Hirndoping auf dem Vormarsch?!
Gespeichert von Dr. Jörn Patzak am
Doping im Sport, also körperliche Leistungssteigerung durch die Einnahme von leistungsfördernden Mitteln, ist schon lange bekannt. Nunmehr hört man immer häufiger den Begriff Hirndoping (auch Neuro-Enhancement genannt). Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) definiert Hirndoping auf ihrer Homepage wie folgt (s. hier):
„Hirndoping ...
ist der Versuch, durch chemische Substanzen die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu steigern. Medikamente, die ursprünglich zur Anwendung bei erkrankten Patientinnen und Patienten entwickelt und zugelassen wurden, werden dabei von Gesunden konsumiert.“
Am 21.08.2012 erschien in der FAZ ein Artikel mit dem Titel „Kinder-Koks-Dealer“, der das Phänomen Hirndoping eindrucksvoll beschreibt (s. hier). Es geht um die Karriere von Paul, der zunächst als 14-jähriger ein Methylphenidat-haltiges Arzneimittel zur Behandlung seiner vermeintlichen Hyperaktivität verschrieben bekam und sich in den Folgejahren zu einem Dealer mit solchen Arzneimitteln entwickelte.
Methylphenidat ist ein Amphetamin- und Kokain-ähnlicher Wirkstoff, der in den Arzneimitteln Ritalin, Concerta, Equasym und Medikinet enthalten ist. Die Arzneimittel werden Kindern (und mittlerweile auch Erwachsenen) mit ADHS verschrieben, bei denen es nicht aufputschend, sondern beruhigend wirkt. Methylphenidat unterliegt als verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel der Anl. III zum BtMG, es bedarf also der Verschreibung mit einem speziellen Betäubungsmittelrezept (s. hierzu auch meinen Blog-Beitrag vom 21.10.2011).
Paul beschreibt, dass er am Anfang das ihm verschriebene Medikament ordnungsgemäß geschluckt habe. Mit der Zeit habe er aber festgestellt, dass das Medikament beim nasalen Konsum in zerriebenen Zustand deutlich stärker wirke, mit einem „Bumm“-Effekt. Er habe sich frisch, cool und total fokussiert gefühlt. Da eine erhöhte Konzentrationsfähigkeit und Wachheit durch den Konsum von Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln auch bei (gesunden) Schülern und Studenten zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit beliebt gewesen sei, habe er schnell in seinem Internat und im Umfeld einen beträchtlichen Kundenstamm aufbauen können, dem er einen Teils der ihm verschriebenen Kapseln habe weiterverkaufen können. Schluss mit dem Dealen sei erst gewesen, als er wegen Cannabisbesitzes aus dem Internat geflogen sei.
Ist der Bericht von Paul ein aufgebauschter Einzelfall? Wohl nicht, mehren sich doch tatsächlich Hinweise auf einen zunehmenden Konsum von Methylphenidat und anderen Mitteln zur Erhöhung der geistigen Leistungsfähigkeit:
Nach einer Studie von Prof. Dr. Lieb und Dr. Dr. Franke von der Uniklinik Mainz im Jahr 2010 hatten 4% der 1.035 mittels eines Fragebogens befragten Schüler in Gymnasien und Berufsschulen und der 512 Studierenden der Uni Mainz angegeben, mindestens einmal versucht zu haben, ihre Konzentrationsfähigkeit und Wachheit mit Hilfe von Psychostimulanzien (u.a. Methyphenidat und Amphetamin) zu steigern (Quelle).
Das HIS-Institut für Hochschulforschung hat im Auftrag des BMG von Dezember 2010 bis Januar 2011 eine Online-Befragung bei Studierenden an Universitäten und Fachhochschulen durchgeführt. Von den ca. 8.000 Studierenden, die verwertbare Angaben gemacht haben, hätten 17% seit Beginn ihres Studiums eine oder mehrere Substanzen eingenommen, um die Studienanforderungen besser bewältigen zu können. 5% betreiben nach der Studie pharmakologisches Hirndoping durch Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Psychostimulanzien oder Aufputschmittel, wovon 18% zu Methylphenidat-haltigen Substanzen greifen (Quelle).
Der Artikel in der FAZ beschreibt also offensichtlich nicht nur einen Einzelfall, sondern ein schon weit verbreitetes und wohl noch zunehmendes Phänomen.