Loveparade 2010 - Zweifel am Gutachten
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
An diesem Wochenende wurde in der Presse der Inhalt eines Verteidigungsschriftsatzes wiedergegeben. Darin werden formale und inhaltliche Zweifel am Gutachten des Sachverständigen Keith Still geltend gemacht.
Nach Informationen der SZ sei in die Gutachtenerstattung auch eine Frau einbezogen gewesen, die an einer Arbeitsgruppe des Innenministeriums NRW zu Folgen der Loveparade-Katastrophe beteiligt gewesen sei. Zitat (SZ):
„Mit Keith Still, Professor an ihrer ehemaligen Uni in England, arbeitete sie nach Informationen der Süddeutschen Zeitung am Gutachten zu den Ursachen der Loveparade - auf dem letztlich die gesamte Anklage der Staatsanwaltschaft gegen zehn Beschuldigte aufbaut. Funk selbst sagt dazu, sie habe nur organisatorische Hilfe geleistet. "Natürlich haben wir auch über die Thematik an sich diskutiert." Gleichzeitig saß sie in einer Arbeitsgruppe des Innenministeriums, die sich ebenfalls mit der Loveparade beschäftigt, mit den Folgen für Großveranstaltungen. Öffentlich machte sie diesen möglichen schweren Interessenkonflikt gegenüber den Ermittlern nicht.“
„In den Ermittlungsakten taucht sie zumindest ziemlich oft auf, ein großer Teil des E-Mail-Verkehrs zwischen der Staatsanwaltschaft Duisburg und dem englischen Gutachter läuft über sie, bei Ortsterminen wird sie als Mitarbeiterin eingeführt. Sie unterzeichnet eine Verpflichtung zur Verschwiegenheit. Gleichzeitig arbeitet sie in einer Arbeitsgruppe von Innenminister Jäger, dem obersten Dienstherr der Polizei. Ein Konflikt? Nein, sagt Sabine Funk. "An der Erstellung des Gutachtens war ich gar nicht beteiligt." Sie habe Still lediglich zu Terminen gefahren. Die Arbeitsgruppe beim Ministerium habe sich "explizit" nicht mit der Loveparade beschäftigt, sondern mit den Folgen für Großveranstaltungen.“
Auch in der Rheinischen Post wird die betreffende Mitarbeiterin damit zitiert, sie sei zwar Bekannte des Gutachters Still, aber nur organisatorisch, nicht inhaltlich an der Gutachtenerstattung beteiligt gewesen, Zitat (RP):
"Da Herr Still und ich uns von früher kannten, habe ich die Anfangszeit seines Engagements begleitet", sagt die betroffene Sabine Funk dagegen auf Anfrage. Sie arbeitete nach der Loveparade-Katastrophe für das Innenministerium als ehrenamtliches Mitglied in der Projektgruppe "Sicherheit bei Großveranstaltungen". In dieser Task Force wurde das Handbuch zur Verhaltensweise (verschärfte Auflagen) für NRW-Städte und Kommunen bei Großveranstaltungen entwickelt. "Ich wurde damals von der Uni Wuppertal vorgeschlagen für die Teilnahme", sagte Funk. Einen Interessenkonflikt zwischen dieser Tätigkeit und ihrer Freundschaft zu Still sehe sie jedoch nicht. "Den Inhalt des Gutachtens kenne ich nur aus der Zeitung.
(…)
Ein Sprecher [des Innenministers] erklärte: "Sabine Funk hat von 2011 bis 2012 in der Funktion als Veranstalterin für uns gearbeitet. Dafür hat sie kein Honorar erhalten." Sie selbst gibt an, dem Innenminister nur einmal kurz begegnet zu sein. "Er hat eine etwa fünfminütige Dankesrede bei der ersten Sitzung der Projektgruppe gehalten. Das war's."“
Ob es tatsächlich einen relevanten Interessenkonflikt gab, hängt davon ab, ob und inwieweit die betr. Mitarbeiterin überhaupt inhaltlich auf das Gutachten Einfluss genommen hat bzw. nehmen konnte. Bislang ist der Vorwurf des Verteidigers eines Lopavent-Mitarbeiters m. E. dazu noch nicht hinreichend geklärt.
Der Vorwurf, ein Interessenkonflikt sei verschwiegen worden, wird im Anwaltsschreiben und auch von Seiten der Opposition in NRW mit dem inhaltlichen Vorwurf verknüpft, das Gutachten von Still habe die konkreten Abläufe am Veranstaltungstag 2010 nur unzureichend berücksichtigt und insbesondere die polizeilichen Aktionen außer Betracht gelassen. Zitat (RP)
„Anwalt Gercke meint dagegen unter Verweis auf ein eigenes Gutachten, dass die Besucherströme bei der Love-Parade viel genauer hätten untersucht werden müssen. Außerdem, so Gerckes Gutachter Professor Armin Seyfried, hätte man untersuchen müssen, welche Entscheidungen am Tag der Veranstaltung die Situation an den Eingängen weiter verschärft hatten.“
„Obwohl die Loveparade durch Dutzende Kameras und Luftbilder das mit am besten dokumentierte Unglück war, verlasse sich Still auf theoretische Annahmen. Dass der sich allein auf Besucherzahlprognosen gestützt habe, sei methodisch mangelhaft. Für die Ermittlung von Ursachen wäre eine Zählung anhand von Videos notwendig gewesen. Die liegen zu Hunderten bei der Staatsanwaltschaft, seien von Still aber nicht ausgewertet worden.
Der beschreibt in seiner Arbeit zwar, wie es im Zugangstunnel und an der Rampe auf dem Veranstaltungsgelände zum Gedränge kommt, warum Menschen sterben mussten, darauf geht Still aber nicht direkt ein. Aus Sicht von Gegengutachter Seyfried auch, weil es bis heute keine seriösen Modelle gebe, um zu erklären, wann aus einem einfachen Stau ein gefährliches Gedränge werde.“
Dieselben inhaltlichen Bedenken waren auch schon hier im Blog und auch hier schon Gegenstand der Kritik und der Diskussion.
Ganz unabhängig davon, ob eine möglicherweise im Interessenkonflikt stehende Mitarbeiterin inhaltlich Einfluss genommen hat oder nicht, trifft dieser inhaltliche Vorwurf meines Erachtens zu. Die Frage, ob die polizeilichen Sperren zum Unglück beigetragen haben, lässt sich im konkreten Fall recht eindeutig mit „Ja“ beantworten. Die entsprechenden Vorgänge sind seit Herbst 2010 bekannt. Es bedarf auch keiner besonderen Theorie zur Entstehung von Massenturbulenzen, wie der von der Verteidigung angeführte Experte äußert.
Anderer Ansicht bin ich allerdings, was die Konsequenzen für den Prozess angeht. Es wäre tragisch, wenn die unzureichende Begutachtung die Folge hätte, die bereits in der Presse angedeutet wird, Zitat (SZ):
„Gercke hat beim Landgericht Duisburg beantragt, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen. Der Prozess stünde damit vor dem Aus, noch bevor er begonnen hat.“
Update (09.09.): Aufgrund des neuen Multiperspektiv-Videos von Jolie habe ich mich noch einmal auf die Rolle der Polizeiketten für den Zustrom bzw. die Stockung auf der Rampe konzentriert. Insbesondere ist die Frage interessant, wie die Besucher bis zur Einrichtung der Sperren auf das Gelände gelangt sind und weshalb das später nicht mehr der Fall war.
Besondere Berücksichtigung finden die Bilder der Kamera 12 (rechts oben im Video). Dort kann man erkennen, dass für lange Zeit (von 14.24 bis 14.56 Uhr) der weiße Float mit den zwei Luftballons stehen geblieben ist und während dieser ganzen Zeit zwar eine gewisse verlangsamende Stauung, aber kein stillstehender Stau am Rampenkopf gegeben ist. Im oberen Teil der Rampe können sich bis zu diesem Zeitpunkt alle Personen mit fast unverminderter Geschwindigkeit dieser Stauung annähern, d.h. der Stau wächst nicht nach hinten/unten. Der Kontrollblick auf die Bilder der Kameras 4 und 5 (links unten und Mitte), auf denen man teilweise die Rampe hinunterschauen kann, zeigt, dass sich auf den Floatwegen viele Leute bewegen, d.h. sie sind nicht so dicht gedrängt, dass sie nicht weitergehen könnten. Es war also mind. bis 15 Uhr, nach meinem Empfinden sogar bis 15.19 Uhr ein steter Zufluss auf das Gelände möglich. Der nächste Float fährt ca. 15.17 Uhr vorbei. Erst dabei kommt der Rampenkopf wirklich ins Stocken, es entsteht jetzt ein Rückstau auf dem oberen Rampendrittel. Da das Gelände ja noch viele Freiräume bot, kann man m. E. schließen, dass ohne Floatbewegung kein gefährlicher Stau am Rampenkopf entstanden wäre. Und als dann ab 15.29 Uhr auf der oberen Rampe wirklich Stillstand eingetreten ist, führt dies um 15.31 Uhr dazu, dass die Besucher rechts und links die Böschung hoch gehen. Wegen dieser "Umgehung" des regulären Wegs kommt dann auch später der Fluss auf der Rampe (siehe Kamera 13 links oben) nicht zum Erliegen. Wenn man sich 15.45 bis 15.50 Uhr anschaut, dann erkennt man, dass die Bewegung auf der Rampe (links oben, Kam 13) und die Bewegung auf den Böschungen (re oben, Kam 12) ganz gut zusammenpassen. Die Menschen, die im steten Strom durch Tunnels und über die Rampe kommen, sind hier nicht in einen Stillstand geraten, sondern sind dann doch irgendwie aufs Gelände gekommen.
Ab ca. 15.50 sieht man allerdings deutlich, dass nun auf der Rampe (links oben, Kam 13), ca. ein Drittel des Stroms gegen die Hauptrichtung verläuft. Das sind sicherlich in der Mehrheit Leute, die einfach nach einigen Stunden wieder nach Hause wollen, können aber auch welche sein, die keine Lust mehr haben und gleich am Rampenkopf umgekehrt sind. (Dieser Rückstrom ist zwar um diese Zeit noch kein Problem, aber er ist etwas "Neues", das durchaus bei absehbar sich verstärkender Tendenz Probleme mit sich bringen kann - unabhängig von Polizeiketten und Sperrungen. Dieser Rückfluss von Menschen ist offenbar ungenügend berücksichtigt - man hat, obwohl man in der Planung ja schon mit 10000en Personen rechnete, die während des Nachmittags vorauss. wieder nach Hause wollen, diesen Menschen keinen eigenen Ausgang angeboten. Es war vorhersehbar, dass sie mit den ebenfalls 10000en noch ankommenden Besuchern ins Gehege kommen.)
Ab ca. 16 Uhr sieht die Lage völlig anders aus, denn jetzt tritt die Wirkung der Polizeisperren ein, von unten kommt jetzt niemand mehr auf die Rampe, nur noch von oben kommen "Heimkehrer", die dann ab ca. 16.10 Uhr von der Polizeikette 3 gestoppt werden. Die Folgen sind deutlich zu erkennen ab 16.11 Uhr (links oben, Kam 13), am besten um 16.19 Uhr. Hier bildet sich ein neuer, diesmal völlig still stehender Stau von Leuten, die nach unten wollen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn oben am Rampenkopf (Kamrea 12 rechts oben) zeigt nun einen umgekehrten Flussverlauf: Der Personenstrom geht jetzt von oben nach unten. Der an der Polizeikette 3 entstehende Stau ("Pfropf") sorgt letztlich dafür, dass später auch diejenigen, die nach Öffnung der Polizeiketten 1 und 2 wieder von unten auf die Rampe strömen, nicht mehr nach oben durchkommen (das bleibt auch so nach Aufgabe der Polizeikette 3 um ca. 16.25 Uhr). Diese Polizeikette ist damit unmittelbarer Auslöser der Verdichtung an dieser Stelle, die dann 30-45 Minuten später die tödlichen Folgen hat.
Wenn die Staatsanwaltschaft (in der Pressekonferenz zur Anklage, ich denke das ist so auch in der Anklage enthalten) nun sagt: "Insbesondere die polizeilichen Maßnahmen waren nach den Feststellungen eines international anerkannten Sachverständigen weder für sich genommen noch insgesamt ursächlich für den tragischen Ausgang der Loveparade", dann wird m. E. erstens das Gutachten nicht zutreffend wiedergegeben. Und zweitens widerspricht diese Aussage (was das Errichten der Kette 3 angeht) eklatant dem, was jeder mit offenen Augen erkennen kann: Ohne diese Kette wäre der konkrete Erfolg an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt nicht eingetreten. Die Kette 3 war erkennbar ursächlich für die Menschenverdichtung im unteren Drittel der Rampe zu diesem Zeitpunkt. Das entlastet nicht diejenigen, die bei der Planung und Genehmigung der Veranstaltung fahrlässig gehandelt haben und die mit ihren Handlungen eben auch wichtige Ursachen gesetzt haben für die Katastrophe. Das bedeutet auch nicht notwendig, dass einzelne Beamte "schuld" sind, denn dafür müssten auch noch subjektive Merkmale nachgewiesen werden.
Aber die Polizeiketten ganz herauszulassen aus der Erklärung des Unglücks kann schlimme Folgen haben, denn dann bleibt der konkrete Erfolg letztlich unerklärlich.
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Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.
Februar 2014 (50 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)
Mai 2013 (130 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)
Juli 2012 (68 Kommentare, ca. 6500 Abrufe)
Dezember 2011 (169 Kommentare, ca. 7700 Abrufe)
Juli 2011 (249 Kommentare, ca. 13000 Abrufe)
Mai 2011 (1100 Kommentare, ca. 12000 Abrufe)
Dezember 2010 (537 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)
September 2010 (788 Kommentare, ca. 19000 Abrufe)
Juli 2010 (465 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.