BVerfG: Verfassungsbeschwerde gegen lange Untersuchungshaft erfolgreich

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 21.06.2008

Ein Sexualstraftäter aus Bayern, der außergewöhnlich lange in Untersuchungshaft saß, darf auf seine Entlassung hoffen. Das BVerfG  entsprach seiner Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08 - und bestätigte wieder einmal, dass der Beschwerdeführer durch das lange Verfahren in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt ist und wies die Sache an das Oberlandesgericht Bamberg zurück: Die Abwägung zwischen Freiheitsanspruch und Strafverfolgungsanspruch sei nicht ausreichend gewesen.

Sachverhalt: Der Beschwerdeführer befindet sich wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern seit Juni 2006 – mit einer Unterbrechung von rund sechs Monaten – in Untersuchungshaft. Die Anklage wurde im Oktober 2006 zur Hauptverhandlung vor dem AG zugelassen. Nachdem der Beschwerdeführer methodische Mängel des eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens gerügt hatte, setzte das AG Ende November 2006 den Haftbefehl außer Vollzug und holte die Stellungnahme einer weiteren Sachverständigen ein, die dem Gericht im Dezember 2007 vorlag. Mitte Mai 2007 wurde der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Ab Juli 2007 fand die Hauptverhandlung statt. Im September 2007 wurde der Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Hiergegen legten der Beschwerdeführer und die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens setzte das Landgericht mehrere Verhandlungstermine für Juni 2008 fest.

Verfassungsbeschwerde gegen zurückgewiesenen Haftprüfungsantrag: Einen Ende Januar 2008 gestellten Haftprüfungsantrag des Beschwerdeführers hatten das LG und das OLG zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte jetzt Erfolg. Die Zweite Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletzen. Die Sache wurde an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. 

Abwägung zwischen Strafverfolgung und Freiheitsanspruch: Das BVerfG bemängelt, dass die angegriffenen Entscheidungen die gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch nicht erkennen ließen. Weder gingen sie auf den Verfahrensablauf noch auf mögliche Verzögerungen sowie deren Ursachen ein. Bei der erneuten Abwägung werde das OLG zu berücksichtigen haben, dass der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sei. Zwar habe sich mit der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das AG, auch wenn diese noch nicht rechtskräftig sei, das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert, da auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen sei.

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