Deutschland trauert: Nach "Erfurt" nun "Winnenden"

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 11.03.2009

Wer heute die Nachrichtensendungen verfolgte, konnte mit blankem Entsetzen einen über Stunden andauernden Amoklauf in den Medien gleichsam life mitverfolgen.

 

In den letzten Jahren ereigneten sich sowohl weltweit als auch in Deutschland weniger Amoktaten Erwachsener als vielmehr - so der englischsprachige Ausdruck zur Klassifikation - School Shootings. Dabei handelt es sich um zielgerichtete, bewaffnete Angriffe mit Tötungsabsicht auf Lehrer oder Mitschüler, bei denen nicht nur Schusswaffen zum Einsatz kommen können (entgegen der wörtlichen Übersetzung). Von 1999 bis 2007 ereigneten sich in Deutschland sechs Vorfälle von School Shootings.

 

Seit Erfurt ist viel geschehen. Gleichwohl gilt es die Früherkennung von Amokläufen weiter zu erforschen und zu vertiefen. Amoktaten erfolgen nicht spontan, sondern häufig geht ihnen eine längerfristige Planung voraus, die zumeist durch erkennbare Auffälligkeiten im Verhalten begleitet wird ("Leaking" als Tatankündigung des Täters).

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

26 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Nach einem Medienbericht scheint es bereits an der Schule diesbzgl. eine Übung gegeben haben. Nach den ersten Schüssen soll wohl über die Lautsprecheranlage die Nachricht "Frau Koma" übermittelt worden sein, was ein rückwärts gelesen auf "Amok" anspielt und die Lehrer zum Einschluss in die Räume auffordern sollte. Eine klare Lehre aus den vergangenen School Shootings.

 

0

Das ist eine Lüge der Medien. Eine solche Lautsprecherdurchsage hat es nicht gegeben. Die Albertville-Realschule hat überhaupt keine Lautsprecheranlage...

0

Übrigens stammt die Waffe - mal wieder - aus der väterlichen Waffensammlung.

Man kann wohl davon im Rahmen des conditio-sine-qua-non-Formel ausgehen, dass es ohne eine solche Waffensammlung wohl auch nicht zu dem Schul-Massaker  gekommen wäre.

Es wäre wohl anzuraten, den Besitz von Schusswaffen deutlich einzuschränken und die Sicherheitsstandards für die erlaubten Waffenbesitze zu erhöhen. Bei fast jedem (deutschen) Schoolshooting/Schülerwaffenvorfall wurden die Waffen aus dem elterlichen Besitz genutzt. Das sollte zudenken geben.

Die Union hat übrigens eine Verschärfung des Waffenrechts noch am Tage des Unglücks abgelehnt.

 

0

Es gibt Übereinstimmungen bei den Abläufen und Vorbedingungen und es gibt Hinweise auf Ursachen(ketten), die weiter zu untersuchen sind. Im vorliegenden Fall weiß man noch nicht viel.

Aber auch die in früheren Fällen gefundenen übereinstimmenden Merkmale (Waffenvernarrheit und -zugang, Computerspiele, Kampfspiele, Frustrationen, Ex-Schüler, Nachahmung) kommen in der Realität viel zu häufig vor und führen (glücklicherweise) nur sehr sehr selten tatsächlich zu einem Schulamoklauf, als dass man hier mit Verbotsgesetzgebung sinnvoll einwirken kann. Für denjenigen, der nichts mit Waffen zu tun hat oder haben will, fällt es leicht vorzuschlagen, Schusswaffen, Schützenvereine und das Sportschießen insgesamt zu verbieten; die ganz ganz überwiegend gesetzestreuen Schützen wären aber frustriert. Und will man ausschließen, dass im Schützenverien viele Jugendliche/Heranwachsende/Erwachsene einen verantwortungsvollen Umgang mit Waffen lernen, der bei Verbot und illegaler Waffenbeschaffung nicht erfolgte? Ebenso ist es für alle, die ohnehin ihre Freizeit nicht mit Computerspielen verbringen, kein Problem, das Verbot dieser Spiele zu fordern. Abgesehen davon, dass diese Spiele gar nicht tatsächlich aus dem Verkehr gezogen werden können, da es genug Wege gibt, sie sich illegal zu beschaffen, würden sicherlich die 99,99 % Spieler, die nicht gewalttätig werden, legitim protestieren. Ebenso kann man die Berichterstattung über diese Fälle einschränken, um das Stilisieren zu Negativhelden und damit die Nachahmung zu unterbinden. Aber wäre das mit unserem Verständnis von Pressefreiheit vereinbar? Prävention durch Chipkarten (Fingerabdrücke/Iriskontrolle) und Metalldetektoren an allen Schulen? Ersteres würde keinen Anschlag von derzeitigen Schülern verhindern, letzteres wäre sehr aufwändig: Eine Schule ist kein Flugzeug und auch keine Vollzugsanstalt. Aber ich will nicht ausschließen, dass man hier einiges tun kann.

Schon in den 70er Jahren war es an US-Schulen üblich, dass Wachleute in den Gängen patrouillierten und jeder, der sich dort herumtrieb, musste sich ausweisen können und es gab Waffen- und Drogenkontrollen. Die Schulamokläufe in den USA wurden damit nicht effektiv verhindert (aber möglicherweise etwas erschwert).

 

In den vergangenen Jahren hat man an den Schulen sicherlich auch durch psychologische Beratung und erhöhte Aufmerksamkeit  versucht, Frustrationen zu vermeiden und frühzeitige Warnsignale besser wahrzunehmen. Auch hier das Problem: Frust gehört zum Schulalltag, auch die genannten Warnsignale sind häufig und das entscheidende Signal (wenn es hier eins gegeben hat) ist möglicherweise im "Rauschen" vieler solcher Signale untergegangen. Man muss auch berücksichtigen, dass Schüler, die bereits seit längerer Zeit nicht mehr auf die Schule gehen, bestimmt nicht mehr im "Radar" solcher Warnsignalempfänger auf der Schule auftauchen.

Wir beginnen erst mit dem Nachdenken über Reaktionen auf diesen Fall und man sollte sicherlich nichts ausschließen, was sinnvoll sein könnte. 

All dies macht ein Problem sehr deutlich: Die retrospektive Sicht kann oftmals Ursachen herausfiltern, die aber prospektiv zur Verhinderung solcher Delikte wenig nützlich sind, weil die genannten Ursachen/Signale einfach viel zu häufig vorkommen, ohne die gravierende Folge zu haben.

 

Das Parallelen-Ziehen von Computerspielen(bzw. e-sport) und Waffensport hat nur einen erheblichen Knackpunkt. Mit Computerspielen kann ich keinen anderen Menschen töten; mit Schusswaffen ist dies aber kinderleicht in kurzer Zeit viele Menschen zu töten.

Die Frustation der Sportschützen ist natürlich zu beachten, aber bei den Kampfhundbesitzern hat man ja auch die objektive Gefährlichkeit höher bewertet als die Interessen der Halter.

Dass die Waffen aus dem elterlichen Waffenschrank entnommen werden und dass der Amokläufer offenbar schon Erfahrung im Gebrauch der Waffe hat (Steinhäuser und der gestrige Amokläufer waren Mitglieder bzw. Gastmitglieder im Schützenverein), gehört inzwischen zu den Mustern solcher Amokläufe.

 

Der Besitz von Waffen ist bereits nach der Meinung des Gesetzgebers so gefährlich, dass er ein präventiv verboten ist und einem kleinen Kreis vorbehalten ist, die besondere Prüfungen bestehen. Wenn es dann immer noch zu Vorfällen kommen, die teilweise haargenau ablaufen, muss man sich doch Fragen, ob es nicht weitere Verschärfungen geben muss oder ob nicht vielleicht ein Totalverbot sinnvoll wäre.

Dass ein Totalverbot politisch möglich ist, muss stark bezweifelt werden. Dazu braucht es wohl noch ein paar Schulmassaker mehr. Aber zumindest die Regeln könnten verschärft werden. Warum muss ein Sportschütze denn zwingend seine Waffen und auch seine Munition im Hause bewahren? Man sieht doch, dass Waffen nur bedingt gesichert aufbewahrt können (in diesem Fall lag die Tatwaffe wohl nicht mal im gesicherten Waffenschrank). Warum muss auch die Munition zu Hause gelagert werden? Munition und Schusswaffe sind im Schützenverein schlichtweg besser aufgehoben.

0

Herr/Frau Pflichtfeld,
es liegt mir fern ungeeignete Parallelen zu ziehen; es sind nun mal alle diese Punkte in der Diskussion. Herr Beckstein z.B. hält eine weitere Verschärfung des WaffenG für falsch, aber er will Computerspiele verbieten. Dass nicht nur der Zugang zur Waffe, sondern auch die "Übung" (und sei sie virtuell) im Einsatz eine Rolle spielt, kann man kaum bestreiten. Sehr stark wird im Moment über das "leaking" diskutiert, angeblich soll es ja schon Programme geben, in die braucht man nur ein paar Daten der "auffälig unauffälligen" Jugendlichen mit "mittlerem bis hohem Bildunsghintergrund" einzugeben und schon erscheint das Risiko eines Amoklaufes in Prozentwerten. (vgl. den Artikel "Mobbingopfer und Amoktäter" heute auf Spiegel Online) Dort findet sich Zitate:
"Die Konzepte sind da, wir können sofort loslegen", sagt Professor Herbert Scheithauer von der Freien Universität Berlin SPIEGEL ONLINE. Der Psychologe hat im Rahmen seines Berliner Leaking-Projekts Parameter entworfen, anhand derer man ermitteln kann, wie weit ein potentieller Täter noch vom tatsächlichen Amoklauf entfernt ist."
und:
"Wissenschaftler der Technischen Universität Darmstadt haben unter der Leitung des Psychologen Jens Hoffmann Daten zu weltweiten Schoolshootings gesammelt und ausgewertet. Anhand der Ergebnisse entwickelten sie ein Computerprogramm, das sogenannte "Dynamische Risiko-Analyse-System", mit dessen Hilfe potentielle Amokläufer ermittelt werden sollen. Dabei gleicht das Programm Informationen über auffällige Schüler mit den Daten von realen Amokläufen ab."

 

Wichtig ist hier das Wort "auffällig". "Auffällig" ist vor allem derjenige im Nachhinein, der eine solche Tat begangen hat, und wenn er dann als "auffällig unauffälig" beschrieben wird. Die Daten stammen aus bisherigen Schulamokläufen und das Konzept basiert darauf, dass diese Daten auch bei künftigen solchen Taten vorzufinden sind.

 

Man sollte nichts Sinnvolles ausschließen, und es ist ohnehin sinnvoll, in der Schule (mehr) aufeinander zu achten und einzelne Schwache nicht zu isolieren. Aber wie schon oben gesagt. Amokläufe sind (glücklicherweise) seltene Ereignisse, die Signale aber viel häufiger festzustellen. Der Aufwand einer durchgängigen  fundierten psychologischen Überwachung wird sehr hoch sein.

0

@H.E. Müller:

Ein statistisch einigermaßen kundiger Mensch muss bei "Amokwahrscheinlichkeitsberechnung" in Gelächter ausbrechen. Natürlich können sie alles mögliche berechnen, bei Wahrscheinlichkeiten wird aber leider meist etwas weniger nachgefragt. Scheithauer kann man nicht ernstnehmen. Oder es ist die Presse, die seine Aussagen kolportiert, die ob ihrer Unvollständigkeit nicht ernstzunehmen ist. Jemand hätte ihn jedenfalls mal nach der Rate der falschen Positiven fragen sollen.

Und noch mal ganz generell: Ich war selbst auch zwei Jahre lang auf einer Schule, an der jeder gemobbt wurde, der nicht bei drei auf dem Baum war. Die Lehrer, die Pausenaufsicht hatten, standen in einer Ecke und haben die Wand angeguckt (nichts hören, nichts sehen, nichts sagen), während auf dem Pausenhof generell immer so 1-2 größere Schlägereien (bis aufs Blut, so zu 10-20% auch mit weiblichen Akteuren) stattfanden. Einige Leute hatten ein Händchen dafür, immer in diese Schlägereien zu geraten. Labil waren die sicherlich teilweise auch, ein Glück, dass Schusswaffen nicht wirklich zugänglich waren. Ca. 10% der männlichen Schüler waren aber grundsätzlich immer mit (Butterfly-)Messern ausgestattet. Oettingers "Ort der Zukunft und Erziehung" war schon lange keiner mehr. Hier und da vielleicht noch, den Großteil meiner Schulzeit habe ich auch angenehmer verbracht. Aber die Zustände, die ich geschildert habe, sind weitaus häufiger an der Tagesordnung, als die verschnarchte Öffentlichkeit es wahr haben will. Übrigens habe ich zu der Zeit (~18 Jahre her) nicht meine Eltern und schon gar nicht das Schulpersonal für geeignete Gesprächspartner zu diesem Problem gehalten. Ein Grundproblem ist nämlich, dass Eltern und Lehrer sich einbilden, zu wissen, "wie die Schule ist". Wissen sie nicht. Sie wissen vielleicht noch, wie sie funktioniert. Aber der soziale Rahmen, den die Schule bildet, der wird von Jugendkultur geprägt, nicht von Verschulung. Und da hat die Schule in Deutschland sich noch nie ernsthaft Mühe gegeben, zu intervenieren, zu steuern, sogar nicht einmal, schlicht verstehen zu wollen.

0

Vor ein Paar Monaten hat sich hier in Berlin ein Schüler eines Gymnasiums in der Badewanne durch Elektroschock selbst getötet. Da er sonst niemanden mitnahm, kam er auch nicht in die Presse. Jedes Jahr fügen sich zigtausende Jugendliche hierzulande selbst Schäden zu (sog. Ritzen, exzessiver Alkoholkonsum usw. usf.), nur um die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft zu erheischen denen sie nicht nur vollkommen egal geworden sind, sondern allzu häufig als direkter Ballast gelten.

Solange Politiker und Entscheidungsträger Nachwuchs als sächlich, dingliches Objekt betrachten, wird sich daran nicht viel ändern.

Das gesamte soziale Umfeld des Täters müsste sofort wegen Vernachlässigung vor Gericht gestellt und hart abgeurteilt werden.

Nur das unter diesen Bedingungen Menschen mit Kindern am sog. Erwerbsleben überhaupt nicht mehr teilhaben können.

Frage: Wann haben Sie das letzte mal ein Kind in einer Firma gesehen? In welchen Fabriken gibt es Kitas? Wo darf das Kind aus der Schule kommend die Hausaufgaben bei Mama im Sekretariat machen?

Stimmt. Das hat ja auch keine Tradition in unserer Republik. Na dann kümmern sich halt die Großeltern um den Nachwuchs. Die sollten doch genug Zeit dafür haben. Stimmt. Dann schränken wir diese armen Leute ja wieder in ihrer freien Entwicklung ein. Obwohl das meistens ja nicht einmal nötig ist, denn die befinden sich ja schon seit Jahren in der Isolation vom jungen Rest der Familie.

Wenn eine Nation kein Konzept vom Miteinander hat, macht ein Jeder was er will. Das eigene Wohl wird zunehmend über das Wohl der Gemeinschaft gestellt. Um Kitas, Schulen und Altenheime werden Schallschutzmauern errichtet, damit man diese nicht ertragen muss.

Und mehr und mehr Menschen drehen durch und bringen sich selbst u./o. noch ein paar Leute zusätzlich um. Was für eine Überraschung...

Seit Erfurt ist tatsächlich viel geschehen. Der Leistungsdruck auf den Nachwuchs ist noch größer geworden, die Gesetze wurden so angepasst das vor allem der Nachwuchs von finanziell besser gestellten Eltern davon profitiert und eine Familienministerin läuft frei herum die der Meinung ist Kinder müssen nur betreut werden, vom wem ist denen (sächlich,dinglich) egal. Recht hat sie!

0

" Herr Beckstein z.B. hält eine weitere Verschärfung des WaffenG für falsch, aber er will Computerspiele verbieten."

Ein  durchschaubares politisches Ablenkungs-Manöver, welches auf die schleichende Erfolglosigkeit der eigenen Politik zurückzuführen ist. Dabei sucht man sich eine Gruppe aus, bei der in der Bevölkerung Vorurteile bestehen und die erwartungsgemäße kaum bis keine Gegenwehr leistet. Früher waren das Ausländer, heute sinds die Computerspieler.

Flankiert wurde dieses Manöver durch die Einführung prägnanter Begriffe wie "Killerspiele".    Ähnlich wie beim Begriff "Raubkopie" suggeriert hier der Benutzer eine schlimmere Bedeutung als sie rechtlich hat. Gewaltspiele waren schon immer nach § 131 StGB strafbar; aber die Ausbildung zum "Killer" wird natürlich nicht durch ein Computerspiel bewerkstelligt, sondern durch praktische Ausbildung am Gerät, also etwa in Terrorcamps, Schützenvereinen oder bei der Bundeswehr. Nicht aber am PC, wo man Tastatur und Computermaus benutzt. Daneben ist es überhaupt noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen, ob solche Computerspiele tatsächlich einen Einfluss auf die Entwicklung dieser Täter haben.

Ursächlich sind ja bei diesen Tätern offenbar die soziale Ächtung und Isolierung. Der gestrige Täter soll wohl am Vorabend des Massakers davon geredet haben, dass er von allen ausgelacht und von allen auch unterschätzt wurde. Das offenbart wohl auch ein Versagen der Schule und wohl auch der Eltern durch falsche Förderung und falsche Erwartungen bzw. Nichteingreifen.

 

Ein anderer Aspekt ist hier die Vorwarnung. Sie sprechen die Versuche an, entsprechende Vorwarnungsmethoden zu nutzen. Mir kommt das eher wie eine schulische Rasterfahndung. Diesmal nicht nach dem terroristischen Schläfern, sondern nach dem schulischen amokplanenden Schläfer. Abgesehen von den datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten fände ich diese Entwicklung für ziemlich entlarvend. Erst baut man den zunehmenden Druck auf den Schüler auf und dann erwartet man förmlich darauf, dass einzelne Schüler ihr Versagen dann nicht etwa im stillen Selbstmord kundtun, sondern im Amoklauf. Stattdessen hätte man ja auch das Konzept "Schule" verändern können und mehr auf die Stimmungen und Entwicklungen der Schüler eingehen können. Gerade in der Welt, wo die Leistungserwartungen bereits in die Schule getragen werden, ständig Selektion und Anpassung von den Schülern erwartet wird, sollte man sich dann gleichwohl auch um das Seelenheil der Schützlinge kümmern. Der Täter war wohl auch schon des Längeren in psychiatrischer Behandlung wegen Depressionen. Das sich das in der Schulzeit nicht abgezeichnet hat oder bekannt war, spricht wohl Bände für den Kontakt Schule-Schüler.

Tut man dies nicht, muss man wohl von den "Einzelausfällen" der Schüler ausgehen, die dann in solche Vergeltungs- oder Verzweiflungsaktionen münden.

 

0

Und wieder ein Amoklauf. Ich kann leider nicht sagen, dass mich das verwundert- obwohl ich es gerne täte.

Ich bin ja nun auch schon ein paar Jahre aus der Schule heraus, kenne aber dennoch gut meine eigene Schulzeit. Ich möchte nicht ins Detail gehen, nur soviel: Ich habe die Hölle in den schillernsten Farben erlebt, und ich müsste lügen, hätte ich nicht daran gedacht, meine Probleme einfach aus der Welt zu schaffen. Passiert ist bis heute nichts.

DAS liegt allerdings nicht an der Schule selbst, und auch nicht unbedingt an den Lehrern, sondern daran, dass ich in meinen Eltern einen stabilen Rückhalt hatte, und auch Freunde, die da waren. Ich bezweifle, dass dieser Täter es hatte. Er mag depressiv gewesen sein, jedoch sind dies auch andere- nur auf die Depression sollte man sich daher nicht stützen.

Schärfere Waffengesetze werden zu nichts führen: Wer jemanden töten will, der kann sich auch eine Waffe besorgen. Wenn es keine Schusswaffe ist, dann wird er eben mit einem Messer in die Schule kommen.

Auch die (in meinen Augen) unsinnige "Killerspiel"-Diskussion wird kein Ergebnis haben: Natürlich spielen die "Amokläufer" "Killerspiele". Für sie ist das ein Frustabbau: Einfache Aufgabe, kein Denken, Abebben von Aggression. Gegenargument für all jene, die Killerspiele verdammen: Sehr viele Jugendliche, die ich kannte, haben sie auch gespielt, und ich habe keinen mit einer Waffe gesehen.

Einen (bösen) Einwand muss ich in Richtung des "Er war immer unauffällig" bringen [nicht an die Mitdiskutanten gerichtet]: Wer bitte wird sich den in seiner Umgebung auffällig verhalten, wenn man Angst hat, dass diese sich gegen einen wendet? Natürlich verhält sich ein Schüler, der isoliert oder von anderen gemobbt wird, nicht wie jeder andere, bzw so auffällig, dass seine Mitschüler auf ihn aufmerksam werden.

Was ich für notwendig erachte, ist ein schärferes Gespür der a) Lehrer und b) Eltern für die Ängste und Sorgen eines Schülers. Ein etwas mehr Hinsehen und etwas weniger Wegschauen, und man könnte, auch ohne eine Million Amokläuferwahrscheinlichkeitsprognosen einen Amokläufer von seinem Weg abbringen.

Meine (weniger juristischen als persönlichen) fünf Cent zu diesem Thema.

0

Ich bin doch überrascht, in wie vielen Kommentaren (nicht nur in diesem Blog) die Schulzeit als schrecklich beschreiben wird. Ich habe vor 6 Jahren mein Abitur gemacht und meine Schule noch nicht einmal ansatzweise als "Hölle" empfunden. Ich meine damit nicht nur meine eigene Stufe.

 

Natürlich gab es teilweise Reibungen und Auseinandersetzungen, aber die gingen nie in Mobbingkampagnen über, vielmehr gab es einen Streit und dann ignorierten sich die Kontrahenten.Nebenbei: Die Schule lag nicht im idyllisch-ländlich Raum, sondern im Ruhrgebiet.

 

Ist meine Schule jetzt der Einzelfall oder bin ich schon zu alt, um die heutige Generation zu verstehen?

0

In der SZ ("Der Täter konnte ein großes Finale planen" von Jürgen Schmieder, heute Online) wird etwas genauer über das Programm von Jens Hoffmann berichtet. Es enthält 31 Fragen, mit denen die Nähe zum Amoklauf getestet werden könne.
Zitat: "Das vom Wissenschaftler Hoffmann entwickelte System zwinge, die richtigen Fragen zu stellen. "So kann man erkennen, ob es genügend Puzzlesteine für einen potentiellen Amoklauf gibt. Bei den Antworten selbst soll nicht interpretiert und analysiert werden - das übernimmt der Computer", erklärt der Kriminalpsychologe."
Er behauptet auch, sämtliche Schulamokläufe in Deutschland hätten sich mit seinem System früherkennen und verhindern lassen.
Ohne dass ich mich mit der Methode schon näher beschäftigt habe, schätze ich, es handelt sich um einen klassischen methodischen Zirkelschluss. Die abgefragten Daten können nur aus den vergangenen Schulamokläufen stammen. Selbstverständlich kann man dann in der Rückschau (also nachdem der Amoklauf stattgefunden hat) diese Daten dort wiederfinden und quasi (die schon stattgefundenen Amokläufe) "vorhersagen". Aber es ist ein methodischer Fehlschluss daraus herleiten zu wollen, man könne künftige neue Amokläufe vorhersagen. Schon die Basisrate der Amokläufe ist viel zu gering für eine statistische Vorhersage.
Praktisch gibt es zudem entscheidende Umsetzungsschwierigkeiten: Soll man etwa jeden Schüler ab 14 Jahren in Deutschland künftig alle paar Monate befragen? Wie will man verhindern, dass die Fragen und die "richtigen" Antworten übers Internet verbreitet werden - was sofort die Messung verfälschen würde? Außerdem: manche der so wichtigen Ankündigungen übers Internet wurden gar nicht rechtzeitig vor der Tat bekannt (siehe den vorliegenden Fall) und werden dies auch künftig nicht tun, so dass dies auch kein Anhaltspunkt wäre. Wahrscheinlich sollen daher nur die vorab Auffälligen getestet werden. Aber was bedeutet "Auffälligkeit" in diesem Zusammenhang? Und tritt diese rechtzeitig vor dem Amoklauf auf?

0

Vermutlich meint "Auffälligkeit" hier eine medizinische Auffälligkeit. Es gibt doch seit längeren Bestrebungen Schulkinder umfassend zu registrieren, inkl. Krankheitsgeschichte. In den Niederlanden soll das wohl schon praktiziert werden.

Man stelle sich also einen Jugendlichen mit Depression vor. Dann geht das erste Warnlicht an. Es werden Leute zur näheren Untersuchung geschickt, evtl. verweigert sich (erst recht) der Jugendliche, geht das zweite Lichtlein an.

Den Gedanken könnte man jetzt noch weiterspinnen. Im Zweifel kriminalisiert man hier Jugendliche bereits im Vorfeld. Das Ergebnis konnte man in Köln (?) sehen, wo die Polizei dann einen Schüler dadurch in den Tod getrieben hat.

0

Die für mich bisher interessanteste Spekulation (vielleicht sogar eine Verschwörungstheorie) bildet folgender Gedanke: Wurde der Amoklauf durch Psychopharmaka ausgelöst? Antidepressiva stehen, besonders bei Jugendlichem, seit längerem im Verdacht, Suizidalität zu verstärken.

Ohne die folgenden Behauptungen überprüft zu haben, hier ein Auszug eines Blogs:

-
Alle Jugentlichen die in den letzten 10 Jahre in Amerika Amok gelaufen sind, wurden mit Psychopharmaka behandelt, hauptsächlich Antidepressiva. Alle Schützen haben drei Sachen gemeinsam: 1. sie sind junge Burschen, 2. sie zeigen eine gefühllose Psyche mit kompletter Trennung zur Wirklichkeit, 3. sie haben psychiatrische Medikamente eingenommen.
-

http://alles-schallundrauch.blogspot.com/2009/03/es-sind-die-medikamente...

 

0

Der Einfluss von Antidepressiva wird schon seit längerem diskutiert. Große Studien hatten zunächst einen Zusammenhang dieser Drogen mit gewalttätigem Verhalten nicht bestätigt, aber möglicherweise haben diese Pharmaka in bestimmten Konstellationen diesen Effekt.

Schon 2005 berichtete die seriöse New York Times, hier:

http://www.nytimes.com/2005/03/26/national/26shoot.html
allerdings recht vorsichtig - von einem Zusammenhang zwischen US-school shootings und Antidepressiva.

Ob der Täter von Winnenden Medikamente nahm, wissen wir nicht und es ist auch unwahrscheinlich, dass Tim K. mit Antidepressiva der betr. Art (SSRI) behandelt wurde, da diese für Jugendliche, wohl anders als in den USA, nur ganz beschränkt zugelassen sind:

http://www.bfarm.de/cln_029/nn_421158/DE/Pharmakovigilanz/risikoinfo/200...

Diese Bewertung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zeigt im Übrigen, dass die große Pharma-Verschwörung, die den Zusammenhang leugnet, jedenfalls in D so nicht existiert.

ausgehend von den medienberichten sei mir die frage erlaubt: wieso erfolgt hier keine leichenöffnung? muss nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass alle opfer durch den schuss aus der von tim k. verwendeten beretta ums leben gekommen sind?

0

Die Staatsanwaltschaft  hat nach Nr. 33 Abs. 1 S. 1 Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV) zu prüfen, wenn jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben ist, ob eine Leichenschau oder eine Leichenöffnung erforderlich ist. Die Leichenschau soll möglichst am Tatort oder am Fundort der Leiche durchgeführt werden, so S. 3. Bei der Tatortaufnahme ist sicher eine Leichenschau durchgeführt worden. Wohin die Leichname gebracht wurden, konnte ich den Medien nicht entnehmen. Sehr wohl könnte ich mir aber vorstellen, dass auch eine Obduktion stattfand, man dies aber mit Blick auf das Pietätsgefühl der Angehörigen nicht in den Medien kommuniziert hat.

Im Übrigen: Soweit es (vielfach sogar zahlreiche) Tatzeugen gibt - und das dürfte wohl für alle Fälle gegeben sein - steht die Täterschaft nicht in Frage. Weiterhin: Zu einem Strafverfahren gegen Tim K. kann es nicht mehr kommen. Und schließlich: Sollten sich doch Fragen ergeben, kann es zur Exhumierung kommen, Nr. 34 RiStBV.

 

sehr geehrter herr professor dr von heintschel-heinegg,

ich danke Ihnen für die ausführliche und nachvollziehbare antwort. einzig zum punkt "zu einem strafverfahren gegen tim k. kann es nicht mehr kommen" erlaube ich mir die anmerkung, dass diese überlegung meines erachtens nur für den richter, nicht aber für die staatsanwaltschaft eine rolle spielt. der tod des hauptverdächtigen ist natürlich ein der anklage (und der verurteilung) im wege stehendes prozesshindernis, ändert aber wohl - im rahmen des ermittlungsverfahrens  - nichts daran, dass es noch andere täter gegeben haben könnte (vorsätzlich oder fahrlässig, stichworte: querschläger, friendly fire). dies müsste die staatsanwaltschaft aber zweifelsfrei ausschließen, wofür zumindest ein eindeutiger ballistischer abgleich von todeskugel zu tatverdächtigenwaffe und -munition notwendig ist.

im übrigen möchte ich meine überraschung zum ausdruck bringen, dass jemand in Ihrer position sich die zeit nimmt, auf anonyme anfragen im rahmen von comments zu antworten. das ist meiner meinung nach (leider) nicht selbstverständlich. obwohl es notwendig wäre, um den menschen das strafrecht näherzubringen und verständlich zu machen. von daher meine vielleicht etwas profan anmutende bitte: weiter so! :-)

viele grüße

laertes

 

0

Sehr geehrte Frau/Herr Laertes,

besten Dank für Ihre so freundliche Zuschrift. Antworten zu geben, sich an der Diskussion zu beteiligen - dafür ist der Blog doch gerade da!

Von der Aktenbehandlung her, ist das Ermittlungsverfahren gegen Tim K. durch seinen Tod beendet. Neben dem Ermittlungsverfahren gegen einen bestimmten (lebenden) Beschuldigten wegen des Verdachts einer Straftat gibt es aber auch Todesermittlungssachen, die ebenfalls in das staatsanwalltliche sog Js-Register eingetragen werden. "Unter dieser Flagge" laufen die Ermittlungen seit dem Tod von Tim K, um gerade das abzuklären, was Sie in den Raum gestellt haben (salopp: sonst hätte die Tatortarbeit nach dem Tod von Tim K gleich abgebrochen werden können).

Beste Grüsse

Bernd von Heintschel-Heinegg

 

"Im Übrigen: Soweit es (vielfach sogar zahlreiche) Tatzeugen gibt - und das dürfte wohl für alle Fälle gegeben sein - steht die Täterschaft nicht in Frage."

Ich dachte, der Täter trug eine Maske und einen KAmpfanzug?Gibt es dazu neuere Erkenntnisse

 

Lg

 

0

Sehr geehrter Herr Tröster,

jetzt musste ich erst einmal das Zitat suchen, bis ich feststellte, dass es aus meinem Eintrag vom 18.3.2009 stammt.

Nein, von neuen Erkenntnissen weiß ich nichts. Allerdings lief die Fahndung per Fernsehen gleichsam vor den Augen der (Medien)Öffentlichkeit ab. Ich sehe es so: Wer (als Person nach der Beschreibung) derjenige war, der immer wieder geschossen hat, stand aufgrund der polizeilichen Erkenntnisse fest, zumal als die "öffentliche" Fahndung nach ihm lief und "diese" Person gestellt wurde und ihre Identität geklärt werden konnte.

Sollte ich Ihre Frage unzutreffend erfasst oder beantwortet haben, melden Sie sich bitte nochmals. Vielleicht gibt es auch vor Ort neuere Erkenntnisse, über die überregional nicht berichtet wird.

Beste Grüsse
Bernd von Heintschel-Heinegg

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Heintschel-Heinegg

im Internet kursieren einige w/irre Verschwörungstheorien sowohl zu Winnenden als auch zu Erfurt (2. Täter ?)

0

Sehr geehrter Herr Ballmann,

besten Dank für den für mich völlig überrsaschenden Hinweis. Dazu kann ich gar nichts sagen. Sollten sich die Meldungen verdichten, wäre ich für einen Link sehr dankbar.

Beste Grüsse
Bernd von Heintschel-Heinegg

Sehr geehrter Prof. Heintschel-Heinegg,

 

vielen dank für ihre Antwort. Ich erinnerte mich an eine Aussage eines Schülers, die in diversen Medien aufgegriffen wurde. Dort war zumindest von einem maskierten Täter die Rede. Daher fragte ich nochmal nach. Vielen DAnk auch an Herrn BAllmann, ich hoffe, er wollte mich mit seiner MEldung nicht in eine bestimmte Ecke stellen...

 

LG

 

 

HT

0

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Heintschel-Heinegg,

 

vielen Dank für ihre Antwort. Meine Frage ist damit beantwortet. Auch herzlichen Dank an Herrn Ballmann. Ich gehe nicht davon aus, dass er mich mit seinem Kommentar in eine bestimmte Ecke stellen wollte..

 

MFG

 

Hubert Tröster

0

Kommentar hinzufügen