Tag dreizehn – Prof. Nedopils psychiatrische Stellungnahme zu Gustl Mollath
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Schon zu Beginn der Hauptverhandlung hat Prof. Nedopil, beauftragt mit der (nach Leipziger, Simmerl, Kröber, Pfäfflin und Weinberger) erneuten Begutachtung des Angeklagten Mollath, eine begriffliche Einschränkung gemacht: Wenn ihm eine Exploration des Probanden nicht möglich sei, könne er regelmäßig kein Gutachten erstellen, sondern lediglich eine „Stellungnahme“ abgeben. Überschrieben ist sein Text nun tatsächlich mit „Psychiatrische Stellungnahme“.
Man merkt seiner Stellungnahme die Schwierigkeiten an, die es macht, den gerichtlichen Ansprüchen gerecht zu werden und zugleich zu vermeiden, seine Kollegen, die früher im Fall Gutachten erstellt haben, allzu hart zu kritisieren. Kaum hat er eine bestimmte Aussage getroffen, wird sie auch schon wieder relativiert und in Frage gestellt. Am Ende bleiben im Wesentlichen Erwägungen, die in der juristischen Bewertung nur mit in dubio pro reo bearbeitet werden können: Weder belegbar noch ausschließbar sind die in Betracht gezogenen Verdachtsdiagnosen oder Hypothesen „paranoide Persönlichkeitsstörung“ bzw. „wahnhafte Störung“, über deren Realität er eigentlich auch nur spekuliert. Hinsichtlich der Reifenstechereien (wären sie beweisbar) würde Nedopil selbst bei einer diagnostizierbaren Störung zur Schuldfähigkeit tendieren, bei den Angriffen auf seine Frau (wären sie beweisbar) ließe sich eine Schuldunfähigkeit nicht ausschließen. Schon daraus ergibt sich: § 63 StGB kann schon rein theoretisch nicht mehr bejaht werden, da dieser eine positive Feststellung von die Schuldfähigkeit beeinträchtigenden Störungen/Krankheiten voraussetzt. In dubio pro reo wirkt für die begünstigenden Rechtsfolgen des §§ 20, 21 StGB, aber gegen die belastende Rechtsfolge des § 63 StGB.
Folgt man dem bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung, kann man sich allerdings relativ sicher sein, dass es auf die psychiatrische Stellungnahme Nedopils gar nicht mehr ankommt: Weder die konkret angeklagten Taten gegen die frühere Ehefrau noch die Reifenstechereien sind strengbeweislich überzeugend belegt. Allerdings scheint die Staatsanwaltschaft – erkennbar an einem noch gestern gestellten Beweisantrag zum Reifenkomplex – anderer Auffassung zu sein. Sie hält offenbar Sachbeschädigungen (wohl in einfacher, nicht gemeingefährlicher Weise) noch für belegbar. Deshalb konnte auf das schon vorbereitete „Gutachten“ nicht verzichtet werden. Und natürlich ist es auch zur Rehabilitation Mollaths vom Verdacht, er sei wahnkrank, sinnvoll, eine solche Stellungnahme anzuhören. Bedauerlich ist, dass Mollath nicht durch eine Entbindung von der Schweigeplicht dafür gesorgt hat, dass die früheren Gutachtenergebnisse zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden.
Zutreffenderweise stellt Nedopil schon in seinen Vorbemerkungen dar, dass ohne Exploration des Angeklagten eine zuverlässige Einschätzung seiner Persönlichkeit nicht möglich sei. Er würde sich "nie" explorieren lassen, hat er einmal in einem Interview gesagt. Das relativiert er nun für die spezielle Situation Mollaths: Der durch Psychiater bestätigte Verdacht einer psychiatrisch relevanten Störung lasse sich eben nur mithilfe eines Psychiaters falsifizieren, meint Nedopil.
Dass es nach 13 Jahren ohnehin nicht möglich ist etwas zur Tatzeitpsyche des Angeklagten zu sagen, lässt er merkwürdigerweise unerwähnt. Hätte er dies für erwähnenswert gehalten, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass auch einige frühere Gutachter diese Problematik (Blick in die damals 4 – 8 Jahre zurückliegende Vergangenheit) in ihren Erwägungen völlig übergangen haben. So als lasse sich eine aktuelle Beobachtung beliebig in die Vergangenheit extrapolieren. Tatsächlich haben sich vorherige Gutachter insofern allein auf die Angaben der Hauptbelastungszeugin verlassen, deren mögliches Motiv zur Falschbelastung sie (ebenso wie die Nürnberger Strafkammer im Urteil) ignorierten.
An anderer Stelle entlastet Nedopil seine Kollegen direkt: Schließlich seien sie ja angewiesen auf die aktuell erhältlichen Informationen, man könne ihnen also nicht vorwerfen, dass sie die aufgrund neuerer Informationen bessere Erkenntnis nicht damals schon gehabt hätten. Das ist eine richtige Feststellung, trifft aber erstens nicht auf alle Vorgutachter gleichermaßen zu (insbesondere nicht auf Pfäfflin) und zweitens hätte auch mangelnde Information nicht von der Pflicht befreit (insbesondere betr. Leipziger) den Zusammenhang zwischen diagnostizierter Störung bzw. Krankheit und den konkreten Taten darzustellen. Diese Kernanforderung der forensisch-psychiatrischen Begutachtung haben Leipziger, Kröber und Pfäfflin weitgehend missachtet. Etwas verhalten weist Nedopil, der sich gerade mit diesem Punkt Mühe gibt, darauf hin, dass er die Auffassung Kröbers nicht teile. Und er selbst unternimmt es jedenfalls, seine hypothetisch-diagnostischen Erwägungen auf die (angeblichen) Taten differenziert anzuwenden.
Das Bemühen um Wahrhaftigkeit und Fairness ist in Nedopils Stellungnahme erkennbar, ebenso wie die in Interviews zum Ausdruck kommende selbstkritische Distanz zu den Möglichkeiten der eigenen Profession. Dennoch verlässt er diesen Pfad an einigen wichtigen Stellen; zwei seien erwähnt:
Hinsichtlich der (subjektiven) Bewertung der Rolle Dr. Wörthmüllers durch Mollath, argumentiert Nedopil, es dürfte für „die meisten Menschen abwegig“ sein, einen Zusammenhang zwischen Nachbarschaft und geschäftlichen Verbindungen zu Geldverschieberkreisen zu begründen – ein Hinweis auf Wahn. Auf den Vorhalt, ausgerechnet der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft habe dies in seinem Wideraufnahmegesuch nicht als abwegig sondern als subjektiv nachvollziehbar beschrieben, reagiert Nedopil seinerseits „nachhaltig“: Er bleibe bei seiner Auffassung. (Vgl. zur psychiatrischen Bewertung der Wörthmüller-Episode eingehend und lesenswert auch Sascha Pommrenke).
Für eine Rigidität des Angeklagten, die nur vorübergehend Kompromisse zulasse, zieht Nedopil auch die Mandatsniederlegung der Wahlverteidiger des Angeklagten heran. Dies erscheint wenig fair, da der Angeklagte die Verhandlungsöffentlichkeit dieser Situation nicht vermeiden konnte und Nedopil Mollaths besonnene Reaktion auf diese Nachricht sowie die offenkundig nach wie vor funktionierende Kooperation mit seiner Verteidigung unbeachtet lässt: Hier drängt sich die Vermutung auf, dass Nedopil in seiner Informationsmangelsituation ein Ereignis aus der Hauptverhandlung überinterpretiert, weil sie in das schon von ihm gefasste Schema (Kompromisslosigkeit Mollaths) passt. Generell ist es auch problematisch, wenn über den Umweg des psychiatrischen Gutachtens ungeprüfte Tatsachen Eingang in die Erörterung und Bewertung finden, wie etwa das angebliche Verhalten Mollaths gegenüber Mitpatienten oder seine Anwaltswechsel.
[Update: in einer Antwort auf einen Leserkommentar habe ich ergänzt, was ich oben mit "spekuliert" meine. Aus Gründen des Zusammenhangs will ich es hier einfügen:
Ich hatte den Eindruck, dass bestimmte Punkte, die den Verdacht stützen, verstärkt wurden, andere, die den Verdacht eher vermindern könnten, eher vernachlässigt wurden. Dabei passieren dann, wie auch schon in den Vorgutachten, Verwechslungen und Schludrigkeiten: Die Verwechslung der Montagsdemos wg. Hartz IV mit der Schüler-Friedensdemo (schon die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts wird von Nedopil psychiatrisch bewertet und zwar in einem Satz mit dem "Verdunkeln des Zimmers" - ich halte das für salopp gesagt: Quatsch) z.B. oder die (angesichts dessen was wir heute wissen) schon merkwürdige Ansicht, bei den Geldverschiebungen in die Schweiz habe es sich um "Peanuts" gehandelt. Das sind Punkte, die durchaus für die Frage eine Rolle spielen, ob es sich bei den Verhaltensweisen Mollaths, noch um akzentuierte, aber normalpsychologische Verhaltensweisen gehandelt hat, oder ob es sich um (im Rahmen des § 20 StGB relevante) Störungen handeln könnte. Zudem wird einerseits die Egozentrik Mollaths (bei den Konflikten mit anderen Patienten in der Forensik) betont, andererseits aber wird nicht darauf eingegangen, dass sich Mollath bekanntermaßen seit seiner Entlassung auch für andere Forensik-Patienten einsetzt.]
Eine zusammenfassende Bewertung fällt schwer. Meines Erachtens konnte Nedopils Ergebnis gar nicht anders ausfallen. Zu Recht weist er darauf hin, dass er ohne sein Haupthandwerkszeug – eine Exploration –seiner Aufgabe auch nur eingeschränkt gerecht werden kann. Und auch die unterbliebene Generalkritik an den früheren Gutachten ist nur zum Teil ihm vorzuwerfen, wenn die (früheren) Befunde weiterhin von der Schweigepflicht erfasst sind. Weniger nachvollziehbar sind unkritische Wertungen Nedopils, insofern es darum geht, die Verdachtsdiagnosen der Vorgängergutachten zu rechtfertigen.