BVerfG: Einstweilige Anordnung zur Entlassung aus der Sicherungsverwahrung abgelehnt

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 28.05.2010

Die inzwischen rechtskräftige Entscheidung des EGMR, mit der die  Bundesrepublik Deutschland wegen der nachträglichen Verlängerung der Höchstfrist der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen Art. 5 und Art.7 EMRK verurteilt wurde (im Blog bereits  hier und hier diskutiert), wird in der Gesetzgebung sicherlich zu erheblichen Änderungen des Systems der Sicherungsverwahrung führen.

Freilich steht aktuell die Frage im Raum, was mit den derzeitig aufgrund der Höchstfristverlängerung (aus Sicht des EGMR also rechtswidrig)  noch einsitzenden Sicherungsverwahrten geschehen soll.  Die zuständigen Strafvollstreckungskammern und OLG Senate sind bisher zurückhaltend und setzen in dem Dilemma zwischen der EGMR-Entscheidung und den bisher entgegengesetzten Rechtsauffassungen der Höchstgerichte in Deutschland auf die Devise "Abwarten" - eine Entlassung wurde bisher nicht angeordnet. Vergangene Woche hat das BVerfG (2 BvR 769/10 ) den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Entlassung aus der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Zur erforderlichen Abwägung heißt es dort:

"Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer durch die Fortsetzung der Freiheitsentziehung ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Verlust an persönlicher Freiheit (...)
Erginge die einstweilige Anordnung, wiese aber das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet zurück oder gäbe ihr ohne die Folge einer Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Maßregelvollzug statt, so entstünden ebenfalls schwerwiegende Nachteile. Die Fachgerichte haben die Gefahr bejaht, dass der seit über 10 Jahren in der Sicherungsverwahrung befindliche Beschwerdeführer - der 1996 unter anderem wegen versuchten schweren Menschenhandels, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, sexueller Nötigung und Förderung der Prostitution strafgerichtlich verurteilt worden war - infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die Fachgerichte haben insoweit auf drohende Straftaten des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und ähnliche Delikte abgestellt. Diese Annahme ist nachvollziehbar begründet. In Anbetracht dessen und angesichts der Schwere der drohenden Taten überwiegt das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers."

Ganz auf dieser Linie liegt eine Entscheidung des OLG Celle - 2 Ws 169/10 -  (Pressemitteilung), in der die weitere Sicherungsverwahrung eines mittlerweile 25 Jahre lang Inhaftierten aufrecht erhalten wurde. In der Pressemitteilung heißt es dazu:

"Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bindungswirkung von Urteilen des EGMR führt der Senat aus, dass die vom EGMR vertretene Auslegung dem eindeutigen Willen des deutschen Gesetzgebers und dem Wortlaut der deutschen Vorschriften widerspricht und daher nicht zur Entlassung der Untergebrachten zwingt."

Ein Beschluss des 4. Senats des BGH (4 StR 577/09) vom 12. Mai zeigt hingegen eine andere Tendenz bei neuen Anordnungen: Dort wurde die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eines bislang einstweilig Untergebrachten zurückgewiesen und der Betreffende sofort auf freien Fuß gesetzt. Der 4. Senat hat die derzeitige Rechtsgrundlage infolge der nunmehr rechtskräftigen Entscheidung des EGMR für (neue) nachträgliche Anordnungen offenbar als nicht mehr tragfähig angesehen.

Wegen der möglichen schweren und nicht wieder gutzumachenden Grundrechtsbeeinträchtigungen gehe ich davon aus, dass das BVerfG nicht allzu lange mit einer Entscheidung in der Hauptsache warten kann. Denkbar ist jedoch, dass das BVerfG auf eine Übergangsregelung des Gesetzgebers für die einschlägigen Fälle wartet. Entsprechende Spielräume sind aber in der Entscheidung des EGMR schwer zu erkennen.

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5 Kommentare

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Der auch durch das BVerfG erkannte Schutz der Allgemeinheit vor Straftätern, bei denen ein hohes Rückfallpotential festgestellt wurde, ist unstreitig richtig und wichtig.

Fraglich bleibt, wie mit Straftätern umgegangen werden soll, wenn sich das Rückfallpotential erst nach Fesstetzung der Sicherheitsverwahrung einstellt oder steigert!?

Hier würde mit einer "pünktlichen Entlassung" wiederum das Wohl der Allgemeinheit zurückstehen! Eine Güterabwägung nicht ganz einfacher Natur!

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Wäre das nicht einen Blog-Beitrag des Strafrechtsexperten wert?

http://www.n-tv.de/politik/Machokultur-unter-Muslimen-article907123.html

"Die Forscher hatten 45.000 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren befragt, unter ihnen gut 10.000 Migranten: Vor allem Jungs aus muslimischen Zuwanderer-Familien zeigten sich dabei im Vergleich zu ihren Altersgenossen als besonders gewalttätig, das heißt, sie begingen nach eigenen Angaben – und nach Angaben von Opfern – häufiger Delikte wie Körperverletzung und Raub. Die Kriminologen interessierte zudem der Zusammenhang mit der Religion, sie fragten die Schüler, wie gläubig sie sind – mit ebenfalls sehr bedenklichen Resultaten: Häufiges Beten und Moscheebesuche bremsen die Gewaltbereitschaft nicht: Wer besonders religiös lebt, das legt die Statistik nahe, schlägt sogar häufiger zu. "Selbst wenn man soziale Faktoren herausrechnet, bleibt ein signifikanter Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewaltbereitschaft", sagte Pfeiffer.

Bei evangelischen und katholischen Jugendlichen zeigte sich eine gegenläufige Tendenz: Wer seinen Glauben lebt, begeht seltener jugendtypische Straftaten. Dies gilt gerade auch für christliche Zuwanderer, die meist aus Polen oder der ehemaligen Sowjetunion stammen."

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Der erwähnte Beschluss des BGH vom 12.5.2010 scheint mir wichtig. Der 4. Strafsenat nimmt die Verfplichtung zur "Berücksichtigung" der EGMR-Rechtsprechung, die das BVerfG formuliert hat, ernst. Deutschland bleibt ja hinter dem europäischen Standard zurück, indem es die EMRK lediglich mit dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes inkorporiert hat. Der 4. Strafsenat zeigt, welche Auslegungsmöglichkeiten das deutsche Recht bietet, um dennoch zu einem konventionskonformen Ergebnis zu gelangen.

Auch das OLG Hamm (4 Ws 114/10) hat eine Entscheidung getroffen, die die rechtskräftige Entscheidung des EGMR berücksichtigt, Zitat:

"Entscheidendes Gewicht kommt jedoch weiter dem Umstand zu, dass nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 (Az.: 19359/04) der im Jahre 1998 angeordnete Wegfall der 10-Jahres-Frist für die erste Sicherungsverwahrung menschenrechtswidrig ist. Diese Entscheidung ist seit dem 11. Mai 2010 rechtskräftig. Danach verstößt die Vollstreckung über den 10-Jahres-Zeitpunkt, der bei dem Untergebrachten bereits verstrichen ist, hinaus sowohl gegen Art. 5 EMRK als auch gegen Art. 7 EMRK. Denn zu dem Zeitpunkt, als der Untergebrachte zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurde, galt noch die 10-Jahres-Frist. Durch den im Jahre 1998 angeordneten Wegfall wurde gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen, da nach der nachvollziehbaren Wertung des EGMR die Sicherungsverwahrung keine Maßregel, sondern eine "Strafe" im Sinne des Art. 7 EMRK darstellt (EGMR, Entscheidung vom 17. 12. 2009, BeckRS 2010, 01692 Rn.122 ff) . Ferner beruht die weitere Vollziehung nicht mehr auf dem ursprünglichen Urteil des Landgerichts Bochum, da dieses nur eine Sicherungsverwahrung für die Dauer von 10 Jahren angeordnet hatte, auch wenn dies sich nicht unmittelbar dem Tenor entnehmen lässt. Somit beruht die weitere Freiheitsentziehung nicht mehr auf einer Verurteilung "durch ein zuständiges Gericht", so dass sie nicht durch Art. 5 Abs. 1 2 a EMRK gerechtfertigt sein kann (EGMR aaO Rn 87 und 96).
Zwar wirkt die Entscheidung des EGMR unmittelbar nur zwischen dem Beschwerdeführer und der Bundesrepublik Deutschland; sie hat keine "erga omnes"-Wirkung für alle Untergebrachten, die sich nach Ablauf der 10-Jahres-Frist noch in der Unterbringung befinden. Dennoch müssen die Bundesrepublik und ihre staatlichen Organe – somit auch die Vollstreckungsgerichte – als verpflichtet angesehen werden, zu verhindern, dass es in gleichgelagerten Fällen zu einer entsprechenden Verletzung der EMRK kommt (vgl. Kinzig, NStZ 2010, 233, 238; LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., Verfahren MRK RN 77 d). Der Entscheidung kommt somit allgemeine Orientierungswirkung zu. Sie ist damit zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, welche bei lang andauerndem Freiheitsentzug immer anzustellen ist (BVerfGE 109, 133, 159), zu berücksichtigen. Dies kann nur dazu führen, dass die Sicherungsverwahrung in diesen Fällen für erledigt zu erklären ist (so Kinzig a.a.O.)." (Quelle)

 

 

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