Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Es ist fünf Jahre her. 21 junge Menschen wollten feiern und kamen ums Leben in einer Massenturbulenz auf der Rampe zum Loveparade-Gelände in Duisburg. Kein Zufall, keine höhere Gewalt, sondern eine vermeidbare Katastrophe, von Menschen verursacht.
Seit fünf Jahren arbeitet die Justiz an der strafrechtlichen Aufarbeitung dieses Geschehens. Wer hat was pflichtwidrig getan, wer hat was pflichtwidrig unterlassen und damit den Tod dieser Menschen und die Verletzung von hunderten weiterer Personen zu verantworten? Ein riesiger Aufwand wurde betrieben, tausende Akten durchgearbeitet, hunderte Zeugen vernommen, Filme und Fotos gesichtet, schließlich eine hunderte Seiten starke Anklageschrift angefertigt. Dennoch steckt das Verfahren seit Monaten im Zwischenverfahren fest. Die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde jetzt erneut verschoben: Dieses Jahr soll es wohl nichts mehr werden mit dem Strafprozess. Die bisher nicht Angeklagten können wieder ruhig schlafen: Die Verfolgung verjährt mit dem fünften Jahrestag (Spiegel Online).
Im Folgenden noch einmal die Zusammenfassung der Ereignisse (ähnlich schon in meinem Beitrag vom September 2010 gepostet).
Bei der Planung der LoPa hat man nicht beachtet, dass der ohnehin problematische gemeinsame Ein- und Ausgang zwischen den Tunneleingängen und der oberen Rampe zwar knapp die erwarteten Besucherströme in einer Richtung verkraften konnte, aber nicht die vorab realistisch geschätzten Besuchermengen in beiden Richtungen. Durch Ein- und Ausgang hätten am Nachmittag über mehrere Stunden hinweg laut Planung in der Summe hundertausend und mehr Personen pro Stunde geschleust werden sollen. Trotz des erkennbaren Widerspruchs (60.000 Personen/Stunde maximaler Durchgangsstrom in einer Richtung unter optimalen Bedingungen, 100.000 Personen/Stunde in gegenläufigen Richtungen für den Nachmittag geplant) wurde dieser unstimmige Plan von den Veranstaltern als Teil des Sicherheitskonzepts vorgelegt und von den zuständigen Behörden zur Grundlage der Genehmigung akzeptiert.
Dass die Tunnelzugänge problematisch waren, war zwar jedem bewusst, aber man "plante" dieses Problem weg, indem man meinte, den Zustrom sicher steuern zu können. Für die Steuerung des Abstroms während der Veranstaltung (z.T. mehr als 50.000 Personen/Stunde wurden am Nachmittag erwartet) gab es gar kein Konzept. Und weder die zu einer Besuchersteuerung notwendige Anzahl von Ordnern, noch die dazu von den Experten vorab geforderten Lautsprecher waren am Veranstaltungstag vorhanden.
Das für die Veranstaltung geforderte Sicherheitskonzept enthielt eine Lücke gerade in dem von allen zuvor als sicherheitstechnisch problematisch angesehenen Eingangsbereich, der auch unklar mal dem Veranstaltungsgelände mal dem Straßengelände zugewiesen wurde und keinerlei Fluchtwege aufwies. Ein Konzept dafür, was man tun könne, wenn es dort zu Stauungen kommt, war nicht vorhanden. Entgegen dieser Lücke, die aus den veröffentlichten Dokumenten einschließlich der Entfluchtungsanalyse erkennbar ist, wurde die Veranstaltung genehmigt.
Die Auflagen der Genehmigung, die u.a. beinhalteten, die Zuwege und Fluchtwege von Hindernissen frei zu halten, wurden in eklatanter und gefährlicher Weise missachtet. Die Zu- und Abgangsrampe wies am Veranstaltungstag noch etliche Hindernisse auf: Zur Personenstromsteuerung ungeeignete Bauzäune, Brezlbuden, Polizeifahrzeuge hinter weiteren Bauzäunen. Ein Gulli und ein Schlagloch mit Baumwurzel wurde - Gipfel der Rücksichtslosigkeit - mit einem Bauzaun abgedeckt. Gerade in diesem Bereich kam es später zu einer der tödlichen Turbulenzen.
Als es dennoch zu Stauungen kam, nämlich wie schon nach der Entfluchtungsanalyse vorhersehbar und unvermeidlich am oberen Rampenende, fehlte ein funktionierender Plan für diesen Fall. Das "Pushen" durch Ordner und "Wegziehen" durch die Floats konnte bei der Anzahl der Besucher, die einerseits auf das Gelände strömten und die andererseits die Veranstaltung gerade gleichzeitig verlassen wollten, nicht funktionieren: Es waren dort insgesamt zu viele Personen in beiden Richtungen unterwegs. Zwischenzeitlich verschafften sich die Besucher dort oben selbst Platz, indem die Böschung gestürmt und Zäune umgelegt wurden. Dennoch schien dies den Verantwortlichen keine „Lösung“ – man rief die Polizei zu Hilfe.
Die Einsatzleitung der Polizei, auf die Situation unzureichend bzw. gar nicht vorbereitet, entschloss sich ad hoc in den Tunneln Polizeisperren zu errichten, um den Zugang zur Rampe dort zu unterbrechen, statt dies schon bei den Vereinzelungsanlagen vor den Tunnels, wie es nahelag und nach allem, was wir heute wissen, auch effektiv möglich gewesen wäre, zu tun. Zudem errichtete sie an einer Engstelle auf der Mitte der Rampe eine weitere Sperre, die die Besucher am Zu- und Abgang hinderte. Alle drei Sperrpositionen waren höchst ungeeignet und sie widersprachen eklatant den vorab gegebenen Empfehlungen, Stauungen in beiden Tunnelzugängen unbedingt zu vermeiden. Sie hatten auch erkennbar keine Entlastung zur Folge, sondern eine gefährliche Verlagerung und enorme Verschärfung der Stauung. Durch die Platzierung der Sperre auf der Rampenmitte entstand nun ein Gedränge zwischen den Wänden im unteren Drittel der Rampe, dort wo es keinen Ausweg zur Seite gab.
Die Sperren in den Tunneln wurden schon zeitlich vor der Sperre auf der Rampenmitte aufgelöst bzw. überrannt, so dass sich das Gedränge auf dem unteren Rampendrittel noch einmal stark verschärfte. Offenbar war auch die Funk-Kommunikation zwischen den Verantwortlichen des Veranstalters und sogar der Polizei untereinander gestört. Niemand wusste zeitweise, was er oder die anderen taten, welche Sperren geöffnet, welche geschlossen waren. Aber auch als die Polizeisperre in der Rampenmitte aufgelöst wurde, konnten die ankommenden Besucher nicht nach oben abströmen, denn die ihnen entgegenkommenden Besucher von oben waren hinter der vorherigen Polizeisperre ebenfalls aufgestaut worden und verstopften nun ihrerseits den Zugang zum Gelände. Da die feststeckenden Besucher, die ja teilweise schon Stunden auf den Zuwegen verbracht hatten, weiterhin nicht per Lautsprecher informiert wurden, und auch mangels Hinweisschildern gar nicht wussten, wohin sie gehen sollten, suchten sie selbst Auswege aus dem Gedränge – sie kletterten an Masten, auf einen Container, und v.a. auf einer schmalen Treppe nach oben. Dies hatte zur Folge, dass sich das Gedränge in den Richtungen dieser vermeintlichen Auswege enorm verschärfte und es insbesondere in Richtung der Treppe über lange Minuten zu Massenturbulenzen (NICHT dagegen zu einer Massenpanik) kam. Wenn Menschen auf engsten Raum aneinandergepresst werden, geht ihnen die Bodenhaftung verloren, erschöpfte Menschen werden nach unten gedrückt, andere werden darüber gepresst, so dass sich Menschen mehrlagig stapeln und diejenigen, die in diesem Knäueln unten liegen, werden erdrückt bzw. ersticken. (…)
Die genannten Umstände führten - zusammen - zur Katastrophe. Entgegen den vorherigen Ankündigungen (Sicherheit hat Vorrang) hat man diese in entscheidenden Punkten vernachlässigt. Bei allen drei "Akteuren" (Veranstalter, Stadt, Polizei) lassen sich meiner Meinung nach fahrlässige Handlungen und Unterlassungen feststellen, die Tod und Verletzung zurechenbar mitverursachten und zu einer Anklageerhebung wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) oder Körperverletzung (§ 229 StGB) führen könnten. Die genaue institutionelle und personelle "Zuständigkeit" für jede dieser Fahrlässigkeiten ist Sache der Staatsanwaltschaft.
Schon in den ersten Stunden nach der Katastrophe begann der Versuch, die Verantwortlichkeiten zu vertuschen, sich auf Kosten anderer zu exkulpieren und der wohlfeilen Ankündigung einer schonungslosen Aufklärung entgegenzuarbeiten. Als erstes wurden die Opfer selbst verantwortlich gemacht – für die Sicherheit mitverantwortliche Personen stellten sich im TV hin und erklärten, nicht die Planung sei schuld, sondern die Besucher, die geklettert seien und abgestürzt. Bis heute wiederholen unverantwortliche Journalisten diese aus durchsichtigen Gründen in die Welt gesetzte Mär von tödlichen Verletzungen durch Stürze. Und bis heute ist auch in seriösen Medien bis hin zur Tagesschau ganz falsch von einer angeblichen "Massenpanik" der Besucher die Rede.
Als man aufgrund des viele Stunden umfassenden Videomaterials nicht mehr behaupten konnte, die Opfer seien selbst schuld, begannen die Verantwortlichen sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Besonders fragwürdig war die Äußerung des NRW-Innenministers Jäger, der von Sachkenntnis völlig ungetrübt sich vor "seine" Polizei stellen zu müssen glaubte und eine Verantwortung der Polizei rundweg ablehnte. Lange Zeit wurde zudem vom damaligen OB Sauerland die politische Verantwortung für die Katastrophe geleugnet. Als erstes hatte die Stadt Duisburg unter seiner Führung nichts besseres zu tun, als eine Anwaltskanzlei für eine hohe Summe mit einem Gefälligkeitsgutachten zugunsten der Stadtverwaltung zu beauftragen, während sich die Lopavent Schallers durch Veröffentlichung selektiver Kameraaufzeichnungen reinzuwaschen versuchte.
Es ist hier nicht der Platz, die gesamte Strafverfolgungstätigkeit zu schildern und detailliert kritisch zu durchleuchten. Aber trotz aller Bemühungen um umfassende und objektive Ermittlungen wurde am Ende von der Staatsanwaltschaft ein wesentlicher Fehler gemacht, der jetzt den ganzen Prozess verzögert oder möglicherweise sogar verhindert: Die Staatsanwaltschaft und der britische Sachverständige sind der Auffassung, die Katastrophe sei schon allein aufgrund der Planung und Genehmigung erklärbar. Da es ohnehin unvermeidlich zu einem tödlichen Gedränge gekommen wäre, komme es auf die konkrete Situation am 24.07.2010 nicht an. Die Polizeisperren seien als Kausalfaktor auszuschließen. Ebenso wenig ist es aber aus meiner Sicht nachvollziehbar, aufgrund der Polizeisperren die Verantwortlichkeit der Veranstalter und Genehmigungsbehörden kleinzureden oder zu verneinen. Schließlich waren es gravierende Planungsfehler im Vorfeld, die diese Katastrophe ermöglichten: Bei getrennten Ein- und Ausgängen, bei einer breiteren Zugang zum Gelände im oberen Bereich der Rampe, mit Hinweisschildern und Lautsprechern, wäre es gar nicht notwendig gewesen, die Hilfe der Polizei zur Steuerung der Besucherströme anzufordern. Die Planungsfehler waren auch vorab erkennbar und hätten bei pflichtgemäßer Prüfung zur Versagung der Genehmigung führen müssen.
In der Allgemeinheit – auch bei vielen Juristen – ist die Ansicht verbreitet, man könne bei solchen Geschehnissen nur einen (bzw. eine Ebene) verantwortlich machen, einer sei schuld und entlaste mit seiner Schuld quasi die anderen Beteiligten. Aber in einem komplexen Geschehen können durchaus auf verschiedenen Ebenen Fahrlässigkeiten begangen werden, die denselben Erfolg bedingen und strafrechtlich bedeutsam sind. Späteres menschliches Verhalten entlastet den zuvor pflichtwidrig Handelnden nur dann, wenn es selbst nicht vorhersehbar durch die vorherige Fahrlässigkeit veranlasst ist. So ist es m. E. hier: Die spätere Pflichtwidrigkeit der Polizei entlastet nicht die vorherige der Planer und Genehmiger, weil die Polizeisperren ein Rettungsversuch waren, der zwar alles nur noch schlimmer machte, aber eben von der fahrlässigen Planung veranlasst war.
Die Erwartungen vieler Opfer und deren Angehöriger, mit dem Hauptverfahren würde nach fünf Jahren zumindest begonnen, sind in den vergangenen Monaten schwer enttäuscht worden. Nun heißt es, mit einer Hauptverhandlung sei frühestens 2016 zu rechnen.
UPDATE (24.07. mittags): Nun erscheint bei Spiegel Online die Nachricht, auch Keith Still (der britische Sachverständige) habe in einer Antwort auf die Fragen des Gerichts nun ausgeführt, dass eine frühere Sperre des Veranstaltungszugangs ("closing the gates") die konkrete Katastrophe verhindert hätte.
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/love-parade-2010-schnelleres-schli...
Die Tatsache selbst ist offensichtlich richtig und ist denjenigen, die das Ereignis seit 2010 verfolgt haben, schon seit beinahe fünf Jahren klar. Die Neuigkeit ist, dass nun auch Still dies bestätigt. Denn sein Gutachten wurde bisher so interpretiert, dass er - wie auch die Staatsanwaltschaft - von einer unvermeidbaren Katastrophe ausging, die "allein" auf Planungsfehlern basierte.
Drei Anmerkungen dazu:
1. Dies bedeutet, anders als einige jetzt folgern werden, keineswegs die völlige Entlastung der Veranstalter; vgl. meinen Text oben.
2. Wenn damit eine erneute Belastung der Polizei verbunden ist, dann kommt diese "merkwürdigerweise" just zu einem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr zu einer Anklage von Polizeibeamten führen kann: Heute tritt Verjährung ein.
3. Das Ganze wirft ein sehr bedenkliches Licht auf die Aktionen der Staatsanwaltschaft. Sie hatte bei Vorstellung der Anklageschrift im Jahr 2014 in einer Pressekonferenz entgegen den offenkundigen Tatsachen verkündet:
"Andere Ereignisse am Veranstaltungstag sind strafrechtlich nicht relevant geworden. Insbesondere die polizeilichen Maßnahmen waren nach den Feststellungen eines international anerkannten Sachverständigen weder für sich genommen noch insgesamt ursächlich für den tragischen Ausgang der Loveparade."
Ich habe diese Äußerung bereits als FALSCH kommentiert und zudem festgestellt, dass sich diese Folgerung auch nicht dem Still-Gutachten entnehmen lässt. Still scheint dies nun auf Rückfrage zu bestätigen.
Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.
Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 5900 Aufrufe)
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 6900 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 12300 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 14200 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 11600 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 26000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 21500 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 35000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.