Die Opfergrenze rückt näher

von Dr. Klaus Lützenkirchen, veröffentlicht am 08.06.2010

Generationen von Juristen haben sich schon mit dem Problem befasst, wann die Verpflichtung des Vermieters zur Beseitigung eines Mangels (heute) gemäß § 275 Abs. 2 BGB endet, weil der dazu erforderliche Aufwand die "Opfergrenze" überschreitet. Die Erkenntnis, dass dies von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der beiderseitigen Parteiinteressen wertend ermittelt werden muss, ist alt. Vor kurzem kam die Erkenntnis hinzu, dass kein krasses Missverhältnis zwischen dem Reparaturaufwand einerseits und dem Nutzen der Reparatur für den Mieter sowie dem Wert des Mietobjekts und den aus ihm zu ziehenden Einnahmen andererseits entstehen darf (BGH v. 20.7.2005 - VIII ZR 342/03, NJW 2005, 3284, unter II 2). Danach lässt sich eine Überschreitung der "Opfergrenze" nicht aus einer bloßen Gegenüberstellung zwischen Sanierungskosten und Verkehrswert herleiten; erforderlich ist eine Würdigung aller Umstände.

Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch ein etwaiges Verschulden des Schuldners zu berücksichtigen (§ 275 Abs. 2 Satz 2 BGB); dies war bereits vor der Schuldrechtsmodernisierung anerkannt (BGH v. 2.10.1987 - V ZR 140/86, NJW 1988, 699, unter III 2 b). Insoweit besteht ein Zusammenhang zwischen der Frage, wie sich etwa die Sanierungskosten und der Verkehrswert "rechnerisch" zueinander verhalten, und der Frage, ob dem Vermieter die Beseitigung des Mangels unter Berücksichtigung der beiderseitigen Parteiinteressen und eines etwaigen Verschuldens zugemutet werden kann. Je ungünstiger sich das Verhältnis zwischen Sanierungskosten und Verkehrswert darstellt, desto gewichtiger müssen die entgegenstehenden Umstände sein, die es dem Vermieter trotz bestehendem Missverhältnis zwischen Sanierungskosten und Verkehrswert verwehren sollen, sich auf den Einwand der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit (§ 275 Abs. 2 BGB) zu berufen. Ein auffälliges Missverhältnis indiziert eine Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze. Im Extremfall kann dieses Indiz so stark sein, dass es schwer vorstellbar erscheint, welche weiteren Umstände zu einer anderen Abwägung sollten führen können. In diesem Fall spricht man von einem "krasses Missverhältnis“ (BGH v. 20.7.2005 - VIII ZR 342/03, NJW 2005, 3284).

Ein solches krasses Missverhältnis besteht, wenn von einem aktuellen Verkehrswert eines Grundstücks von 28.000 EUR und Sanierungskosten (Beseitigung von Rissbildungen) mindestens in Höhe von etwa 95.000 EUR, ungünstigstenfalls sogar in Höhe von etwa 170.000 EUR auszugehen ist (BGH v. 21.4.2010 – VIII ZR 131/09). Demgegenüber ist es verfehlt, den Einwand aus § 275 Abs. 2 BGB schon deshalb zu verwerfen, weil der Vermieter es (angeblich) zu einem "Reparaturstau" hat kommen lassen und deshalb die Höhe der Sanierungskosten zu vertreten hat (vgl. dazu Schmidt-Futterer/Eisenschmid, Mietrecht, 9. Aufl., § 536 BGB Rz. 504). Davon kann auch nicht ohne Weiteres auszugehen, wenn es zutrifft, dass Risse weiterhin in Bewegung sind und die wesentliche Ursache dafür in der mangelnden Tragfähigkeit des Baugrundes und in Konstruktionsmängeln des Gebäudes zu suchen ist. Denn dann bestanden die für die Rissbildung verantwortlichen Mängel, deren Beseitigung nur mit hohen Kosten möglich ist, schon seit der Errichtung des Gebäudes; sie sind nicht erst dadurch entstanden, dass der Vermieter auf das Beseitigungsverlangen des Mieters nur zögerlich eingegangen ist.

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