Gustl Mollath frei! Zur Entscheidung des OLG Nürnberg und zu einigen offenen Fragen
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
I. Zur Entscheidung:
Der Senat des OLG Nürnberg hat sich in seiner Entscheidungsbegründung allein auf einen Wiederaufnahmegrund gestützt, den der „unechten Urkunde“. Der Senat hat dabei zunächst festgestellt, dass erstens der (nachträglich) vom LG Regensburg als ausschlaggebend angesehene „i. V.“-Vermerk zuvor und ohne Lupe nicht erkennbar gewesen sei und zweitens die vom LG Regensburg länglich ausgeführten Überlegungen zur Zulässigkeit einer Stellvertretung für ärztliche Atteste nicht gelten. Das ärztliche Attest ist ein personengebundenes Zeugnis, für das die Stellvertretungsregeln der Rechtsgeschäftslehre schlicht nicht passen. Ich hatte das – wie viele Juristen, mit denen ich sprach – genauso vertreten, und habe deshalb seit dem LG-Beschluss an der Vernunft bayerischer Richter gezweifelt. Dieser Zweifel ist nun glücklicherweise beseitigt.
Etwas heikel ist es, dass das OLG Nürnberg die erneute Hauptverhandlung an eine andere Kammer des LG Regensburg verwiesen hat. Mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richter sollte man sehr vorsichtig sein und nicht leichtfertig Analogien bemühen – hier zu § 210 Abs.3 S.1 StPO. Das nach Liste des OLG (§ 140a GVG) örtlich zuständige LG Regensburg bleibt zuständig, aber nicht die dort nach Geschäftsverteilung für Wiederaufnahmen zuständige 7. Kammer, sondern wohl die 6. Kammer. Sicherlich wird es aber weder von der Verteidigung noch von der Staatsanwaltschaft dagegen eine Beschwerde geben. Mit der Verweisung an eine andere Kammer hat das OLG vielmehr einer absehbaren Ablehnung der 7. Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit faktisch vorgegriffen. Denn diese Besorgnis der Befangenheit wäre nach Lektüre des 113-seitigen Beschlusses nicht nur gegenüber dem bereits abgelehnten Berichterstatter, sondern auch gegenüber den anderen Richtern der 7. Kammer wohl begründet gewesen.
II. Offene Fragen:
1. Warum hat das OLG Nürnberg nichts zu den anderen WA-Gründen, insbes. zur Rechtsbeugung, gesagt?
Es bedurfte nur eines einzigen zulässigen und begründeten WA-Grundes. Deshalb war es überflüssig, auch die anderen zu erörtern, als das OLG Nürnberg einen solchen Grund gefunden hatte. Das war hier der auch gesetzlich an erster Stelle stehende Grund der „unechten Urkunde“.
2. Wann wird die neue Hauptverhandlung stattfinden?
Da mit der Freilassung Herrn Mollaths das besondere Eilbedürfnis fortgefallen ist, kann sich das LG Regensburg nun etwas Zeit lassen. Sicherlich wird die Sache im normalen Geschäftsgang einsortiert – und da werden einige Verfahren vor dem jetzt eingehenden auf der Warteliste stehen. Ich rechne eigentlich nicht damit, dass eine neue Hauptverhandlung noch in diesem Jahr stattfindet.
3. Kann Herr Mollath nunmehr wegen der Taten zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt werden?
Nein. Im wiederaufgenommenen Verfahren kann nach § 373 Abs.2 StPO keine Rechtsfolge verhängt werden, die nach Art und Höhe für den Verurteilten im Vergleich zur früheren nachteilig wäre. Herr Mollath kann deshalb nicht statt freigesprochen nunmehr zu Geld-oder Freiheitsstrafe verurteilt werden. Würde also festgestellt, dass Herr Mollath die ihm vorgeworfenen Taten oder einzelne davon tatsächlich begangen hat, käme trotzdem keine Bestrafung in Betracht. Interessant wäre es, den Tenor einer solchen Entscheidung zu formulieren. Nach allem, was bekannt ist, ist aber die schon 2006 dünne Beweislage eher noch dünner geworden, so dass ich mir momentan nicht vorstellen kann, dass die Tatbegehungen in einer neuen Hauptverhandlung (diesmal mit Verteidigung!) überhaupt bewiesen werden können.
4. Kann Herr Mollath erneut in der Psychiatrie untergebracht werden?
Theoretisch möglich wäre es, dass die Hauptverhandlung dasselbe Ergebnis hätte wie beim ersten Mal. Allerdings erscheint es mir erstens noch unwahrscheinlicher, dass eine erneute Hauptverhandlung erweisen kann, dass Herr Mollath vor 12 Jahren eine Tat begangen hat (s.o.) und dabei im Zustand einer der in § 20 StGB genannten Störungen handelte. Letzteres war schon 2006 mit gut 4 Jahren Abstand zur Tat nicht beweisbar und wurde von Gutachter und Gericht einfach begründungslos unterstellt. Hinzu kommt zweitens, dass eine weitere Unterbringung nach den Maßstäben des BVerfG unverhältnismäßig wäre und zudem eine noch aktuelle Gefährlichkeit Herrn Mollaths voraussetzt. Ich bin mir daher sehr sicher, dass Herr Mollath wegen der (angeblichen) Taten von 2001 ff. nicht erneut eingesperrt wird.
5. Werden in einer neuen Hauptverhandlung mögliche Steuerstraftaten seiner Ex-Frau und deren Kollegen behandelt? Werden dort Richter und andere Justizvertreter für Fehler und Pflichtverletzungen zur Verantwortung gezogen?
Nein. Die neue Hauptverhandlung wird sich allein mit den (alten) Tatvorwürfen gegen Herrn Mollath befassen. Straftaten anderer Personen müssen in anderen Verfahren aufgeklärt werden. Nur soweit die Glaubwürdigkeit von Zeugen betroffen ist, wird sich das Gericht evtl. mit deren Verhalten befassen.
6. Was soll dann eine neue Hauptverhandlung?
Ich hatte schon früher die Option erwähnt, dass auf eine Hauptverhandlung verzichtet wird. Dies lässt das Gesetz zu (§ 371 Abs.2 StPO). Allerdings hat das OLG Nürnberg ausdrücklich die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet. Ich denke auch, dass die Justiz nicht in den Verdacht geraten will, sich um eine neue Verhandlung „herumzudrücken“. Eine neue Hauptverhandlung ist auch im Interesse Herrn Mollaths, denn so könnte er immerhin ansatzweise zu einer Art Rehabilitation kommen, die er sich so sehr wünscht. Auch als Grundlage für Schadenersatzansprüche und Entschädigungen ist eine solche Hauptverhandlung sinnvoll.
UPDATE: Eine weitere offene Frage
7. Kann der Sachbeschädigungsvorwurf noch Gegenstand der neuen Hauptverhandlung sein?
Im Wolff-Blog wurde die Frage aufgeworfen, ob die neue Hauptverhandlung überhaupt noch die Sachbeschädigungen betreffen kann.
Hintergrund: Zu den Sachbeschädigungsvorwürfen hat das LG Nürnberg-Fürth damals lt. Akten keinen Eröffnungsbeschluss gefasst, sondern den Beschluss, ein Sicherungsverfahren einzuleiten. Dazu fehlte es aber am erforderlichen staatsanwaltlichen Antrag. Nach Auffassung der Verteidigung ergab sich daraus ein Wiederaufnahmegrund (siehe hier, S. 95 ff.). Nach Meinung der Staatsanwaltschaft war dies ein bloßer unerheblicher Bezeichnungsirrtum. Zur Erinnerung meine damalige Darstellung noch einmal:
(H.E.M. am 26.03.2013): "Juristisch sicherlich am interessantesten ist die Diskussion um die Frage, ob ein Eröffnungsbeschluss und damit eine Prozessvoraussetzung fehlt (V7, S. 95 ff.). Tatsächlich belegen die Akten, dass die Strafkammer ohne entsprechenden Antrag der StA ein „Sicherungsverfahren“ durchzuführen gedachte und demzufolge ein regulärer Eröffnungsbeschluss hinsichtlich der Sachbeschädigungsvorwürfe fehlte. Strate wertet diesen Aktenfund als „neue Tatsache“, die belege, dass das Hauptverfahren insgesamt nichtig sei. Die StA bestätigt den von Strate dargestellten Sachzusammenhang (Bl. 265) ausdrücklich(!), meint aber trotzdem, die Kammer sei nicht der irrigen Ansicht gewesen, ein Sicherungsverfahren durchzuführen (Bl. 266 f.) – es soll also praktisch ein Fall der falsa demonstratio vorliegen. Die dafür angeführten Gründe überzeugen mich allerdings nicht. Das Hauptargument – nämlich dass der BGH schließlich auch nicht das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses bemerkt habe (Bl. 267) – ist jedenfalls zurückzuweisen: Dieses Argument geht contra factum von einem „unfehlbaren“ BGH aus. Der BGH hat aber dieselben Akten vorliegen wie die StA Regensburg und hat offenbar nicht genau hingeschaut und deshalb das Verfahrenshindernis (wie alle Richter und Staatsanwälte vorher) „übersehen“. Insofern liegt die StA Regensburg falsch: Es hat keinen Eröffnungsbeschluss gegeben, ein Verfahrenshindernis lag vor! Jedoch habe auch ich Zweifel daran, ob dieses Fehlen des Eröffnungsbeschlusses bzw. der gerichtliche Irrtum als „neue Tatsache“ im Sinne des § 359 Nr.5 StPO zu werten ist. Ohnehin ist umstritten, ob Prozesstatsachen überhaupt als Tatsachen i. S. d. § 359 Nr.5 StPO anzusehen sind. Ob „neu“ etwas sein kann, was allen Verfahrensbeteiligten zum Zeitpunkt der Urteilsfindung aus den Akten erkennbar war, kann zudem durchaus bezweifelt werden – dies ist der Stellungnahme der StA Regensburg einzuräumen (Bl. 267)."
Konsequenz aus meiner damaligen Auffassung: Für eine neue Verhandlung fehlt es nun am Eröffnungsbeschluss. Meine Lösung dieser Problematik (allerdings nach nur kurzer Überlegungszeit, deshalb fehleranfällig): Zwar ist das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses ein Verfahrenshindernis, das nicht mehr in der Revision geheilt werden kann (siehe hier), aber es ist möglich in der – neuen - ersten Instanz, diesen Beschluss nachzuholen. Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten, denn mit dem Beschluss des OLG Nürnberg wurde die Verjährung unterbrochen, zuvor hat sie seit der Rechtskraft des Nürnberger Urteils von 2006 geruht, so jedenfalls die Kommentarliteratur:
Schmidt, KK-StPO, Rz. 19 zu § 370: "Die Verfolgungsverjährung ist auf das Erkenntnisverfahren beschränkt und endet daher mit Rechtskraft des erkennenden Urteils. Kommt es infolge Wiederaufnahme zur Fortsetzung des Verfahrens, so wird der Lauf der Verfolgungsverjährung mit dem Zeitpunkt eröffnet, in dem die Beseitigung der Rechtskraft wirksam wird. ... In der Zeit der Rechtskraft des Urteils hat die Verfolgungsverjährung geruht."
Anders freilich wäre das Ganze, wenn man wie die StA Regensburg eine bloß irrtümliche Bezeichnung des Eröffnungsbeschlusses annimmt (s.o.); dann braucht auch keine Eröffnung nachgeholt zu werden.
Ich bitte um Diskussion!
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