EuGH-Urteil zur „Müllkrise" von Neapel

von Dr. Ludger Giesberts, LL.M., veröffentlicht am 22.03.2010

Diese Bilder gingen um die Welt: In Neapels Straßen türmte sich der Müll zum Teil meterhoch, illegale Müllberge standen in Flammen und entließen hochgiftige Schadstoffe (insbesondere Dioxine) ungefiltert in die Luft. Zum Höhepunkt dieser als Müllkrise bekannt gewordenen Vorfälle musste im Sommer 2008 sogar das italienische Militär eingesetzt werden, um der Lage Herr zu werden. Die Armee sah sich bei ihrem Einsatz nicht nur riesigen Müllmengen, sondern auch wütenden Einwohnern und kriminellen Organisationen gegenüber, die in der illegalen Müllentsorgung ein einträgliches Betätigungsfeld gefunden hatten.

Die erheblichen Probleme bei der Bewirtschaftung und Beseitigung von Siedlungsabfällen in der Region Kampanien zeigten sich bereits in den frühen 90er Jahren. Seit 1994 wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die sich verschärfende Situation in den Griff zu bekommen. Dazu zählte unter anderem die Aufstellung eines Abfallbewirtschaftungsplans, der ein System von Industrieanlagen zur thermischen Abfallverwertung vorsah, das durch differenzierte Abfallsammlungen gespeist werden sollte. Nachdem sich die Ausführung dieses Plans immer wieder verzögerte, übersandte die Kommission mehrere Mahnschreiben an Italien und erhob schließlich im Juli 2008 Klage wegen Vertragsverletzung zum Europäischen Gerichtshof.

Der EuGH gab der Klage jetzt mit Urteil vom 4. März 2010 (Rs. C-297/08) (BeckRS 2010, 90244) statt und verurteilte die Italienische Republik wegen Verletzung europäischen Abfallrechts. Nach Auffassung des Gerichtshofs habe Italien gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 und 5 der Abfallrichtlinie in ihrer damaligen Fassung (RL 2006/12/EG) verstoßen. Nach Art. 4 RL 2006/12/EG müssen Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass durch die Abfallbeseitigung oder –verwertung weder die menschliche Gesundheit gefährdet noch die Umwelt geschädigt sowie die unkontrollierte Ablagerung und Beseitigung von Abfällen verboten wird. Art. 5 RL 2006/12/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, ein integriertes und angemessenes Netz von Abfallbeseitigungsanlagen zu errichten, die es zum einen der Gemeinschaft insgesamt erlauben müssen, die Entsorgungsautarkie zu erreichen, um zum anderen jedem einzelnen Mitgliedstaat, die Autarkie anzustreben. Diese Anforderungen sind in vergleichbarer Form auch in der novellierten Abfallrichtlinie 2008/98/EG enthalten. So obliegt nach Art. 15 RL 2008/98/EG den Mitgliedstaaten die Verpflichtung sicherzustellen, dass Abfallbewirtschaftung ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit oder Schädigung der Umwelt erfolgt. Die Pflicht zur Schaffung eines integrierten und angemessenen Netzes von Abfallbeseitigungsanlagen ist nunmehr in Art. 16 RL 2008/98/EG zu finden.

Der Gerichtshof beurteilt die von italienischer Seite ergriffenen Maßnahmen als ungenügend. Nach Feststellungen des EuGH befand sich zum maßgeblichen Zeitpunkt in der Region Kampanien nur eine einzige Deponie in Betrieb. Die Anlagen zur Herstellung von Brennstoff aus Abfall konnten die endgültige Beseitigung der Abfälle der Region nicht sicherstellen und die im Abfallbewirtschaftungsplan vorgesehenen Verbrennungsanlagen wurden noch nicht betrieben. Selbst die Unterstützung anderer italienischer Regionen und Deutschlands, wohin erhebliche Abfallmengen verbracht wurden, genügte nicht, den lokalen Mangel an Strukturen zur Abfallbeseitigung zu beheben. Die Anhäufung erheblicher Abfallmengen auf öffentlichen Straßen und provisorischen Lagerplätzen stellten auch eine Gefahr für die Gesundheit und die Umwelt dar.

Dem Vorbringen Italiens, wonach zwischenzeitlich die Anstrengungen intensiviert wurden, um das Müllproblem der Region zu lösen, schenkte der EuGH keine Beachtung. Auch wenn mittlerweile weitere Deponien ihren Betrieb aufgenommen hätten, zusätzliche Deponien, Verbrennungsanlagen und Anlagen zur thermischen Verwertung errichtet würden und die Abfallsammlungen deutlich verbesserte Ergebnisse zeigten, müsse die Beurteilung des Gerichtshof anhand der Lage im maßgeblichen Zeitpunkt erfolgen. Dieser sei der Zeitpunkt des Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist (hier der 1. März 2008). Auch der Einwand Italiens, geeignete Maßnahmen zur Erfüllung seiner abfallwirtschaftlichen Pflichten seien an dem Widerstand der Bevölkerung und der Existenz krimineller Aktivitäten in der Region gescheitert, ließ der Gerichtshof nicht gelten. Ein Fall von höherer Gewalt, den Italien aus der Zusammenschau aller vorgebrachten Umstände (Ablehnungshaltung der Bevölkerung, kriminelle Machenschaften und Vertragsverletzungen der zur Errichtung der Abfallbehandlungsanlagen verpflichteten Unternehmen) ableiten wollte, vermochte der Gerichtshof nicht anzunehmen. Im Vertragsverletzungsverfahren stelle er nur den objektiven Verstoß gegen EU-Recht fest. Dementsprechend spiele es auch keine Rolle, ob der Verstoß durch den Mitgliedstaat absichtlich oder fahrlässig begangen wurde oder ob der Verstoß auf technischen Schwierigkeiten des Mitgliedstaates beruhe. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die Ansiedlung bestimmter Beseitigungsanlagen stehe als interner Umstand der Feststellung eines Rechtsverstoßes ebenso wenig entgegen wie kriminelle Machenschaften im Sektor der Abfallbewirtschaftung.

Das Urteil des EuGH setzt den vorläufigen Schlusspunkt unter das leidige Kapitel der unzureichenden Abfallbewirtschaftung in der Region Kampanien. Zustände wie noch im Jahre 2008 gehören glücklicherweise der Vergangenheit an. Die Aufklärung der kriminellen Machenschaften beschäftigt die italienischen Strafbehörden. Inzwischen ist in Acerra unweit von Neapel auch eine weitere Müllverbrennungsanlage in Betrieb genommen worden. Das Judikat des Gerichtshofs ist insgesamt zu begrüßen. Die Müllkrise in der italienischen Region rund um Neapel hat verdeutlicht, zu welchen nachteiligen Folgen für die menschliche Gesundheit und Umwelt eine nicht funktionierende Abfallbewirtschaftung mit defizitären Infrastrukturanlagen führen kann. Uneingeschränkt positiv zur bewerten ist insbesondere, dass die Rechtfertigungsversuche Italiens unter Verweis auf die kriminellen Kräfte und Widerstände in der Bevölkerung, die einer ungefährlichen und unschädlichen Abfallbewirtschaftung in und um Neapel entgegenstanden, nicht erfolgreich waren. Würde man angesichts derartiger Konfliktsituation eine fehlende Umsetzung europäischer Vorgaben zulassen, käme das einer Kapitulation der europäischen Staatengemeinschaft vor den Missständen in einem Mitgliedstaat gleich. Ein starkes Europa verlöre auch an Glaubwürdigkeit, wenn es die Versäumnisse eines Mitgliedstaates akzeptierte und sich mit ihnen abfände.

Rechtsanwalt Dr. Ludger Giesberts, LL.M., Assessor iur. Sebastian Rockstroh

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