BVerfG: Verurteilter Sexualstraftäter muss individualisierende Medienberichterstattung in der Regel dulden

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 17.07.2009

Ein verurteilter Sexualstraftäter muss es in der Regel dulden, wenn über seine Tat, das Strafverfahren und den Abschluss des Verfahrens individualisierend berichtet wird. Dies hat das BVerfG am 10.06.2009 (Az.: 1 BvR 1107/09) entschieden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG werde nicht verletzt, weil das nach Art. 5 GG geschützte Informationsinteresse der Öffentlichkeit regelmäßig das Interesse des verurteilten Täters am Schutz seines Persönlichkeitsrecht überwiege.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein ehemaliger Profi-Fußballspieler, wurde 2008 nach einem Geständnis wegen schwerer Vergewaltigung in einem minder schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Eine Telemediendiensteanbieterin hatte anlässlich des Geständnisses über das Strafverfahren und die zu Grunde liegende Tat auf ihrem Internetportal berichtet. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin beim Landgericht (LG) den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit dem Ziel, der Telemediendiensteanbieterin einstweilen zu untersagen, über das Strafverfahren und über dessen Abschluss in individualisierender und bebilderter Weise unter Mitteilung verschiedener persönlicher Details aus dem Sexualleben des Beschwerdeführers zu berichten.

Beschwerdeführer rügt Veröffentlichung intimer Umstände

Das LG erließ die beantragte Verfügung und untersagte der Telemediendiensteanbieterin außerdem, über die Höhe der Freiheitsstrafe zu berichten, ohne auf die insoweit (damals noch) fehlende Rechtskraft hinzuweisen. Die Telemediendiensteanbieterin legte dagegen Berufung ein. Das Oberlandesgericht (OLG) hob daraufhin das Urteil des LG auf, soweit die individualisierende Wortberichterstattung über die Tat und das Strafverfahren sowie die Berichterstattung über das Sexualleben untersagt worden waren und wies die Berufung im Übrigen zurück. Der Beschwerdeführer rügte mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die beschriebene Berichterstattung. Die Entscheidung des OLG greife in den unantastbaren Kern der Menschenwürde ein, weil sie im Rahmen der Berichterstattung eine Veröffentlichung intimer Umstände gestatte. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

Die Verfassungsbeschwerde ist laut BVerfG jedenfalls unbegründet. Die beanstandete Berichterstattung verletze den Beschwerdeführer nicht in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Zwar greife eine Berichterstattung über eine Straftat und deren Umstände zwangsläufig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers ein, weil sie sein Fehlverhalten öffentlich bekanne macht und damit seine Person in den Augen der Öffentlichkeit negativ bewerte. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht werde aber nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern mit der ebenfalls nicht schrankenlos gewährleisteten Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) abgewogen, soweit nicht der absolut geschützte Kernbereich des Persönlichkeitsrechts betroffen sei.

Absolut geschützter Kernbereich bei Sexualstraftaten nicht berührt

Im Falle einer Sexualstraftat sei dieser Kernbereich aber nicht berührt. Der Bereich der Sexualität gehöre nicht uneingeschränkt zum absolut geschützten Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Absolut geschützt sei zwar die Freiheit, die eigenen Ausdrucksformen der Sexualität für sich zu behalten und sie in einem dem staatlichen Zugriff entzogenen Freiraum zu erleben. Bei Sexualstraftaten bestimmten aber gewalttätige Übergriffe in die sexuelle Selbstbestimmung und die körperliche Unversehrtheit des Opfers die Tat. Deshalb liege die Annahme fern, dass die Umstände der Begehung einer Sexualstraftat zur absolut geschützten Intimsphäre des Täters zählen. In der Konsequenz, so das BVerfG, müsse ein wegen einer Sexualstraftat verurteilter Straftäter es dulden, dass im Fall der Berichterstattung über eine ihm zur Last gelegte Straftat sein allgemeines Persönlichkeitsrecht hinter dem Interesse der Öffentlichkeit an einer umfassenden Berichterstattung unter Umständen zurücktreten kann. Dies gelte insbesondere dann, wenn er wie im vorliegenden Fall wegen seiner Prominenz besonders im Blickfeld der Öffentlichkeit steht und die Medienöffentlichkeit mit Rücksicht hierauf hinzunehmen hat.

Informationsinteresse der Öffentlichkeit bei Verurteilungen in der Regel vorrangig

Die Abwägung sei für jeden Einzelfall gesondert vorzunehmen. Laut BVerfG sind dabei das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an begangenen Straftaten und die vollständige Information über die Hintergründe der Tat und den Täter in der Regel vorrangig. Der Straftäter müsse sich nicht nur den verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er müsse auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit durch die Medien befriedigt wird.

Ausnahmen vom Vorrang des Informationsinteresses

Das BVerfG weist aber darauf hin, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht immer vorrangig ist. Vor allem in Fällen kleinerer Kriminalität, bei jugendlichen Straftätern und bei nicht rechtskräftig verurteilten Tätern, bei denen noch die Unschuldsvermutung gelte, könne das Gewicht des Persönlichkeitsrechts gegenüber der Freiheit der Berichterstattung überwiegen.

Gegenausnahmen bei «Verwirkung» oder Duldungspflicht

Allerdings könne eine individualisierende Bildberichterstattung über den Angeklagten eines Strafverfahrens dann gerechtfertigt sein, wenn sich der Betreffende nicht oder nicht mehr mit Gewicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen kann. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn sich der Angeklagte eigenverantwortlich den ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen in der medialen Öffentlichkeit auch im Wege der individualisierenden Berichterstattung gestellt hat, oder wenn er kraft seines Amts oder wegen seiner Prominenz im Blickfeld der Öffentlichkeit steht und die Medienöffentlichkeit mit Rücksicht darauf hinzunehmen hat.

Berücksichtigung des Resozialisierungsinteresses nach Verurteilung

Auch wenn der Täter für die das öffentliche Interesse veranlassende Tat verurteilt und die Öffentlichkeit darüber hinreichend informiert worden sei, seien fortgesetzte oder wiederholte Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht mit Blick auf das Resozialisierungsinteresse des Täters nicht ohne Weiteres zu rechtfertigen. Allerdings habe der verurteilte Straftäter keinen uneingeschränkten Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr mit seiner Tat konfrontiert zu werden oder mit der Tat «allein gelassen zu werden». Maßgeblich ist laut BVerfG vielmehr stets, in welchem Ausmaß das Persönlichkeitsrecht einschließlich des Resozialisierungsinteresses des Straftäters von der Berichterstattung unter den konkreten Umständen beeinträchtigt werde. Die genaue Grenze einer verantwortungsvollen Berichterstattung - mit Blick auf eine mögliche Prangerwirkung - lasse sich nur im Einzelfall unter Abwägung der konkurrierenden Grundrechte bestimmen. Das OLG habe die vom BVerfG entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe beachtet und insbesondere die widerstreitenden grundrechtlich geschützten Belange gegeneinander abgewogen.

 

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