Erforderliche Umkleidezeiten sind vergütungspflichtig

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 28.02.2017
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht5|8423 Aufrufe

1. Das Umkleiden ist Teil der vom Arbeitnehmer geschuldeten und ihm zu vergütenden Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt, die im Betrieb an- und abgelegt werden muss.

2. Steht fest (§ 286 ZPO), dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für den zeitlichen Umfang, in dem diese erforderlich waren, nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht die erforderlichen Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten nach § 287 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO schätzen.

Das hat das BAG entschieden.

Der Kläger ist bei der Beklagten in der Lebensmittelproduktion beschäftigt. Im Arbeitsvertrag haben die Parteien u.a. vereinbart, dass er aufgrund der bei der Produktion von Lebensmitteln geltenden Hygieneverordnung verpflichtet ist, den Dienst täglich mit sauberer und vollständiger Dienstkleidung anzutreten und zu erfüllen. Die Bedienung der Zeiterfassungsanlage, d.h. das An- und Abstempeln, hat vertraglich ausschließlich persönlich und immer in einwandfreier Dienstkleidung zu erfolgen. Die Wegezeiten zu bzw. von den Stempeluhren oder Pausenräumen sollen „leistungsentgeltfrei“ sein.

Der Kläger verlangt die Vergütung der Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten. Das Arbeitsgericht hat vor Ort Beweis erhoben: Die Kammer ist mit den Parteien die erforderlichen Wege abgeschritten, die Kammervorsitzende hat sich umgezogen und die dafür erforderlichen Zeiten ermittelt. Aufgrund dessen hat sie dem Kläger arbeitstäglich Vergütung für weitere 27 Minuten zuerkannt. Berufung und Revision der Beklagten blieben ohne Erfolg.

Vergütungspflichtig ist die Zeit, die für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung und das Zurücklegen der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege erforderlich ist (vgl. BAG 19. März 2014 -5 AZR 954/12 - Rn. 26). Zur Ermittlung der Zeitspanne ist ein modifizierter subjektiver Maßstab anzulegen, denn der Arbeitnehmer darf seine Leistungspflicht nicht frei selbst bestimmen, sondern muss unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten. „Erforderlich“ ist nur die Zeit, die der einzelne Arbeitnehmer für das Umkleiden und den Weg zur und von der Umkleidestelle im Rahmen der objektiven Gegebenheiten unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit benötigt (BAG 19. September 2012 – 5 AZR 678/11 – Rn. 24, BAGE 143, 107; 12. November 2013 – 1 ABR 59/12 – Rn. 48, BAGE 146, 271; 19. März 2014 – 5 AZR 954/12 – Rn. 47). Bei Ermittlung der erforderlichen Zeit gilt es, die Variablen des Umkleidevorgangs zu berücksichtigen. Hierzu gehören ua. die Fragen, welche Privatkleidung je nach Jahreszeit der Arbeitnehmer zuvor getragen hat und welche Wartezeiten (auf die Ausgabe der Kleidung, auf Aufzüge etc.) notwendigerweise entstehen.

Im Arbeitsvertrag waren Umkleidezeiten nur als "leistungsentgeltfrei" bezeichnet, beansprucht wurde aber ein zeitbezogener Stundenlohn

Die arbeitsvertragliche Vereinbarung, die Wegezeiten seien „leistungsentgeltfrei“, stehe dem Anspruch schon deshalb nicht entgegen, weil der Kläger für die Wegezeiten kein leistungsbezogenes Entgelt (z.B. Akkordlohn), sondern ein zeitbezogenes Entgelt (Stundenlohn) beanspruche.

BAG, Urt. vom 26.10.2016 – 5 AZR 168/16, BeckRS 2016, 114241

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5 Kommentare

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Dass Arbeitnehmer immer noch Selbstverständlichkeiten einklagen müssen, zeigt ein bezeichnendes Bild der "neuen sozialen" Marktwirtschaft.

Arbeitsvertraglich richtig formuliert ("Die notwendigen Zeiten für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung sind mit dem Entgelt abgegolten.") dürfte es sogar zulässig sein, dass diese Zeiten nicht gesondert gezahlt werden. Für Überstunden in begrenztem Rahmen (20 Stunden / Monat?) ist eine entsprechende Regelung auch zulässig. Voraussetzung ist natürlich, dass ausreichend mehr als Mindestlohn gezahlt wird und dass nicht zusätzlich zu der täglichen halben Stunde fürs Umkleiden noch 20 Überstunden im Monat bereits mit dem Entgelt abgegolten sein sollen.

Erst nach dem Einkleiden einzustempeln ist zumindest dann keine gute Idee, wenn Aufzeichnungspflichten nach MiLoG bestehen. Denn wenn es Arbeitszeit ist, muss es erfasst werden, auch wenn es nicht gesondert vergütet wird. Der Zoll versteht da ziemlich wenig Spaß.

Tipp: einfach mal die Entscheidung 5 AZR 954/12 lesen, auf die sich das BAG bezieht. http://lexetius.com/2014,1864, Rdnr 17ff., insbesondere Rdnr. 18.

Muss ich Sie ernsthaft daran erinnern, dass Arbeitsverträge der Inhaltskontrolle von AGB unterliegen?

P.S. Die Analogie zu den Überstunden ist natürlich völlig daneben, denn bei Mehrarbeit geht es um eine Leistung über das vereinbarte Arbeitsvolumen hinaus, nicht um arbeitstägliche Routineaufgaben wie das An- und Ablegen von Dienstkleidung.

Das gleiche Ergebnis erzielt man, wenn man die regelmäßige Arbeitszeit im Arbeitsvertrag einfach um großzügig bemessene Umkleidezeiten erhöht, ohne den Lohn anzupassen. Das wäre, wenn dann immer noch der Mindestlohn eingehalten wird, zweifellos zulässig. Warum sollte das, nur weil man das im Arbeitsvertrag nicht "als regelmäßige Arbeitszeit", sondern als Umkleidezeit bezeichnet, unzulässig sein. Für den Arbeitnehmer, der seine Umkleidezeit selbst am besten einschätzen kann, dürfte Letzteres transparent und günstiger sein, wenn er seine Arbeitszeit durch schnelles Umkleiden ohne Lohnverlust verkürzen kann.

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