Steckt die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen in einer Krise?

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 20.06.2010

In seiner empirischen Untersuchung "Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen" aus dem Jahr 1989 (derzeit wohl vergriffen; hier aber zumindest die online-Ergänzung) stellte Prof. Barton fest, dass trotz ihrer herausragenden Bedeutung für Praxis und Wissenschaft die Revisionsrechtsprechung des BGH in ihrem praktischen Entscheidungsprogramm sich in weiten Bereichen vom kodifizierten Gesetzesprogramm gelöst habe (S. 284/285). Die ebenso interessante wie wichtige Studie fand leider so gut wie keine Resonanz in der strafrechtlichen Diskussion. Offensichtlich köchelten aber die in der Publikation behandelten Unterschiede der Strafsenate im informellen Entscheidungsablauf und den damit verbundenen Ergebnissen weiter und waren nun auf dem 13. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium in Karlsruhe plötzlich eines der wichtigen Themen, wie der Kommentar von Gisela Friedrichsen belegt (mit lesenswerten Zuschriften). Mit einiger Verzögerung liegt das Thema nun auf dem Tisch!

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9 Kommentare

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Dem Nachfolgenden sei vorausgeschickt: Als mit der Revisionspraxis außerhalb der veröffentlichten Urteilsgründe nur in wenigen Fällen vertrauter "Theoretiker" (= Hochschullehrer) ist meine Einschätzung natürlich nicht "erfahrungngsgesättigt". Aber manches kann man aus dem, was man liest und aus Gesprächen mit verlässlichen (!) Quellen hört, vielleicht doch abzuleiten versuchen:

1. Ob die Revisionsrechtsprechung im Allgemeinen, die des BGH im Besonderen und diejenige des vom Frau Friedrichsen pointiert kritisierten 1. Senats in spezieller Weise "in der Krise" ist, hängt auf den ersten Blick wohl vom (Selbst-) Verständnis der Revision ab. Das gesetzliche Prüfungsprogramm mit der Frage, ob das Urteil auf einem Rechtsfehler beruht, führt einerseits zu einer starken Knebelung der Revisionsgerichte durch den festgestellten Sachverhalt und die fehlende Möglichkeit eigener Beweiserhebungen, andererseits (nicht zuletzt in der Lesart, nur zu fragen, ob nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf dem Fehler beruht) zu einem Rigorismus, soweit es um die Einhaltung von Formen geht. Oder anders gewendet: Die Frage, ob das Urteil auf einem nach dem (klassischen) Prüfungsprogramm des Revisionsgericht revisiblen Fehler beruht, sagt nicht immer hinreichend viel zur Frage, ob es "in der Sache" richtig und angemessen ist. Man mag nun über die Gründe und Hintergründe im Detail streiten - ich würde aber meinen, dass die Revisionsrechtsprechung der letzten (nicht nur jüngsten) Jahre durch eine Tendenz gekennzeichnet ist, die eigene Richtigkeitsvorstellung des Revisionsgerichts zu Lasten formaler Beschränkungen in der Überprüfbarkeit wie auch formaler Aufhebungszwänge (also: in beide Richtungen!) auszuweiten. Dem entspricht einerseits die über weite Strecken zu konstatierende Bedeutungslosigkeit der Verfahrensrüge (vor allem wenn ein vermeintlich "richtiges" Urteil gehalten werden soll), andererseits aber die Ausweitung der Sachrüge etwa in Bereichen des Feststellungs- oder Darstellungsmangels (auch wenn ein in sich formal schlüssig begründetes Urteil aufgehoben werden soll). Eine gute Beschreibung dieser und anderer Phänomene samt scharfsinniger Deutung findet sich bei Frisch, Fezer-FS, 2008, S. 365 ff. Bestätigt wird dies dadurch, dass "selbst" vor dem ersten Senat mitunter Sachrügen erfolgreich sind, bei denen der Rechtsfehler nicht sofort ins Auge springt und seine Feststellung aber eine sorgfältige und das materielle Recht mit Augenmaß anwendende Prüfung erkennen lässt (vgl. aus neuerer Zeit nur die Entscheidung 1 StR 107/09 zur Reichweite einer Garantenstellung aus Ingerenz). Freilich wird das dann in anderen Entscheidungen wieder konterkariert, soweit es um das Ergebnis geht (vgl. etwa 1 StR 86/05 mit sorgfältigen Überlegungen zur Ablehnung einer vom Tatgericht angenommenen Geiselnahme, die dann aber über eine den Wortlaut überschreitende Anwendung des § 354 Ia StPO [die so nach der späteren Verfassungsrechtssprechung nicht mehr möglich sein dürfte] hinfällig wird).

2. Versucht man die gegenwärtigen Entwicklungen mit solchen oder ähnlichen Deutungsmustern zu erklären, darf man aber natürlich eines nicht vergessen: Ein vom tradierten gesetzlichen Prüfungsprogramm abweichendes Verständnis der Revision mag in sich stimmig, psychologisch nachvollziehbar usw. sein - aber es leidet an einem wesentlichen Mangel: Eben, dass es vom gesetzlichen Prüfungspgroramm abweicht ... Und das ist vielleicht auch nicht nur ein formaler Einwand (wobei "formale Einwände" - zumal im grundrechtssensiblen Strafverfahrensrecht - nicht zu gering geschätzt werden sollten und sich auch Fragen der Gesetzesbindung stellen), sondern wahrscheinlich ist dieses Prüfungsprogramm der StPO für eine Instanz ohne eigene Tatsachenfeststellungen, mit seltenen mündlichen Verhandlungen und regelmäßig ohne Kontakt mit dem Angeklagten auch sinnvoll: Das materielle Recht wird im Ansatz voll überprüft, die Bereiche, die einen persönlichen Eindruck voraussetzen (Beweiswürdigung und Strafzumessung) sind "Domäne des Tatrichters", allerdings sind daran eine Reihe von formalen Anforderungen zu stellen, bei deren Fehlen es zur Aufhebung kommen muss. Und Fehler im Verfahren, deren (wahre) Gründe und deren mittelbare Auswirkungen auf den Verfahrensausgang sich im Revisionsverfahren nur schwer erahnen lassen, führen auch weit reichend zur Aufhebung. Das ist nicht immer bequem, macht aber eigentlich Sinn.

3. Hinzu kommt ein weiteres: Je mehr das Revisionsgericht nicht die Richtigkeit des Urteils überprüft, sondern nach der selbst für richtig befundenen Beurteilung des Rechtsfalles sucht, desto größer mag die Versuchung sein - zumal in ihrerseits nicht mehr weiter überprüften und auch hinter dem mitunter kryptischen revisionsrechtlichen Prüfungsumfang verschleiert - sehr subjektive Einschätzungen eines Geschehens der rechtlichen Würdigung überzuordnen. Und hier kann ich sogar ein praktisches Beispiel aus einer Revision beisteuern, an der ich als ein Vertreter des Angeklagten vertreten war: Mit Blick auf die Strafzumessung wurde u.a. ein Fehler bei der Durchführung des Härteausgleichs in einem etwas speziellen Punkt gerügt, der hier nicht weiter interessieren muss. Gewiss ein Punkt, den man auch anders als die Revision (und damit wie der Senat) sehen kann, und vielleicht auch ein Punkt, der zu große Folgewirkungen mit sich gebracht hätte, so dass der Senat selbst dann zurückgeschreckt wäre, wenn wir ihn überzeugt hätten (was nicht richtig, aber "menschlich" gewesen wäre). Ergänzend hat er uns aber noch ins Stammbuch geschrieben: Über den gewährten Härteuausgleich hinaus sei ein solcher nicht zu gewähren, ja sogar der gewährte Ausgleich sei in der vorliegenden Fallgestaltung „neue Taten zur ‚Strafvereitelung“ des eigenen laufenden Strafverfahrens (…) aus der Untersuchungshaft heraus (…) mit Blick auf den Zweck [des Härteausgleichs] bedenklich“. Das zeigt sehr deutlich die innere Abneigung des Senats, hat doch der Inhalt der beiden Taten - sebst dann, wenn er der Justiz so ungelegen kommt, wie es Verdunklungsbemühngen aus der Untersuchungshaft tun, mit dem Zweck des Härteausgleichs zu tun hat - denn der wurzelt nicht in der Natur der Taten, sondern in den Konkurrenzregeln.

4. Zuletzt: Wenn man denn eine handfeste Krise bei einem bestimmten Senat, feststellen will (was ich mir mangels hinreichender eigener Erfahrungen nicht anmaßen will), würde das möglicherweise eher für ein Problem der (oder einzelner) Entscheidungsträger als für ein strukturelles Revisionsproblem sprechen - das ist gegenwärtig für die Betroffenen kein Trost, lässt aber immerhin die Hoffnung auf eine Änderung bestehen. Und man darf sich auch nichts vormachen: Nicht bei jeder Revision, die verworfen wird, trägt die Schuld das Revisionsgericht. Wenn (auch solche Fälle sind mir bekannt) Fachanwälte für Strafrecht  (!) bei einer angeblichen Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes die "Verletzung des § 338 Nr. 6 StPO" rügen, zeigt das Defizite in der theoretischen Durchdringung der Materie, die nicht erwarten lassen, dass eine komplexe Begründung einer Verfahrensrüge gelingen wird.

Hans Kudlich

 

Wenn es eine, nach meinem Dafürhalten, überflüssige Gerichtsinstanz gibt, dann ist das der BGH. Folgendes: Versuchen Sie mal meinen Revisionsverwerfenden Beschluß 1 StR 317/05, vom 10.August 2005, auf der Homepage des BGH zu finden. Soweit, so schlecht. Auf schriftliche Anfrage, konnte ich mir auch keine Kopie des Beschlusses schicken lassen. Es gab den Beschluss garnicht!! Er liegt aber hier auf meinem Schreibtisch !!!!

Zudem ist einer der unterschreibenden Ri des Rev.-Verwerfers in einer anderen Entscheidung des BGH als "in Urlaub" vermerkt. Auf meiner Papierkopie jadoch fehlt dieser Vermerk..........

Dahingehend meine Vermutung, dass mir die Revision, bzw. der verwerfende Beschluß etwa nur "vorgegaukelt" wurde (??)......

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Mag mir jemand den Beitrag von Herrn Kudlich zusammenfassen? Ich habe nach der Hälfte von Punkt 1 und dem dritten Einschub in der vierten Klammer des siebten Nebensatzes aufgegeben.

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Liebe(r) Vanishing Point,

berechtigte Kritik - war gestern vielleicht doch zu spät, einfach mal rasch was zu schreiben.

Ich versuche es und beschränke mich auf das Wichtigste:

ad 1: Ich teile die auch andernorts vertretene These, dass sie die Revisionsrechtsprechung weg von der Prüfung "War das Urteil juristisch korrekt" hin zu "Wie ist der Fall richtig zu beurteilen" entwickelt, was ja nicht das Gleiche sein muss.

Konsequenz ist zum einen eine Schwächung der Verfahrensrüge, da diese auch "in der Sache richtige" Urteile zu Fall zu bringen droht. Andererseits eine Stärkung der Sachrüge in bestimmten Bereichen (Feststellungs- oder Darsellungsmängel, z.T. Strafzumessung). Der Rest sind Beispiele.

ad 2: Man kann die Revision theoretisch so oder so ausgestalten - aber die unter 1 beschriebene "neue Sichtweise" hat den Nachteil, dass das Gesetz eher die alte Frage (Ist das Urteil juristisch korrekt) als Konzept vor Augen hat. Und das m.E. in einem Verfahren, in dem der Angeklagte regelmäßig nicht gesehen wird und keine Zeugen vernommen werden, mit gutem Grunde.

ad 3: Ein Ansatz "Wie wäre der Fall den richtig zu entscheiden" birgt ferner die Gefahr stark subjektiver Wertungen der Revisionsrichter, die schwer wiegen, weil sie praktisch nicht mehr kontrolliert werden.

ad 4: In einem Bereich, der letztlich von so wenigen Personen verantwortet wird, wie die strafrechtliche Revisionsrechtsprechung des BGH ist aber immer auch die Frage, was generelle Tendenzen sind und was an Personen hängt. Und da gibt es solche und solche, ebenso, wie es auch solche (an sich gute, zu Unrecht kurz abgebügelte) und solche (einfach handwerklich wiirklich schlechte) Revisionen gibt.

Sorry nochmal, ich hoffe, jetzt ist es (zwar etwas undifferenzierter, aber) in den Aussage klarer.

Beste Grüße,

Hans Kudlich

Besten Dank für die freundliche Reaktion auf meine Faulheit und die Zusammenfassung.

Was Sie beschreiben erinnert mich an das, was im Studium zynisch als die "BGH-Schweinehund-Theorie" bekannt war. Ist der Angeklagte ein Schweinehund? Wenn ja, kriegen wir ihn auch dran, egal was im Gesetz steht. Unter zur Hilfenahme dieser Erwägung ließen und lassen sich BGH Entscheidungen zum Strafrecht mit großer Treffsicherheit vorhersagen.

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  Man kann nur sehr begrüßen, dass im blog diese Diskussion aufgegriffen wird. Professor Kudlichs erster  Beitrag war zwar lang, aber zu Recht ausdifferenziert. Eine einfache Antwort auf die gestellte Frage gibt es nicht. In dem Beitrag von Gisela Friedrichsen wird auf die Äußerung des erfahrensten Revisionsrechtlers Professor Widmaier beim Karlsruher Frühjahrs-Symposium hingewiesen. Dieser kam zum Ergebnis, die Revision sei ein frustrierendes (oder deprimierendes) Geschäft  geworden. Völlig unbestritten ist, dass der 1. Strafsenats außerordentlich viele Urteile hält. Dies kann im Verhältnis etwa zum 3. Strafsenat nur erstaunen. Oder sollten die bayerischen und württembergischen Gerichte so viel bessere Urteile fällen und begründen als diejenigen in anderen Bundesländern? Vielleicht ist allerdings der 1. Senat auch nicht beschuldigtenfreundlicher als andere, sondern vielmehr tatrichterfeundlicher? Dagegen spricht, dass der Senat neuerdings auch „Zusatzprozessordnungen“ schafft, die stets die Rechte des Beschuldigten beschränken, nicht etwa erweitern (zuletzt die sog „Fristenlösung“ im Beweisantragsrecht).  Dafür spricht allerdings, dass auch Revsionen der Staatsanwaltschaft oft  kein Erfolg beschieden ist. Nach meiner Überzeugung tut es der Kultur der Instanzgerichte jedenfalls nicht gut, wenn auch nur der Eindruck entsteht, es bestehe nur eine sehr geringe Gefahr, aufgehoben zu werden. Denn, der BGH ist nicht überflüssig (so Beitrag #2), sondern wichtiges, zwingendes Korrektiv. Andernfalls ist die Situation erstaunlich: der kleine „Hühnerdieb“ hat beinahe vier Instanzen (Strafbefehl, darauf Einspruch und Hauptverhandlung, Berufung, Revision), in den großen Wirtschaftsstrafrechtsfällen bleibt das Landgericht die einzige (denn der neue § 257 c leistet hier den Rest). Und niemandem tut es gut, sich nicht kontrolliert zu fühlen. Ich persönlich glaube aber an einen prozessualen Gerechtigkeitsbegriff. Wenn jedoch die These richtig ist, dass auch der BGH inzwischen den Blick auf den „Fall“ richtet und nicht die bloße Rechtmäßigkeit von Entscheidung und Verfahren beurteilt und damit die Normanwendung im Mittelpunkt steht, geht davon ein Stück verloren und die Frage nach der Krise ist berechtigt.

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Hinzu tritt, daß der BGH die Anforderungen an eine ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge ständig weiter verschärft. Fast unmöglich ist es geworden, die Verfahrenstatsachen erschöpfend darzulegen. Der BGH betont, es sei dem Revisionsgericht verwehrt, selbst die Akten zu durchforsten. Alles müsse sich aus der Revisionsbegründung selbst ergeben. Das ist zwar revisionsrechtlich im Grunde zutreffend, jedoch auch unehrlich. Natürlich liest das Revisionsgericht die Akten. Und in ihm geeignet erscheinenden Fällen, darf plötzlich auf wunderbare Weise im "Freibeweisverfahren" aus den Akten ergänzt werden, was die Revision versäumt hatte vorzutragen bzw. gar nicht vortragen wollte.

 

Den Ausführungen von Herrn Kudlich kann man sich als Verteidiger nur anschließend. Eine treffende Analyse.

 

 

 

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Guten Tag Herr Professor:

 

Korrigierend und ergänzend zu Ihrem Hinweis: M.E.n. erschien die Barton-Studie 1999 (bei Luchterhand). Dazu verständig -> Andreas Geipel, Die geheimen contra legem Regeln im ordentlichen Prozess. Ein kritischer Bericht aus der Praxis zur Existenz geheimer contra legem Regeln; in: Anwaltsblatt 12/2006: 784-788, hier zitiert 787:

„III. Die contra legem wahr gewordene Befürchtung vor einem aus der Luft greifen und Zurechtmachen
von Entscheidungsgründen

Als die freie Beweiswürdigung in Deutschland eingeführt wurde, gingen die Befürchtungen dahin, dass die Entscheidungsgründe aus der Luft gegriffen und je nach Bedarf zurechtgemacht werden würden. Diese Befürchtungen haben sich mangels effektiver Kontrolle durch das übergeordnete Gericht zum Großteil bewahrheitet. Derartige Fälle, die jeder Anwalt aus seiner Praxis berichten kann, sind Legion.

1. Zur strafrechtliche Revision: Hier kann statt eines Beispiels auf die empirische Untersuchung von Barton über das Schicksal eingelegter Revisionen verwiesen werden. Als deren Ergebnis stellt sich die Frage an die Prozessbevollmächtigten, „ob sie an einem ,Spiel’ teilnehmen wollen, dessen Regeln durch die Schiedsrichter [die Richter] flexibel [ergo zurechtgemacht] gehandhabt werden.“ „Die für die Strafrechtswissenschaft wichtigste Konsequenz sollte sein, dass man nicht weiter davon ausgehen darf, in der BGH-Rechtsprechung funktioniere alles so, wie es im Gesetz steht.“

2. Zur zivilrechtlichen Berufung: In der Praxis sind vor allem zwei Formeln (v. a. bei Angriffen gegen die Beweiswürdigung) vorherrschend, die sich auf jeden beliebigen Fall – je nach Bedarf – anwenden lassen: Rügt der Berufungsführer, dass Entscheidungserhebliches nicht gewürdigt wurde, so wird dem regelmäßig entgegnet, dass sich der entsprechende Punkt zwar nicht expressis verbis, aber aus den sonstigen Umständen ergäbe (sog. „Ergebensfälle“). Wäre das aber so, so hätte das auch dem Berufungsführer auffallen müssen, statt eine dann sinnlose Berufung einzulegen. Es ist offensichtlich, dass das Argument, dass der Punkt zwar genannt werden hätte müssen, aber sich aus den Umständen ergibt, dem Belieben Tür und Tor öffnet. Auch diese Begründung erfolgt contra legem, denn § 286 I Satz 2 ZPO verlangt, dass die wesentlichen Gründe anzugeben sind und nicht, dass sich diese Gründe aus anderen, Gründen mehr oder weniger vermuten lassen. Rügt der Berufungsführer, dass bestimmte, in den Entscheidungsgründen niedergelegte Punkte einen Rechtsfehler aufweisen, so wird dem oft entgegnet, dass dieser Punkt kein entscheidendes Gewicht – trotz seiner expressis verbis Ausführung-hatte, sondern lediglich „der Abrundung diente“ (sog. „Abrundungsfälle“). Damit können die ausdrücklich vorliegenden Entscheidungsgründe je nach Bedarf – als lediglich der Abrundung dienend und damit eigentlich irrelevant erachtet werden, oder nicht. Das wiederum führt zu der contra legem Regel, dass in den „Abrundungsfällen“ in den Gründen Genanntes entgegen §§ 286 I Satz 2, 313 darstellen soll.

IV. Fazit Das gegenwärtige System führt dazu, dass die Wahrheitsfindung oft „auf der Strecke“ bleibt und es statt dessen nur noch um eine Prozessfassade geht. Es ist daher nicht weniger Rechtsschutz für die Bürger erforderlich, sondern mehr. Der Befund von Geiger von 1982 gilt heute mehr denn je: „Führe möglichst keinen Prozess; der außergerichtliche Vergleich oder das Knobeln erledigt den Streit – allemal rascher, billiger und im Zweifel ebenso gerecht wie ein Urteil.“

 

Freundliche Grüße

Dr. Richard Albrecht
http://wissenschaftsakademie.net

 

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BGH-ou-Praxis

 

Die hier bemühte „Schweinehund“-Praxis ist m.E.n. nicht auf den ganzdeutschen BGH beschränkt, die zuletzt von RA Burhoff geschilderte besondere ou-Spruchpraxis des BGH[1] geht freilich noch übers obergerichtlich exzessive „offensichtlich unbegründet“ mit Ihrem contradictio-in-adiecto, nämlich das Diktum „offensichtlich unbegründet“ dann doch seitenlang zu „begründen“, die hier eingangs von RA KArsten fallbezogen geschilderte besondere BGH-Praxis schließlich ist als bürokratische Machttechnik auch nicht ganz unbekannt und erfährt m.W. in Britain die Kennzeichnung „fraudulent redressal“ (dt. etwa Bearbeitung nur zum Schein).

 

Um nicht ständig auf der Ebene der fallbezogenen Einzelheiten stehn zu bleiben, sondern sozialwissenschaftlich-konkret zu argumentieren: Meine an des-Kaisers-Kleider-Anekdote („Er ist ja nackt“) geschulte plausible Arbeitshypothese lautet: der BGH, „das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit“[2], wirkt in der Rechtspraxis empirisch nicht als Revisionsgericht … Was zu falsifizieren wäre (q.e.f.).

 

[1] http://blog.strafrecht.jurion.de/2010/08/der-sermon-der-revisionsgericht...

 

[2] http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/DerBGH/broschuer...

 

Mit freundlichem Gruß

Dr. Richard Albrecht

http://wissenschaftsakademie.net

 

 

 

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