Europäisches "ne bis in idem" - Art. 54 SDÜ

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 12.04.2008

Der Generalanwalt Damaso Ruiz-Jarabo des Europäischen Gerichtshofs hat vorgeschlagen, das Verbot, wegen derselben Tat zweimal vor Gericht angeklagt zu werden, Art. 54 SDÜ, auch im Falle einer Verurteilung zum Tode, die nie hätte vollstreckt werden können, anzuwenden. Ein in einem Schengener Vertragsstaat rechtskräftig Abgeurteilter könne nicht in einem anderen Vertragsstaat wegen derselben Tat strafrechtlich verfolgt werden, wenn die ihm auferlegte Strafe nach dem Recht des Urteilsstaats niemals hätte vollstreckt werden können. Ein Abwesenheitsurteil stelle eine rechtskräftige Aburteilung dar (Schlussanträge vom 8. April 2008 - C-297/07; BeckRS 2008 70432).

Sachverhalt: Der in der französischen Fremdenlegion dienende deutsche Staatsangehörige B. wurde 1961 in Algerien von einem französischen Militärgericht in Abwesenheit - B. hatte sich in die ehemalige DDR abgesetzt - wegen eines Tötungsdelikts zum Tode verurteilt. Nach dem damals geltenden Code de justice militaire wäre die Strafe im Fall eines späteren Auftauchen des Verurteilten nicht vollstreckt worden. Vielmehr wäre ein neues Erkenntnisverfahren in seiner Anwesenheit eingeleitet worden. Allein der Ausgang dieses neuen Verfahrens hätte über eine mögliche Bestrafung entschieden. Im Jahr 2002 leitete allerdings die Staatsanwaltschaft Regensburg ein Ermittlungsverfahren gegen B. wegen der in Algerien begangenen Tat ein. Das LG Regensburg zweifelte an der Rechtmäßigkeit des neuen Verfahrens und legte im Wege der Vorabentscheidung die Sache dem EuGH vor.

Zur Rechtslage: Von Verfassungs wegen, Art. 103 Abs. 3 GG, verbrauchen in Deutschland nur inländische Entscheidungen die Strafklage für dieselbe Tat. Ausländische Strafentscheidungen wegen derselben Tat bildeten früher grundsätzlich kein Verfahrenshindernis. Nunmehr gewährleistet Art. 54  SDÜ , dass jedenfalls rechtskräftige Verurteilungen und Freisprüche innerhalb des gesamten Schengener Rechtsraums ein Verfahrenshindernis bewirken.

Zur Zuständigkeit des EuGH: Die Zuständigkeit des EuGH für eine Entscheidung über Art. 54 SDÜ ergab sich aus Art. 2 des sog. Schengen-Protokolls, welches den sog. Schengen-Besitzstand in den Rechtsrahmen des Titels VI, Art. 29 ff. EU und damit in die Jurisdiktion des EuGH gem. Art. 35 Abs. 1 EU i.V.m. § 1 EuGHG überführte. Hiernach besteht für jedes mitgliedschaftliche Gericht die Möglichkeit und für das im konkreten Verfahren letztinstanzliche Gericht sogar die Pflicht (BGHSt 47, 326 = NJW 2002, 2653), Fragen bei der Auslegung des SDÜ im Wege der Vorabentscheidung (vgl. Art. 234 EG) dem EuGH vorzulegen. Die Auslegungszuständigkeit geht damit vom nationalen Gericht auf ein supranationales Gericht über, dass eine einheitliche Interpretation gewährleistet.

Literaturhinweise:

  • DAV nimmt zum Grünbuch der Kommission zum Grundsatz "ne bis in idem" Stellung, EuZW 2006, 325
  • EuGH Strafklageverbrauch bei Einstellung durch die Staatsanwaltschaft, NJW 2003, 1173
  • Vogel/Norouzi Europäisches "ne bis in idem", JuS 2003, 1059
  • S. Stein Ein Meilenstein für das europäische"ne bis idem", NJW 2003, 1162
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Der lesenswerte Antrag des GA entspricht ganz den in der Rechtsprechung des EuGH vorgegebenen Leitlinien. Der Fall ist, da im Ersturteil vor 47 Jahren eine Todesstrafe verhängt worden ist - ein heute im "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (vorsichtig gesprochen) ungewöhnlicher Akt - sicherlich spektakulär. Auch die Einbeziehung des früheren französischen Kolonialgebiets, mag ungewöhnlich erscheinen. Interessant sind ferner die ergänzenden Ausführungen des GA zur Anwendbarkeit des Art. 54 SDÜ auf Amnestie-Entscheidungen (Rn. 76 ff.). Die im Zentrum stehende Frage nach der Reichweite der rechtskräftigen Aburteilung beantwortet sich aber seit "Gözütok u. Brügge" (fast) wie von selbst: Es kommt auf die Rechtskraftwirkung im erstverurteilenden Staat an. In Frankreich wäre ein erneutes Verfahren nicht mehr möglich gewesen, ergo muss dies auch schengenweit so sein. Dass Ungarn (Rn. 68) sich am Wortlaut des Art. 54 SDÜ festklammert und feinsinnig ausführt, die Formulierung "nicht mehr vollstreckt werden kann" impliziere, dass zuvor wenigstens zeitweise vollstreckt werden konnte (arg e con "nicht mehr"), ist zwar sprachlich logisch - aber nicht das, worauf es dem EuGH ankommt. Wieder sei auf "Gözütok und Brügge" verwiesen. Seitdem wissen wir, dass auch die Staatsanwaltschaft gelegentlich "aburteilt", wenn sie (etwa nach § 153a StPO) einstellt. Dem deutschen Begriffsjuristen mag das ein Graus sein, demjenigen, der im Sinne der durch Art. 54 SDÜ garantierten Freizügigkeit denkt, ist es eine Selbstverständlichkeit.

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