Fristlose Kündigung wegen Verwendung einer Essensmarke für Dritte?

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 15.02.2010

Blogleser Mario Wertz aus Reutlingen hat mich auf einen neuen interessanten Fall der Kündigung wegen eines Bagatelldelikts aufmerksam gemacht:

Bei der Arbeitgeberin handelt es sich um den Sportartikelhersteller Erima. Sie betreibt eine Werkskantine, in der die Beschäftigten preisgünstig Mittagessen können. Aus steuerlichen Gründen bekommt jeder Arbeitnehmer am Monatsende mit der Gehaltsabrechnung eine bestimmte Zahl von Essensmarken, die bereits seinen Namen tragen. Einlösen können die Mitarbeiter jeweils eine pro Tag, dazu müssen sie diese gegenzeichnen und mit dem Datum versehen. Ausdrücklich ist auf der Marke vermerkt, dass sie nicht übertragbar ist. Ein 35-jähriger Arbeitnehmer, der in dem Unternehmen einen Millionenetat verwaltet, hatte sich von einem Kollegen dessen Essensmarke geben lassen und damit seine Freundin, die nicht bei Erima arbeitet, zum Essen eingeladen. Der Kollege hatte die ordnungsgemäße Verwendung der Marke noch unterzeichnet und war dann nach Hause gegangen.

Die Arbeitgeberin nahm diesen Vorfall zum Anlass für eine fristlose Kündigung. Der Betriebsrat hat zugestimmt. Der Gütetermin vor dem Arbeitsgericht Reutlingen blieb erfolglos. Die örtliche Presse (Reutlinger Generalanzeiger, tagblatt, Stuttgarter Nachrichten) hat ausführlich über den Fall berichtet.

Die Problematik wird wieder einmal deutlich: Vordergründig geht es um eine Essensmarke im Wert von 80 Cent. Deren fehlerhafte Verwendung würde wohl jedermann als Bagatelle ansehen und man darf vermuten, dass auch Erima keinem Mitarbeiter, mit dessen Leistungen man rundum zufrieden ist, wegen einer solchen Kleinigkeit kündigt. Denn allein die Kosten für die Wiederbesetzung des Arbeitsplatzes dürften den Wert der Marke um das Hundertfache übersteigen. Rechtlich argumentiert die Arbeitgeberin natürlich mit dem Vertrauensverlust ("Wenn er schon wegen 80 Cent schummelt, wer weiß, ob er sich dann nicht noch mehr auf Kosten des Unternehmens bereichert?"). Tatsächlich dürfte der Grund für die Kündigung ein ganz anderer sein. Nur "reicht" dieser entweder rechtlich nicht, kann nicht zuverlässig oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand bewiesen werden oder seine Publikmachung würde größeren Schaden anrichten.

Vielleicht sollte die Häufung solcher Fälle in der letzten Zeit Anlass geben, einmal über ein ehrlicheres Kündigungsrecht nachzudenken. Auf der einen Seite ist es angesichts der materiell-rechtlichen Voraussetzungen und der Anforderungen an ihren Nachweis nahezu unmöglich, Arbeitnehmer allein wegen schwacher Leistungen zu entlassen. Auf der anderen Seite sollen selbst kleinste Pflichtverletzungen die fristlose Kündigung begründen können.

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6 Kommentare

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Mal so eine Frage, was für ein Straftatbestand hat er erfüllt?

Könnte ein guter Aufhänger in einer mündlichen Prüfung sein ;)

 

Diebstahl? Da happerts am Gewahrsamsbruch.

Betrug? Täuschung über seinen Namen bzw. "Einlöseberechtigung", Irrtum bei der Kassiererin, Vermögensverfügung, Schaden (der reale Wert des Essens?); Drittbereicherungsabsicht

Untreue - Treubruch? Eine Vermögensbetreuungspflicht wird er wohl besitzen(wenn er Millionen verwaltet), aber die Einlösung des Bons erfolgte hier gerade nicht in seinem übertragenen (Arbeits-)Bereich, daher keine Untreue. 

 

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Einen ähnlichen Fall gibt es in dem Buch "Ballmans Leiden" in Kapitel 4, Seite 62: Oberamtsmann Hurlmüller kauft sich Essensmarken mit Hilfe der Berechtigungskarte von Amtmann Reiter, da dieser Diät halten muss. O-Ton des Buchs: "An und für sich ist die Berechtigung zum Bezug der Kantinenmarken nicht übertragbar, aber es kontrolliert ja niemand".

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@ Tilman: Vielen Dank für den Hinweis. Aber schon bei Rosendorfer heißt es ganz eindeutig (S. 67 f.):

"Nachdem das Hauptgericht gegessen war, bestellte Hurlmüller für sich und Neuberger mit Hilfe der leicht illegalen zusätzlichen Essensmarke je eine halbe Süßspeise."

Und auch "leicht" illegal ist illegal.

Sehr geehrter Herr Hoppenkamps,

vielen Dank für Ihren langen Beitrag und die vielen Argumente. Mich überzeugen nicht alle. Auf die wichtigsten will ich eingehen:

  • Das Argument des Strafrechts wird oft gebracht, ist aber unergiebig. Dass der Staat seinen Strafanspruch bei leichten Vergehen (schon aus Kapazitätsgründen) nicht durchsetzt, mag noch angehen. Es besagt aber nichts darüber, ob nicht der geschädigte Private (hier: der Arbeitgeber) die Pflichtverletzung sanktionieren darf. Wenn man beim Schwarzfahren erwischt wird, muss man das "erhöhte Beförderungsentgelt" schon beim ersten Mal entrichten - auch wenn viele Verkehrsbetriebe erst beim dritten Mal Strafanzeige erstatten. Und wenn jemand Ihnen Ihr Fahrrad klaut, stehen Ihnen privatrechtliche Ansprüche auch dann zu, wenn die Polizei nichts unternimmt. Im Übrigen: Der Diebstahl geringfügiger Sachen ist ja nicht etwa straflos, sondern wird nur auf Antrag verfolgt. Und eine Kündigung steht wertungsmäßig einem solchen Strafantrag gleich, lässt nämlich erkennen, dass der Geschädigte das Verhalten nicht sanktionslos hinzunehmen bereit ist.
  • Der zivilrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findet in § 626 BGB ja seinen Ausdruck. Deshalb hat z.B. das LAG Baden-Württemberg im Fall des zur Verschrottung anstehenden, gestohlenen Kinderreisebetts die Kündigung für unwirksam erklärt (siehe BeckBlog von heute). Aber dass der Arbeitgeber bei schweren Diebstählen - denken Sie an den Kölner U-Bahn-Bau, wo am Bahnhof Heumarkt über 80% der Stahlträger nicht eingebaut, sondern auf kriminelle Art und Weise verschoben worden sind - nicht auf die Abmahnung verwiesen werden kann, dürfte ebenfalls selbstverständlich sein. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer (in Köln werden es wohl mehrere gewesen sein) schon seit Jahrzehnten und bislang stets zuverlässig für das Unternehmen tätig war. Um eine Abgrenzung (schwere Fälle: Kündigung ohne Abmahnung immer gerechtfertigt - leichte Fälle: Kündigung nur nach umfassender Interessenabwägung gerechtfertigt) kommt man also nicht umhin.
  • Zum öffentlichen Recht und Ihrem Beispiel mit dem Geschwindigkeitsverstoß gilt das zum Strafrecht Gesagte. Und wenn es zu einem Unfall kommt, kann auch schon eine Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit um 1 km/h fahrlässig sein.
  • Die Rechtsprechung zur gefahrgeneigten Arbeit privilegiert den Arbeitnehmer nur bei Fahrlässigkeit. Bei Vorsatz haftet er stets in voller Höhe. Und die hier in Rede stehenden Pflichtverletzungen sind immer vorsätzlich begangen.
  • Tarifvertragliche Regelungen existieren nicht, weil sie weitgehend sinnlos wären. § 626 BGB ist zwingendes Recht.

Mit freundlichen Grüßen

Christian Rolfs

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