Unterschiedliche Verurteilungswahrscheinlichkeit nach Strafanzeigen wegen Vergewaltigung - Kritik einer Presseerklärung des KFN
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat vor Ostern unter der Überschrift: "Vergewaltigung. Die Schwächen der Strafverfolgung - das Leiden der Opfer" eine Presseerklärung publiziert (unterzeichnet von Christian Pfeiffer und Deborah Hellmann). Offenbar handelt es sich um eine Vorabmitteilung über die Ergebnisse einer kriminalstatistischen Studie („Analyse“) über angezeigte Vergewaltigungen und Verfahrensausgang und zugleich um die Ankündigung eines neuen Forschungsprojekts des KFN.
Es ist m. E. zumindest unglücklich, Teilergebnisse und Vermutungen zu Schlussfolgerungen aus bisher nicht veröffentlichten Studien abzugeben. Ohne die vollständige Datengrundlage aus der Studie ist es schwierig bis unmöglich, eine solche Vorabmitteilung wissenschaftlich zu evaluieren. Wenn die Gesamtstudie dann veröffentlicht wird, ist die Diskussion in den Medien, die durch die Presseerklärung ausgelöst wurde, oft schon wieder abgeklungen. Ich möchte dennoch versuchen, die in der Presseerklärung enthaltenen Aussagen einer kritischen Bewertung zu unterziehen, da diese Presseerklärung schon in anderen Medien (zB SZ, Spiegel) aufgegriffen und diskutiert (zB Strafakte.de) wurde. Dazu habe ich jeweils einen relevanten Teil der Presseerklärung kopiert und kommentiert. Einige wenige Passagen habe ich unkommentiert gelassen und deshalb auch nicht zitiert.
Vor 20 Jahren erlebten 21,6 Prozent der eine Anzeige erstattenden Frauen die Verurteilung des Täters. 2012 waren es nur noch 8,4 Prozent.
Ohne absolute Zahlen ist diese statistische Aussage unzureichend. Wie viele Frauen haben eine Vergewaltigung angezeigt, wie viele Verfahren wurden (nach welcher Norm) eingestellt, wie viele Tatverdächtige wurden angeklagt, wie viele verurteilt, wie viele freigesprochen und wie haben sich diese Zahlen verändert? Um welche Jahre geht es? Und um genau welche Delikte? In den 1990er Jahren wurde das Strafrecht in dem relevanten Abschnitt des StGB grundlegend geändert, insbesondere betraf dies den § 177 StGB, der nunmehr wesentlich erweitert wurde.
Doch das Hauptproblem wird erst in einem aktuellen Ländervergleich erkennbar. Damit hierfür ausreichend große Zahlen zur Verfügung stehen, haben wir die 16 Bundesländer zu sechs Gruppen (A-F) zusammengefasst und zusätzlich das Doppeljahr 2011/12 zugrunde gelegt.
Es ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Länder zusammengefasst wurden (etwa nur nach prozentualem Anteil der Verurteilungen an den Anzeigen?). Und kriminalstatistisch ebenfalls nicht nachvollziehbar ist es, wenn ohne Angabe, welche Jahre denn in die Studie überhaupt einbezogen wurden, nun auf das „zusätzliche“ Doppeljahr 2011/2012 hingewiesen wird. Mir sind Jahresstatistiken bekannt, von „Doppeljahren“ habe ich noch nicht gelesen. Möglicherweise wurden ja polizeistatistische Daten aus dem einen mit Strafverfolgungsdaten aus dem folgenden Jahr konfrontiert, aber in der Pressemitteilung steht davon nichts. Es bleibt schleierhaft, welche statistischen Operationen zu den dann folgenden Angaben geführt haben: Gelten sie für einen 20-Jahresszeitraum oder nur für ein „Doppeljahr“? Und was bedeutet dann „zusätzlich“?
Der Anteil der Fälle, in denen eine Vergewaltigungsanzeige zur Verurteilung eines Täters geführt hat, reicht dann im Vergleich der sechs Ländergruppen von 4,1 Prozent (A-Länder) bis zu 24,4 Prozent (F-Länder)
Dieser Spread in der Erledigungsweise von Ermittlungsverfahren ist in der Tat eine erklärungsbedürftige Beobachtung. Ob es ein „Hauptproblem“ ist, ist jedoch nicht von vornherein klar. Würden absoluten Zahlen genannt, könnte man erkennen, ob die unterschiedliche Verurteilungsrate etwa eine unterschiedliche Anzeigerate „ausgleicht“ (was ich vermute), sprich: in Ländern mit vielen Anzeigen führen geringere Anteile davon zur Verurteilung, in Ländern mit weniger Anzeigen werden anteilsmäßig mehr Personen verurteilt. Eine wichtige Angabe wäre die Verurteilungszahl pro 100.000 Ew. ab 8 Jahren in den einzelnen Ländern bzw. Ländergruppen – liegen diese Zahlen ebenso weit auseinander oder sind sie ausgeglichener? Liegen auch diese Zahlen weit auseinander, dann könnte dies bedeuten, dass tatsächlich in den Bundesländern unterschiedlich viele Vergewaltigungen begangen werden oder aber es könnte ein unterschiedlich hohes Risiko bestehen, wegen Vergewaltigung (angezeigt und) verurteilt zu werden. Weil die betreffenden Zahlen nicht genannt werden, entfällt auch die Möglichkeit, diese naheliegenden Optionen zu diskutieren.
Aus Sicht der Bevölkerung betrachtet erscheint es beunruhigend, dass in den A-Ländern im Durchschnitt nur nach jeder 25. polizeilich registrierten Vergewaltigung ein Täter verurteilt wird. In den F-Ländern geschieht das in jedem vierten Fall.
Auch m. E. wäre es beunruhigend, wenn tatsächlich stattgefundene Vergewaltigungen mit sehr unterschiedlich hohem Risiko verurteilt würden. Die polizeiliche Registrierung allein stellt aber noch keinen Umstand dar, der hier zur alleinigen Datengrundlage gemacht werden kann, weil es – bekanntermaßen – bei Vergewaltigung beinahe ausschließlich auf einer Strafanzeige beruht, wenn eine Tat polizeilich registriert wird. Die Presseerklärung arbeitet hier mit der Unterstellung, jede polizeilich registrierte Vergewaltigung müsse als tatsächliche Vergewaltigung gelten.
Die 1998 erfolgte Einbeziehung der ehelichen Vergewaltigung in den Straftatbestand des § 177 StGB hat offenkundig die Anzeigebereitschaft bei solchen Fällen stark erhöht.
Es ist kriminologisch-kriminalstatistisch wenig sinnvoll zu behaupten, die Anzeigebereitschaft habe sich dadurch erhöht, dass das angezeigte Ereignis nun strafbar ist (die entsprechende Änderung fand übrigens schon im Jahr 1997 statt). Denn vorher konnte ja eine solche Anzeige - Vergewaltigung in der Ehe - überhaupt nicht bei § 177 StGB registriert werden. Und § 177 enthält seither auch sexuelle Nötigungen, die zuvor in einem anderen Tatbestand erfasst wurden.
Zum einen haben sich die Fälle der angezeigten Vergewaltigungen stark in den sozialen Nahraum der betroffenen Frauen verlagert. Fremde Tatverdächtige erreichten 1994 noch einen Anteil von 30 Prozent der aufgeklärten Fälle. 2012 waren es nur noch 18 Prozent. Der Anteil der „verwandten Tatverdächtigen“ stieg dagegen in diesem Zeitraum von 7,4 auf 27,9 Prozent.
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Daraus ergibt sich ein Beweisproblem. Die beschuldigten Männer geben heute meist den Geschlechtsverkehr zu und berufen sich darauf, er sei einvernehmlich erfolgt.
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Zum anderen zeigen sich zur Zahl der angezeigten Vergewaltigungen pro 100.000 Einwohner gegenläufige Trends. Während diese sogenannte Häufigkeitsziffer in den A-Ländern seit 1994/95 um 42,4 Prozent gestiegen ist, verzeichnen die F-Länder eine Abnahme um 30,1 Prozent. Für das Doppeljahr 2011/12 ergibt sich damit, dass in den A-Ländern pro 100.000 Einwohner um das 2,4-fache mehr Vergewaltigungen registriert worden sind als in den F-Ländern (12,1 zu 5,1).
Diese Angaben entsprechen meiner schon oben angestellte Vermutung: Die unterschiedlichen Folgen (Verurteilung oder nicht) gleichen unterschiedlich hohe Anzeigezahlen aus. Natürlich wächst das Beweisproblem, je näher (vermutliches) Opfer und Verdächtigter zueinander stehen. Denn dann steht eben öfter Aussage gegen Aussage, was schon der Erwartung nach statistisch zu einer geringeren Anzahl der Verurteilung führen muss. Wenn nun die unterschiedlichen Verurteilungsraten lediglich den unterschiedlichen Anteil von Anzeigen in Nähebeziehungen reflektieren, dann entspräche dieses Ergebnis den Erwartungen: Selbstverständlich sinkt die Verurteilungsquote, wenn die Anzeigen auf weniger stark beweiskräftiger Basis erstattet werden. Das gilt statistisch ganz unabhängig davon, ob im Einzelfall eine falsche Anzeige erstattet wurde oder die Anzeige zwar eine tatsächliche, aber nicht nachweisbare Vergewaltigung zur Grundlage hat.
Die Presseerklärung erwähnt einen wichtigen Zusammenhang nicht: Allgemein werden Strafverfahren nicht etwa mehrheitlich durch Urteil beendet, sondern häufiger durch Verfahrenseinstellungen der Staatsanwaltschaft. Wenn die entsprechenden Zahlen (Erledigung durch die Staatsanwaltschaften) für das hier untersuchte Delikt nicht genannt werden, wird damit der ggf. unzutreffende Eindruck erweckt, es gebe nach einer Vergewaltigungsanzeige nur Verurteilung oder Freispruch. Möglicherweise werden aber eine Reihe der Vergewaltigungsanzeigen gerade in Nähebeziehungen im Verlauf des Verfahrens relativiert und es erfolgt (nur) noch eine Anklage wegen anderer Delikte bzw. eine Einstellung aus Opportunitätsgründen. Jedenfalls bei Körperverletzungsanzeigen im Rahmen häuslicher Gewalt ist häufig zu beobachten, dass nach einer „Versöhnung“ der Beteiligten vorherige Strafanzeigen oder belastende Aussagen wieder zurückgezogen bzw. relativiert werden. Sicher wird in vielen Fällen die zunächst gestellte Strafanzeige/Aussage der Wahrheit entsprechen, aber den Staatsanwälten und Gerichten lässt sich m. E. nicht vorwerfen, dass sie ihre Entscheidungen nur auf guter Beweisgrundlage treffen.
Anders ausgedrückt: Je größer die Arbeitsbelastung der zuständigen Polizeibeamten, Staatsanwälte und Gerichte ausfällt, desto seltener enden die Strafverfahren mit einer Verurteilung des Täters.
Der vermutete direkte Zusammenhang mit der Arbeitsbelastung der Strafverfolgungsbehörden stellt sich mir als wenig plausibel dar. Man müsste für eine solche Aussage auch Daten zur tatsächlichen Personalstärke in den entsprechenden Abteilungen und zu deren tatsächlicher Arbeitsbelastung (auch durch andere Ermittlungsverfahren) berücksichtigen, was hier ja offensichtlich nicht geschehen ist.
Der Zusammenhang lässt sich aber auch anders interpretieren: Je häufiger Tatverdächtige der Vergewaltigung in einem Bundesland damit rechnen müssen, verurteilt zu werden, desto niedriger fällt dort die Zahl der registrierten Vergewaltigungen aus. Dies spricht für die präventive Wirkung einer intensiven Strafverfolgung. Auch diese Zusammenhänge sollten im Rahmen eines Forschungsprojektes untersucht werden.
Sicher: Auch diese Interpretation ist möglich aber nach „kriminologischer Vernunft“ wenig naheliegend. Für relativ abwegig halte ich es, dass sich potentielle Täter gerade dann mit Vergewaltigungen zurückhalten, wenn in dem betr. Bundesland ein höheres Verurteilungsrisiko besteht. Über unterschiedliche Verurteilungsrisiken weiß niemand etwas, der nicht gerade diese Presseerklärung gelesen hat, in der ja die betreffenden Bundesländer noch nicht einmal genannt werden. Und auch mit welcher Methode die Forscher gedenken, dieser Frage nachzugehen, bleibt rätselhaft. Für wahrscheinlicher hielte ich einen anderen Zusammenhang, nämlich dass die Anzeigebereitschaft steigt, wenn eine höhere Anzahl der Anzeigen zum „Erfolg“ führt. Aber dies ist ja offenbar auch nicht der Fall. Im Übrigen gibt es hinsichtlich Gewaltverhalten in Beziehungen und Bereitschaft zur Anzeigeerstattung sicherlich soziokulturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen Deutschlands und zwischen Stadt und Land, die hier eine Rolle spielen könnten.
Schließlich ist zu überprüfen, ob der Rückgang der Verurteilungsquote auch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zusammenhängt. 2006 hatte der Bundesgerichtshof eine Verurteilung wegen Vergewaltigung aufgehoben und dies wie folgt begründet: Dass „der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat“, belege „nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt. Das Herunterreißen der Kleidung allein reicht zur Tatbestandserfüllung nicht aus“. Seit dieser Entscheidung hat es viele Fälle gegeben, in denen die Staatsanwaltschaften und Gerichte den Vergewaltigungsparagraphen § 177 entsprechend eng ausgelegt haben. Seit vielen Jahren setzt sich deshalb der Bundesverband der 170 Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen (bff) für eine Reform des § 177 ein. Dasselbe Ziel verfolgt Terre des Femmes gegenwärtig mit dem Appell „Vergewaltigung –Schluss mit der Straflosigkeit!“ den inzwischen über 27.500 Menschen unterzeichnet haben(www.frauenrechte.de/gegen-vergewaltigung). Das geplante Forschungsprojekt soll auch dazu genutzt werden, zu diesen rechtspolitischen Fragen empirisch breit fundierte Antworten zu liefern.
Natürlich kann und soll man höchstrichterliche Entscheidungen mit kriminologischem Sachverstand kritisch hinterfragen. Auffällig und wenig verständlich ist insbesondere die unterschiedliche Definition des Merkmals „Gewalt“ in § 177 StGB und § 240 StGB. Es ist auch sinnvoll zu untersuchen, ob und in wie vielen Fällen ein Urteil die vermutete „Wirkung“ auf andere Urteile hatte. Aber ob es der Wissenschaftlichkeit gut tut, sich als unabhängiges Forschungsinstitut schon vor einer solchen Untersuchung mit einer bestimmten rechtspolitischen Position (der Verschärfung des § 177 StGB) zu identifizieren, kann bezweifelt werden.