Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen geht weiter

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 16.01.2010

Im August 2009 wurde der 91jährige frühere Wehrmachtoffizier Josef Scheungraber in München wegen eines Massakers an Zivilisten in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt. Zurzeit muss sich der 89jährige John Demjanuk wegen Beihilfe zum Mord 27.900 Fällen vor dem Landgericht München II verantworten. In Aachen steht der 88jährige frühere SS-Mann Heinrich Boere wegen Mordes an drei niederländischen Zivilisten, angeblichen Widerstandskämpfern, vor Gericht.

Allein die Staatsanwaltschaft München I ermittelt in rund 30 NS-Fällen, meist wegen Kriegsverbrechen in Italien. Wie Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, erklärte, hat seine Behörde nun die Vorermittlungen gegen zwei weitere mutmaßliche NS-Verbrecher abgeschlossen: gegen 89jährigen Samuel K. und den 1921 in Polen geborenen Iwan K. (Quelle: FAZ vom 16.1.2010 Nr. 13 S. 5; SPIEGEL ONLINE).

Damit könnten sich weitere spektakuläre Holocaust-Prozesse in Deutschland anbahnen. Samuel K. soll im Vernichtungslager Belzec an der Ermordung von ca. 430.000 Juden mitgewirkt haben.

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7 Kommentare

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Auf diesen Samuel K. hatte ich bereits an anderer Stelle hingewiesen, nachdem SPON ihn mehrfach als bekennenden Trawniki erwähnte. Unbegreiflich für mich ist jedoch, warum erst so spät gegen diese Menschen ermittelt wird, zumal sie sich teilweise ganz offen zu ihrer Funktion bekannten und zumindest im Fall von Samuel K. es sich wohl wirklich um einen Aktivisten handelte. Laut SPON durfte Samuel K. in München noch als Zeuge aussagen:

Samuel K. wird in München als Zeuge aussagen. Er gibt ganz offen zu: Auch ich war Trawniki.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-67596356.html
Zitat

"Angeklagt wurde er nie. Vielleicht ändert sich das aber noch. Erste Vorermittlungen gegen den 89-Jährigen wurden aufgenommen. Auch hier mag man sagen: besser spät als nie. Nur drängt sich die Frage auf: Warum erst jetzt?

Als Beschuldigter wurde K. nie geführt, damals interessierte die Justiz sich allenfalls für Haupttäter - und auch die kamen oft ungeschoren davon. Beispielsweise endete das Verfahren gegen den Trawniki-Kommandanten und SS-Sturmbannführer Karl Streibel 1976 in Hamburg mit einem Freispruch. Nachrangige ausländische SS-Gehilfen, darin waren sich deutsche Ämter bis vor wenigen Jahren einig, sollten nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Erst das Verfahren gegen Demjanjuk signalisiert eine späte, sehr späte Kehrtwendung der Justiz."

Sehr geehrte Frau Dr. Ertan,

leider hat es mit der justiziellen Aufarbeitung des NS-Unrechts viel zu lange gedauert. Auch hat sich die Bundesrepublik zu lange nicht mit der NS-Vergangenheit der Justiz befasst, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Beides hängt zusammen. Die Rechtspflege sollte nicht stillstehen und so griff man auf die "erfahrenen, bewährten Kräfte" zurück. Beides ist kein Ruhmesblatt. Zum Glück ist es jetzt anders - wenn auch sehr, sehr spät! Gerade deshalb sollte dieser Entwicklung unsere Aufmerksamkeit gelten.

Beste Grüße
Bernd von Heintschel-Heinegg

Mit der Aussage des ermittelnden Richters bei der Zentralstelle, Herrn Walther, ist wohl das Kernproblem der Prozesse um Demjanjuk angesprochen worden.

Der "eherne Grundsatz" in deutschen Strafverfahren, dass eine konkrete Tat ermittelt werden müsse, bedürfe in dem speziellen Fall der "industriell durchgeführten Massentötung" der Nazis einer Anpassung, sagte Thomas Walther am Dienstag im Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk vor dem Landgericht München. (...)

"Todesfabriken" wie Sobibor seien eine einzigartige Situation gewesen, die bei der Aufstellung des Grundsatzes von der Einzeltat jenseits der Vorstellung gelegen habe, sagte Walther, der als ermittelnder Richter bei der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg wesentlich die Ermittlungen geführt hatte. Es habe in dem Lager nur zwei Gruppen gegeben: die wenigen, die dort beschäftigt waren, und die vielen Opfer. Deshalb sei er zu dem Schluss gekommen, "dass ich so einen Einzeltatnachweis in einer solchen Einrichtung nicht zu führen habe".

http://www.welt.de/die-welt/politik/article6234006/Demjanjuks-Verurteilu...

Auch eine Frage des Rechts und der Moral?

Aus moralischer Sicht kann ich mich dieser Argumentation voll anschließen. Rechtlich wage ich als Laie nicht zu beurteilen, ob eine solche besondere Sichtweise zulässig ist, selbst für solch unvorstellbar grausame Todesfabriken wie Sobibor.

 

Sehr geehrte Frau Dr. Ertan,

die auf Beihilfe nicht in ein paar konkret bestimmten Fällen, sondern auf Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen lautende Anklage legt eine solche Sichtweise nahe. Gleichwohl gilt das Tatprinzip, d.h. das Gericht wird nur dann zu einer Verurteilung kommen, wenn zu seiner Überzeugung feststeht, dass der Angeklagte in all diesen Fällen physische Beihilfe zumal durch (auch untergeordnete) körperliche Tätigkeiten während der Tat geleistet hat (weniger in Betracht kommt m.E. eine psychische Beihilfe, die sich auf technische Hinweise zur Durchführung der Tat oder auf Hilfestellungen bezieht, die schon im Vorfeld der Tat gegeben werden können). Anerkannt ist, dass der Haupttäter - anders als bei der Mittäterschaft - von der ihm gewährten Hilfe nichts zu wissen braucht.

Deshalb ist der Ausgang des Prozesses, den ich nur in den Medien verfolge, in meinen Augen offen. Mit dem Prozessausgang (auch nach vielleicht durchgeführter Revision) muss der Rechtsstaat leben. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass der Prozess überhaupt durchgeführt wird.

Diesmal also eine Frage des Rechts (allerdings mit starkem moralischen Hintergrund).

Beste Grüße

Bernd von Heintschel-Heinegg

 

 

Ich möchte mich dem Tenor von Frau Dr. Ertans Kommentar (#3 Neu) anschließen und hinzufügen, dass meiner Ansicht nach schon zu bedenken wäre, ob nicht gerade angesichts des Umstandes, dass man sich hinsichtlich solcher schrecklichen, aber glücklicherweise nicht alltäglichen Ereignisse zu einer gerichtlichen Aufarbeitung entschlossen hat, anstatt sie Historikern und, im Hinblick auf die überlebenden Opfer, Psychologen zu überantworten, die üblichen strafrechtlichen Standards ohne Wenn und Aber uneingeschränkt gelten sollten.

Eine ähnliche Problematik zeigt sich ja auch beim Jugoslawientribunal.

Entschuldigung für den verschachtelten Satz!

Mit Blick auf das Tat- und auf das Schuldprinzip sehe ich keine Möglichkeit für Abstriche bei den Standards.  Bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe müssen wir uns nach Wegfall des (von Hause aus fehlerhaften) Instituts der fortgesetzten Handlung auch mit einer nachgewiesenen Mindestzahl begnügen; der Schuldgehalt wird durch die Verurteilung weniger Fälle sehenden Auges keineswegs ausgeschöpft. Aber das ist gut so; an den Standards würde ich unter keinen Umständen rütteln. Rechtsstaatliche Grundsätze wollen errungen werden, das dauert, über Bord sind sie sehr schnell geworfen - mit verheerenden Folgen (sehr lesenswert: Steven T. Wax "Kafka in Amerika"; mehr über dieses Buch demnächst im Blog).

Ein anderer Ansatzpunkt wäre die Bewertung der Indizien in solchen Fällen bei der richterlichen Überzeugungsbildung. Aber auch da ist eine gewisse Großzügigkeit in meinen Augen unzulässig (mag man das Urteil auch revisionssicher begründen können).

Um das Thema fortzuführen und aktuell zu ergänzen: Gegen zurzeit elf Personen ermitteln niedersächsische Staatsanwälte wegen schwerer Gewalttaten, die während der Zeit des Nationalsozialismus verübt wurden. Dies teilte der Niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU) am 15.04.2010 anlässlich des 65. Jahrestags der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen durch britische Truppen mit. Drei Ermittlungsverfahren beträfen Morde im ehemaligen Lager Bergen-Belsen und richteten sich gegen insgesamt acht Personen, drei davon unbekannt. Gegenstand weiterer Ermittlungen gegen zwei Personen seien Naziverbrechen im Harz und in Polen. Insgesamt seien im vergangenen Jahr Ermittlungen gegen 20 Personen neu aufgenommen worden. Weil die meisten Beschuldigten allerdings verstorben seien, seien die Ermittlungen in einigen Fällen eingestellt worden. Bei namentlich nicht bekannten Tätern oder Personen, die als vermisst gelten werde weiter ermittelt, so Busemann. Immer wieder würden in den teilweise erst jetzt freigegebenen Archiven neue Dokumente auftauchen, die dazu beitrügen, das Geschehen in Bergen-Belsen und anderswo aufzuklären. Seit 1997 sei das Landeskriminalamt Wiesbaden unter anderem mit der Auswertung von Ordnern der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) über Kriegsverbrechen in Belgien beauftragt. Im Rahmen dieser Auswertungsarbeit sei festgestellt worden, dass in diversen Beweismittelordnern auch Zeugenprotokolle und andere Urkunden enthalten seien, welche Mordhandlungen und sonstige Straftaten betreffen würden, die außerhalb Belgiens begangen wurden oder worden sein sollen. Aktueller Literaturhinweis: Frederik Rüter, Die Ahndung von NS-Verbrechen im deutsch-deutschen Vergleich - Das "Unsere Leute-Prinzip", ZRP 2010, 92

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