall wegen der guten Qualität der Beweismittelfotos die Einholung eines anthropologischen Gutachtens nahe lag und jedenfalls die sofortige, noch dazu mehrfache Anordnung der Wohnungsdurchsuchung deshalb zurückzustehen hatte (vgl. dazu - allerdings bereits im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit der Maßnahme - LG Zweibrücken, Beschluss vom 22. Dezember 1998 - 1 Qs 1168/98 -, NStZ-RR 1999, S. 339). Denn bei dem - vom Amtsgericht auch eingeholten - Gutachten nach Bildern handelte es sich um ein erheblich milderes Mittel als es die Durchsuchung darstellt. Insoweit hätte das Amtsgericht die Tauglichkeit der Überwachungsbilder für ein Gutachten zunächst mit dem Sachverständigen abklären und gegebenenfalls die Erstellung des Gutachtens abwarten müssen (zu den Anforderungen an ein anthropologisches Identitätsgutachten, bei welchem es sich nicht um ein standardisiertes Verfahren handelt, vgl. z.B. BGH, Urteil vom 15. Februar 2005 - 1 StR 91/04 -, NStZ 2005, S. 458 <459 f.>).

Dem können nicht - wie das Landgericht meint - die „regelmäßig kurzen Verjährungsfristen“ im Ordnungswidrigkeitenrecht entgegengehalten werden. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 26 Abs. 3 StVG bei einer Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG ab Erlass eines Bußgeldbescheides sechs Monate. Diese sechsmonatige Verjährungsfrist wird allerdings durch jede Anberaumung einer Hauptverhandlung (§ 33 Abs. 1 Nr. 11 OWiG) und auch jede Beauftragung eines Sachverständigen durch die Verfolgungsbehörde oder den Richter, wenn der Betroffene vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben worden ist (§ 33 Abs. 1 Nr. 3 OWiG), unterbrochen. Die absolute Verjährungsfrist beträgt dann zwei Jahre nach der Tat (§ 33 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 31 Abs. 3 OWiG).

Es war dem Gericht zuzumuten, innerhalb der nach Beauftragung des Sachverständigen neu anlaufenden sechsmonatigen Verjährungsfrist auf die fristgerechte Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Dass die Durchsuchung nach der Motorradbekleidung und der Armbanduhr des Betroffenen möglicherweise noch wirksamer oder jedenfalls zusätzlich notwendig sein konnte, kann die Angemessenheit der Maßnahme - angesichts des geringeren Gewichts der vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften ohne Regelfahrverbot und unter Berücksichtigung der fehlenden Voreintragungen für den Betroffenen im Verkehrszentralregister - nicht begründen. Die Gewinnung aller bestmöglichen Beweismittel mittels einer Wohnungsdurchsuchung war in dieser Konstellation im Hinblick auf das Gewicht des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht verhältnismäßig.

2. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts war gemäß § 95 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen, das noch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden hat.

BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2748/14

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