Love Parade-Unglück - zwei Monate nach den tragischen Ereignissen - im Internet weitgehend aufgeklärt
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die im Titel dieses Beitrags aufgestellte Behauptung ist bewusst plakativ gewählt und mag auch anmaßend klingen. Ich denke aber, man kann sie in der Tendenz belegen.
Die von den verschiedenen beteiligten "Akteuren" unmittelbar nach den Ereignissen angekündigten Aufklärungsbemühungen zielten von Anfang an v.a. dahin, die Veranwortung auf jeweils die anderen Verantwortlichen abzuwälzen und die eigene Verantwortung zu leugnen oder in Frage zu stellen. Dieses Gebaren ist es, dass die verletzten Opfer und Angehörigen massiv befremdet und empört hat.
Dabei dürfte, wie ein lesenswerter Beitrag zu den rechtlichen Fehlern bei der Genehmigung der loveparade auf docunews richtig ausführt, bei einer gesetzmäßig durchgeführten Planung und Genehmigung einer solchen Veranstaltung die Verantwortlichkeit niemals unklar sein.
Recherchen im Internet (nur einige Beispiele: loveparade2010doku, lothar evers, Dr. Wittsiepe, bluemoonsun) haben schon zu Ergebnissen geführt, die weit detaillierter sind als in anderen Medien bekannt wurde. Die Gründe dafür sind nicht, dass das Internet im Allgemeinen besser geeignet wäre als andere Medien, aktuelle Ereignisse aufzuklären und zu bewerten. Internetforen und blogs haben vielmehr spezifische Schwächen, die einer objektiven Tatsachenermittlung regelmäßig eher abträglich sind: Fehlen einer Organisation, Anonymität der Beiträge, Sammelbecken von abstrusen Verschwörungstheoretikern, Auseinanderfallen von Engagement und Fähigkeiten bei den einzelnen Personen. Zudem zerfasert eine solche Internetrecherche tendenziell häufig zwischen verschiedenen teilweise ideologisch zerstrittenen Plattformen. All das lässt sich auch diesmal finden, aber bei den Recherchen zur Love Parade sind besondere Bedingungen zusammengekommen, die es ermöglichten, wesentlich weiter zu kommen als sonst. Weitere Links zu den wichtigsten dieser Recherchen finden Sie in meinem früheren Beitrag.
1. Die Betroffenen (womit ich hier alle Besucher und Interessierte meine, die potentiell in die Situation hätten kommen können) entstammen ganz überwiegend der Generation, die mit Internetforen, Twitter, Blogs, Videodatenbanken wesentlich mehr anfangen kann als mit Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen.
2. Es steht mit den auf youtube und anderen Plattformen hochgeladenen Filmen und Fotos sowie Augenzeugenberichten eine riesige Menge an Datenmaterial zur Verfügung, deren Sichtung und Sortierung (u.a. durch eine aufwändige Synchronisation vieler Besuchervideos) unter den Bedingungen des Internet wesentlich besser gelingen kann als innerhalb eines einzelnen Arbeitsauftrags bei Polizei oder Staatsanwaltschaft. Jeder kann diese Filme anschauen, verifizieren, auf Details hinweisen, Thesen aufstellen, belegen und verwerfen.
3. Die Tendenz einer Zerfaserung - ein spezifisches Problem der Internetrecherche - wurde etwas gebremst durch eine gewisse Konzentration auf wenige Seiten und die Vernetzung dieser Seiten. Das Ziel der "Aufklärung" hat diese Seiten verbunden. Zudem haben einzelne Rechercheure mit ihren Seiten entscheidende Akzente gesetzt - auch der Einzeljournalismus ist keineswegs überflüssig in den Zeiten des Internet..
4. Das große, nachhaltige Interesse wird durch die ständige Verfügbarkeit aller Texte, Filme, Dokumente verstärkt. Nicht nur, wenn gerade ein Artikel in der Zeitung steht oder ein Filmbericht im TV gelaufen ist, sondern dauerhaft kann sich im Internet jeder informieren über die Fortschritte bei der Aufklärung und kann diese durch Einsicht in die Text- und Bildquellen unmittelbar nachvollziehen. Man kann "am Ball" bleiben, auch wenn das allg. öffentliche Interesse nachlässt bzw. von anderen Ereignissen überdeckt wird.
Ich bin sicher, ich habe noch nicht alle Aspekte aufgeführt.
Nun zur "Aufklärung" des Love Parade-Unglücks, soweit ich sie heute zusammenfassend beschreiben kann (updates sollen nicht ausgeschlossen sein):
Schon bei der Planung der LoPa hat man nicht beachtet, dass der ohnehin problematische gemeinsame Ein- und Ausgang zwischen den Tunneleingängen und der oberen Rampe zwar knapp die erwarteten Besucherströme in einer Richtung verkraften konnte, aber nicht die (vorab angenommenen) Besuchermengen in beiden Richtungen. Durch Ein- und Ausgang hätten über mehrere Stunden hinweg laut Planung in der Summe hundertausend und mehr Personen pro Stunde geschleust werden sollen. Trotz des erkennbaren Widerspruchs (60.000 Personen/Stunde maximaler Durchgangsstrom in einer Richtung unter optimalen Bedingungen, 100.000 Personen/Stunde in gegenläufigen Richtungen für den Nachmittag geplant) wurde dieses unstimmige Konzept von den Veranstaltern geplant und von den zuständigen Behörden genehmigt.
Dass die Tunnel problematisch waren, war zwar jedem bewusst, aber man "plante" dieses Problem weg, indem man meinte, den Zustrom sicher steuern zu können. Für die Steuerung des Abstroms während der Veranstaltung (z.T. mehr als 50.000 Personen/Stunde wurden am Nachmittag erwartet) gab es kein Konzept. Und weder die zu einer Besuchersteuerung notwendige Anzahl von Ordnern, noch die dazu von den Experten vorab geforderten Lautsprecher waren am Veranstaltungstag vorhanden.
Das für die Veranstaltung geforderte Sicherheitskonzept enthielt eine Lücke gerade in dem (von allen) zuvor als sicherheitstechnisch problematisch angesehenen Eingangsbereich (der auch unklar mal dem Veranstaltungsgelände mal dem Straßengelände zugewiesen wurde und keinerlei Fluchtwege aufwies). Ein Konzept dafür, was man tun könne, wenn es dort zu Stauungen kommt, war nicht vorhanden. Entgegen dieser Lücke, die aus den veröffentlichten Dokumenten (einschließlich der Entfluchtungsanalyse) erkennbar ist, wurde die Veranstaltung genehmigt.
Die Auflagen der Genehmigung, die u.a. beinhalteten, die Zuwege und Fluchtwege von Hindernissen frei zu halten, wurden in eklatanter und gefährlicher Weise missachtet. Die Zu- und Abgangsrampe wies am Veranstaltungstag noch etliche Hindernisse auf: Zur Personenstromsteuerung ungeeignete Bauzäune, Brezlbuden, Polizeifahrzeuge hinter weiteren Bauzäunen. Ein Gulli und ein Schlagloch mit Baumwurzel wurde - Gipfel der Rücksichtslosigkeit - mit einem Bauzaun abgedeckt (am besten hier zu sehen). Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab im Gedränge ein Stolpern oder Verhaken in diesem Bauzaun den unmittelbaren Ausschlag für viele der Todesfälle.
Als es dennoch zu Stauungen (wie nach der Entfluchtungsanalyse vorhersehbar und unvermeidlich zunächst am oberen Rampenende) kam, fehlte das Konzept für diesen Fall. Das "Pushen" durch Ordner und "Wegziehen" durch die Floats konnte bei der Anzahl der Besucher, die die Veranstaltung gerade verlassen wollten, nicht funktionieren: Es waren dort insgesamt zu viele Personen in beiden Richtungen für diesen Engbereich.
Man war nun auf ein adhoc-Konzept angewiesen und auf die Hilfe der Polizei. Die Polizei sperrte daraufhin an einer Engstelle auf der Mitte der Rampe den Zu- und Abgang. Gleichzeitig wurden in den Tunneln Sperren errichtet, um den Zugang zur Rampe zu hindern. Beide Sperrpositionen waren höchst ungeeignet. Sie widersprachen den vorab gegebenen Empfehlungen (Stauungen im Tunnel unbedingt vermeiden) und hatten erkennbar keine Entlastung zur Folge, sondern eine bloße Verlagerung und Verschärfung der Gefährdung. Durch die Platzierung der Sperre auf der Rampenmitte konzentrierte sich das Gedränge nunmehr im unteren Drittel der Rampe und an den Tunnelausgängen. Da die feststeckenden Besucher (die teilweise schon stundenlang auf den Zuwegen verbracht hatten) weiterhin nicht per Lautsprecher informiert wurden, suchten sie selbst Auswege aus dem Dilemma - Masten, v.a. Treppe, Container, mit der Folge, dass sich das Gedränge in den Richtungen dieser vermeintlichen Auswege noch verschärfte und es hier über Minuten zu Massenturbulenzen kam.
Die Sperren in den Tunneln wurden schon zeitlich vor der Sperre auf der Rampenmitte aufgelöst bzw. überrannt, so dass sich das Gedränge auf dem unteren Rampendrittel nochmal verschärfte. Offenbar war auch die Funk-Kommunikation zwischen den Sicherheitsbehörden und sogar der Polizei untereinander gestört. Niemand wusste zeitweise, was er oder die anderen taten, welche Sperren geöffnet, welche geschlossen waren. Zu spät wurde eine Sperre am oberen Rampenende aktiviert, und die Abströmenden über die zweite Rampe (Korrektur: Abströmende zunächst blockiert, später über die Notausgänge) geschickt. Und auch als der Weg nach oben wieder relativ "frei" war, konnten das die im Gedränge feststeckenden nicht erkennen - niemand informierte sie.
Die genannten Umstände führten - zusammen - zur Katastrophe. Entgegen den vorherigen Ankündigungen (Sicherheit hat Vorrang) hat man diese in entscheidenden Punkten vernachlässigt. Bei allen drei "Akteuren" (Veranstalter, Stadt, Polizei) lassen sich meiner Meinung nach fahrlässige Handlungen und Unterlassungen feststellen, die Tod und Verletzung zurechenbar mitverursachten und zu einer Anklageerhebung wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) oder Körperverletzung (§ 229 StGB) führen könnten. Die genaue institutionelle "Zuständigkeit" für jede dieser Fahrlässigkeiten ist allerdings noch in der Diskussion, auf den entsprechenden Internetseiten und hier im Blog. Und die im Strafrecht notwendige individuelle Zurechnung ist m.E. Sache der Staatsanwaltschaft.
Hier im Beck-Blog wurden zwar kaum Tatsachen unmittelbar recherchiert, aber zum Teil intensiv mit juristischer Schlagseite diskutiert. Mein Beitrag zu dieser Aufklärung war vergleichsweise gering. Die Kommentarsektion ist aber mit anderen Aktivitäten im Netz verknüpft und dadurch profitiert die hiesige Diskussion von den Früchten dortiger Recherche. Das Echo und die weiteren Reaktionen haben mich außerordentlich überrascht: Der Beitrag ist einer der am häufigsten angeklickten und der mit Abstand am häufigsten kommentierte Beitrag hier im Blog. Die Kommentare waren häufig weiterführend und fundiert und infolgedessen habe ich den Ausgangsbeitrag alle paar Tage aktualisiert.
Die Diskussion und Recherche im Internet ist natürlich nicht beendet. Es gibt noch viele Details, die nicht vollständig aufgeklärt sind, und es gibt sicherlich noch weitere Belege für die schon aufgeklärten Fakten.
Möglicherweise gibt es auch an meinen obigen Erwägungen zutreffende Kritik, die ich gerne aufgreifen werde.
(Letztes update dieses Beitrags - Link eingefügt - am 12.11.2010, 14.10 Uhr)
Update am 8.Juni 2011:
Links zu den weiteren Diskussionen hier im Beck-Blog:
Juli 2010 (465 Kommentare, ca. 23000 Abrufe)
September 2010 (788 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)
Dezember 2010 (537 Kommentare, ca. 8000 Abrufe)
Mai 2011 (bisher über 1000 Kommentare; über 7000 Abrufe)