BVerfG: BGH-Rechtsprechung zur "Rügeverkümmerung" verfassungsgemäß - aber drei abweichende Voten!

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 13.03.2009

Die neue Rechtsprechung des BGH (BGH [GS] NJW 2007, 2419; BGH NJW 2006, 3582) zur "Rügeverkümmerung" im Strafverfahren wahrt nach dem Beschluss des BVerfG vom 15.1.2009 - 2 BvR 2044/77 - die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung und begegnet auch im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach den Sondervotum des Vizepräsidenten des BVerfG Voßkuhle, der Richterin Osterloh und des Richters Di Fabio verkenne die Entscheidung die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung.

Zum Hintergrund

Der Beschwerdeführer war wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. In der Revision machte er mit der Verfahrensrüge geltend, der Anklagesatz sei in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden. Zum Beweis berief er sich auf das Sitzungsprotokoll, in dem die Verlesung des Anklagesatzes nicht beurkundet war. Der Vorsitzende der Strafkammer leitete daraufhin ein Protokollberichtigungsverfahren ein. Nachdem sämtliche Kammermitglieder, die Urkundsbeamtin und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erklärt hatten, dass der Anklagesatz tatsächlich verlesen worden sei, wurde das Protokoll entsprechend berichtigt.

Zum Verfahrensgang

Der für die Revision zuständige 1. Strafsenat des BGH hielt die Verfahrensrüge für unbegründet, weil er die Protokollberichtigung als beachtlich ansah. An der beabsichtigten Verwerfung der Revision sah der Senat sich indes durch die bis dahin praktizierte Rechtsprechung zum "Verbot der Rügeverkümmerung" gehindert. Nach dieser bereits durch das Reichsgericht begründeten Rechtsprechung war eine Berichtigung des Protokolls für das Revisionsgericht ausnahmsweise unbeachtlich, wenn durch die Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage im Protokoll entzogen würde.

Der 1. Strafsenat legte daher dem Großen Senat für Strafsachen die Sache zur Entscheidung vor (Vorlagebeschluss NJW 2006, 3582). Diese rückte von der bisherigen Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung ab und erkannte, dass durch eine zulässige Protokollberichtigung auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann. Die Urkundspersonen hätten im Vorfeld einer Rügeverkümmerung dem Protokollberichtigung allerdings den Beschwerdeführer anzuhören und - wenn dieser der Protokollberichtigung substantiiert widerspreche - die Protokollberichtigungsentscheidung zu begründen. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliege im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht, wobei im Zweifel das Protokoll in der nicht berichtigte Fassung gelte (BGH [GS] NJW 2007, 2419).

Künftighin

Auch wenn der Schlossplatz  die neue BGH-Rechtsprechung jetzt abgesegnet hat, wird die in Teilen kritisch wissenschaftliche Seite sich sicher jetzt nochmals zu Wort melden. Auch die weitere Diskussion der Frage wird interessant sein! 

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5 Kommentare

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Besten Dank für den mir bislang noch nicht bekannten Link, der eingegangen ist, als ich noch stufenweise an meinem Beitrag arbeitete (wohl durch die Verwendung des Spracherkennungssystems kippte die Seite mir immer wieder weg; aber auch dieses Problem wird Herr Zosel alsbald lösen).

Vollständigkeitshalber will ich noch das Sondervotum des Richters Gerhardt nachtragen, der zwar der Entscheidung im Ergebnis zustimmt, jedoch meint, der Senat habe mit seinen Erwägungen zur Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfindung die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts überschritten. Also jede Menge Diskussionsstoff!

RiOLG Prof. Dr. Matthias Jahn bewertet in der aktuellen JuS 2009, 564 (566) die Entscheidung zutreffend wie folgt:

"Für die Praxis des Strafverfahrens erhält die Zulassung der Rügeverkümmerung in der strafprozessualen Revision damit auch noch den verfassungsgerichtlichen Segen. Als kleiner Schönheitsfehler bleibt zurück, dass das Sondervotum der unterlegenen Senatsminderheit den Umgang des Großen Senats für Strafsachen mit § 274 StPO überzeugend als unzulässige richterliche Rechtsfortbildung stigmatisiert. Und das ist auch gut so."

So bildet der Beschluss des BVerfG den Schlussstrich unter eine durch den Anfragebeschluss des 1. Strafsenats NStZ-RR 2006, 112 entfachte Diskussion.

Das Minderheitsvotum dreier namhafter Mitglieder des Gerichts, sämtlich  Professoren des öffentlichen Rechts, beweist, daß innerhalb des Bundesverfassungsgerichts ein neuer Methodendiskurs begonnen hat. Dem erklärten Willen der Gesetzgebung wird eine zwingende Vorrangstellung vor Eigenwertungen der Gerichte eingeräumt. Die „Pianistentheorie“ maßgeblicher Repräsentanten der Justiz  und der Rechtswissenschaft (etwa G. Hirsch, D. Simon, W. Hassemer u. a.) wird eindeutig verworfen. Abweichungen der Gerichte vom Gestaltungswillen und Regelungsziel der Gesetzgebung nach eigenen Regelungs-vorstellungen der Gerichte werden an strengen Kriterien gemessen. Methodisch wird die Erforschung des historischen Normzwecks zur unabdingbaren Voraussetzung einer sachgerechten Gesetzesanwendung erklärt. Erst danach ist zu entscheiden, ob gewandelte Umstände eine richterlich Rechtsfortbildung notwendig machen.

Damit wird der Gesetzesbindung, der richterlichen Methodenwahl und der Methodenstrenge der verfassungsgesetzlich gebotene, zutreffend definier-te zutreffende Rang eingeräumt. Die These, der Richter sei in der Wahl seiner Auslegungsmethode frei, er könne mit der Methode auch das Auslegungsergebnis wählen, wird ebenfalls abgelehnt. Das Sondervotum schreibt der Entstehungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien unter Berufung auf die Rechtsprechung ihres Gerichts und des BGH eine unverzichtbare Bedeutung zu (II.1 der Begründung). Es erteilt damit den Vertretern des modernen Freirechts der Justiz – Hirsch (ZRP 1967, 161), Hassemer(Rechtstheorie 39 (2008), S. 5. Und 12) und Simon, welche  die Gesetzesbindung der Richter für nachrangig, ja für einen unerfüllbaren Traum  halten, – eine klare Absage.

Das Spannungsverhältnis des Sondervotums zu früheren methodischen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts ist unverkennbar. Die Erforschung des Normzwecks der Gesetzgebung aus den erreichbaren Materialien und der Entstehungsgeschichte wird jetzt nicht mehr als nachrangiges Hilfsmittel, sondern für eine sachgerechte Rechtsanwendung als zwingend geboten erachtet. Die Verkennung oder die eigenmächtige Verdrängung des historischen Normzwecks durch die Gerichte wird  als Verstoß gegen die methodischen Grundregeln gewertet. Insgesamt folgt das Sondervotum in Begründung und Ergebnis dem Grundsatz: Methodenragen sind Verfassungsfragen. (Vgl. näher B. Rüthers, Trendwende im Bundesverfassungsgericht? – Über die Grenzen des „Richterstaates“, NJW 2009, , 1461)

        

 

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Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Rüthers,

 

inwieweit würden Sie den in der von Ihnen propagierten Auslegungsmethode eine Nähe zum Originalism US-amerikanischer Prägung ziehen, der sich doch primär nur an der historischen Auslegung. Insbesondere Justice Scalia (siehe etwa Orginalism: The lesser Evil, abrufbar unter http://www.law.illinois.edu/lsolum/coninterp/Scalia.pdf)  verteidigt ja diese Verfassungsinterpretation als Aufgabe richterlicher Selbstbeschränkung, da ansonsten der Richter Gefahr laufe, sich zum Gesetzgeber  zu gerieren.

 

Mit besten Grüßen

HG

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