Fall Kachelmann: Focus contra Spiegel

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 05.07.2010

Während eine Hauptverhandlung laut heutigen Presseberichten angeblich erst nach der Sommerpause stattfinden soll (Quelle), ergibt sich heute eine Art Stellvertreterprozess zwischen den Nachrichtenmagazinen  Focus und Spiegel.
Der Spiegel hatte zunächst die Nase vorn und gab vor einiger Zeit aus dem von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen aussagepsychologischen Gutachten von Luise Greuel die resümierende Angabe wieder, es bestünden  erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage der Anzeigeerstatterin. Daraus ergaben sich in der Öffentlichkeit Zweifel am dringenden und möglicherweise auch am hinreichenden Tatverdacht gegen Kachelmann (Blogeintrag).
Nun zitiert auch Focus aus dem Gutachten, allerdings mit entgegengesetzter Tendenz. Greuel habe nämlich geschrieben, dass die Aussage durchaus im Kern wahr sein könne. Zudem hat sie sich angeblich zur Persönlichkeit von Kachelmann selbst geäußert. Das Tatbild entspreche dem eines Narzissten. Zitat Focus (Quelle):
"Das von dem mutmaßlichen Opfer beobachtete Verhalten Kachelmanns an jenem Abend soll sich laut Greuel mit dem typischen Zusammenbruch eines ausgeprägten Narzissten decken, der nach einer schweren Kränkung seiner Wut und Frustration freien Lauf lässt. Vor dem Hintergrund dieser Dynamik könne der Streit zu einem Ausbruch narzisstischer Wut geführt haben. Die Psychologin hält es nach FOCUS-Informatioen für möglich, dass diese Zurückweisung und der plötzliche Kontrollverlust für Kachelmann eine extreme Kränkung bedeuteten. Ausgeprägte Narzissten reagierten auf derartige seelische Verletzungen."
Nun können folgende Möglichkeiten gegeben sein: Entweder eines oder gar beide Nachrichtenmagazine geben hier ein falsches Fazit des Gutachtens wieder, oder aber - wenn beide zutreffend einen Teil des  Resümees von Frau Greuel wiedergeben -  das Gutachten ist im Ergebnis nicht eindeutig. Für letzteres spricht, dass laut Angabe des Focus Frau Greuel auch geschrieben haben soll, sie stoße an ihre Grenzen. Dass die Sachverständige tatsächlich etwas zum Narzissmus von speziell Herrn Kachelmann  geäußert hat, erscheint mir fragwürdig, da eine Untersuchung des Beschuldigten insoweit nicht stattgefunden hat. Die der Gutachterin von  Focus zugeschriebenen Äußerungen können daher allenfalls  "hypothetisch" angenommen worden sein, nämlich für den Fall, dass die Aussage zutrifft, also um ihren Wahrheitgehalt in puncto Plausibilität zu testen. Mit fragmentarischen Angaben, herausgerissen  aus einem umfangreichen Gutachten, in dem auch Hilfsannahmen und hypothetische Erwägungen enthalten sind, wird man aber meist nicht den "Kern" treffen.
Man kann nur hoffen, dass das Gericht das ganze Gutachten sorgfältig liest und richtig einordnet sowie, dass eine Hauptverhandlung, wenn das Hauptverfahren denn eröffnet wird, überzeugende Aufklärung bringt.
 

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23 Kommentare

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Es wäre genauso eine Racheaktion der Frau möglich.

Immerhin hat sie nachweislich emails, angeblich von einer anderen Kachelmann-Freundin, an sich selber geschrieben.

So etwas ist keine einfache Lüge sondern wohlübertlegter Betrug.

 

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http://www.youtube.com/watch?v=NnV-O51YFE4

Gert Postel beantwortet nach einer Lesung seines Buchs "Doktorspiele" Fragen aus dem Publikum. Mehr Informationen zum Thema unter: www.gert-postel

Der gelernte Postbote arbeitete als Psychiater und erstellte mehrere Dutzend Gutachten bei Strafpozessen.

 

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vielen dank für dieses video!

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Auch noch mal einen riesen Dank meinerseits für das Video!

Das Buch von ihm muste ich förmlich nach dem Video gerade bestellen.

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Was ich höchstspannend finde ist die Frage, wie die Magazine an die Inhalte der Gutachten gekommen sind.

Im Übrigen: Woher kennt der SPIEGEL die Aktenlage (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70833818.html)?

Da liegt doch der Verdacht des § 353d StGB relativ nahe.

Sehr geehrter Herr Seidel,

für den unvoreingenommenen Leser dieser Norm scheint dieser Verdacht in der Tat nahe zu liegen. Doch solange aus dem Gutachten nicht "wörtlich" zitiert wird, ist der Journalist (sowie sein Zuträger) noch im grünen Bereich. Genau aus diesem Grunde ist die Norm § 353d StGB recht zahnlos, nämlich wie Ri BGH Graf in der Kommentierung im MüKo schreibt: "Infolge dieser Einschränkung .... ergeben sich vor allem eine erhebliche Strafbarkeitslücke und zugleich eine deutliche Reduzierung des Schutzbereichs der Vorschrift im Hinblick  auf die Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich von Laienrichtern und Zeugen" (Graf, in Münchener Kommentar § 353d StGB Rn.70).

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

§ 353d StGB ist insoweit ein Dolch ohne Klinge dem der Griff fehlt! Was angesichts der Folgen, etwa für die Verteidigung, nicht nachvollziehbar ist. Wer noch die Cicero-Affäre im Kopf hat, fragt sich schon, warum Entscheidungen vom Amtsträgern häufig zwischen Überreaktion und Verantwortungslosigkeit schwanken. Der Referendar oder Berufanfänger kann aus der Causa Kachelmann immerhin eine Lehre ziehen: Wer Strafverteidgung machen will, sollte sich auch eigehend mit dem Presserecht beschäftigen!

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Siehe hierzu auch die Diskussion in der Phoenix Runde vom Donnerstag:
"Im Zweifel schuldig? - Prominente, Justiz und Medien"

Sendungsarchiv:

http://www.phoenix.de/content/311160#

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Ein interessanter Artikel über den Richter der 5. Strafkammer des Landgerichtes Michael Seidling steht in

der Sonntagszeitung: http://www.sonntagszeitung.ch/nachrichten/artikel-detailseiten/?newsid=1....

Danach wohnen Richter Seidling und der Vater des potentiellen Opfers in unmittelbar benachbarten Gemeinden und haben gemeinsame Bekannte. Richter Michael Seidling kann sich in seinem Dorf ja wohl nicht mehr blicken lassen, wenn er Herrn Kachelmann freispricht.

Aha ... mehr Ecken konnte man wohl nicht finden, um eine Verbindung zwischen Herrn Kachelmann und dem mutmaßlichen Opfer herzustellen. Als ich das gelesen habe, musste ich selber erstmal nachdenken, wie die beiden jetzt eventuell, vielleicht bekannt sein könnten. Ich will mich ja nicht festlegen, aber: L.Ä.C.H.E.R.L.I.C.H.!

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Sehr geehrter Herr Siepmann,

es ist eine der Nebenwirkungen öffentlich-medialer Vorverhandlungen, dass solche möglicherweise für einen Antrag nach § 25 StPO nutzbaren Informationen herauskommen und vorab in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Ein Befangenheitsantrag ist allerdings (wie auch eien Haftbeschwerde) eine zuweilen heikle Verteidigungsaktion, die gut überlegt sein will. Ob die (wohl nicht mehr dörfliche, sondern schon) kleinstädtische Gemeinschaft und derselbe Sportverein für ein Misstrauen ausreicht, ist nicht gesagt.

Sehr geehrte/r Herr/Frau Kant,
Ihren Gegeneinwand verstehe ich nicht. Wahrscheinlich soll die Unlogik darin irgendwie witzig sein. Aber mein Humor ist dazu zu wenig entwickelt.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

 

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

es geht ja nicht um eine Mitgliedschaft im gleichen Sportverein, sondern darum, dass Richter Michael Seidling Vizepräsident eines Sportvereins ist, während der Vater des mutmaßlichen Opfers langjähriger Präsident im Sportclub der benachbarten Gemeinde war. Richter Michael Seidling muss damit rechnen, dass ein Freispruch von Herrn Kachelmann das Ende seiner Vereinskarriere bedeutet.

Oftersheim hat 11.000 Einwohner, Schwetzingen doppelt so viel. Wie eng die Vereine in beiden Ortschaften miteinander verbunden sind, sieht man, wenn man "Oftersheim/Schwetzingen" bei Google eingibt.

Ein Freispruch von Herrn Kachelmann könnte einen unmittelbaren Einfluß auf das Privatleben von Richter Michael Seidling haben.

Meiner Ansicht nach hätte Richter Michael Seidling diesen Umstand sofort anzeigen müssen, sobald er im selbst bekannt war.

Läge nur eine Mitgliedschaft im gleichen Verein vor, so ist dies für sich alleine meines Wissens noch kein Ablehnungsgrund. Aber eine gefährdete Vereinskarriere ist doch erheblich mehr.

Freundliche Grüße

Jürgen Siepmann

Sehr geehrter Prof. Dr. Müller,

dass Sie meinen Gegeneinwand nicht verstehen, war mir irgendwie klar. Ich sehe in meinem Beitrag auch nicht wirklich "Unlogik". Wenn es für die Besorgnis der Befangenheit bereits ausreicht, dass der vors. Richter Vizepräsident eines Vereins ist mit dem ein anderer Verein eng zusammenarbeitet, dann möchte ich aber mal Strafverteidiger an Amtsgerichten in dörflichen Regionen sein. Dort zählt eine Vereinsmitgliedschaft im örtlichen Kegel- , Schützen-, Gesangs- und / oder auch Heimatverein zum "guten Ton". Darüber hinaus ist zu bemerken, dass die genannten Vereine nicht selten bzw. sogar in fast allen Fällen Partnervereine in anderen Dörfern / Städten haben.
Es wäre daher meiner Meinung nach gerade zu lächerlich wegen einer solchen "Verbindung" (ich mag sie noch nicht mal als solche bezeichnen) einen Antrag wegen Befangenheit zu stellen und darüber hinaus eine Beleidigung der Unabhängigkeit des Gerichts.

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Sehr geehrter Herr Kant,

schön dass Sie Ihre Meinung nunmehr ohne die Sinnverwirrung ("Kachelmann und mutmaßliches Opfer") noch mal darstellen. Dass die Sache auch m.E. nicht so klar ist, wie Herr Siepmann meint, habe ich ja deutlich gemacht. Andererseits geht es hier nicht um einen beliebigen Fall am dörflichen AG und, wenn zutrifft, was Herr Siepmann sagt, nicht um eine bloße Vereinsmitgliedschaft. Ob allerdings tatsächlich "Furcht" vor dem Verlust einer Vereinskarriere bestehen muss, wie Herr Siepmann meint? Ich kenne viele Vereine, wo man geradezu zu diesen Posten genötigt werden muss, damit dies überhaupt einer übernimmt. Es geht schließlich nicht um die Präsidentschaft beim DFB.

Wie schon gesagt: Es ist zumindest heikel, wenn auch nicht von vornherein aussichtslos, dies zum Gegenstand einer Ablehnung zu machen. Die Verteidigung wird sicherlich pro und con überlegen.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

In der Zeitschrift für Rechtspolitik wird ein anderer Fall "öffentlicher Verhandlung" in den Massenmedien berichtet: Stefan Freuding: Die Verlagerung von Strafverfahren in Massenmedien Ein pessimistischer Ausblick, ZRP 2010, 159

Es geht um eine gem. § 48 Abs. 1 JGG nichtöffentliche Verhandlung (für die § 359d StGB lt. Autor nicht einschlägig sein soll). Das Opfer hatte aber einen Exklusiv-Vertrag mit einem Fernsehsender und sie hat geliefert. Die Zuschauer konnten Ihre Darstellung des Geschehens am Vorabend Ihrer Zeugenaussage "genießen". Und dabei blieb es nicht.

Aus dem Artikel: "Ein interessengeleiteter Verfahrensbeteiligter konnte bestimmen, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen. Er konnte damit die Meinungsbildung maßgeblich bestimmen und die Deutungshoheit erlangen. Wer in die Medien geht, hat die Meinungshoheit."

Vielleicht sollte man der Sensationsgier der Massenmedien wirksamere Gesetze entgegensetzen. Denn egal, wie das Gericht entscheidet, wissen es Tausende "bestinformierter" Hobbyrichter besser.

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Würde man Herrn Siepmanns Maßstäbe zugrunde legen, wäre ich hier in der Provinz in ca. 85% aller mir vorgelegten Akten befangen.

Hans-Otto Burschel schrieb:

Würde man Herrn Siepmanns Maßstäbe zugrunde legen, wäre ich hier in der Provinz in ca. 85% aller mir vorgelegten Akten befangen.

Ich wusste bisher nicht, dass es sich bei 85 % der Familienrichtern vorgelegten Fälle um schwere Vergewaltigungen handelt.

Sehr geehrter Herr Siepmann,

mit Verlaub, aber vielleicht sollten sie Ihrer Profession treu bleiben. So differenziert § 24 StPO nicht nach dem zu angeklagten Delikt, sondern normiert nur den Ausschluss des Richters bei der Besorgnis der Befangenheit.

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Recht herzlichen Dank für den Link.

Sehr interessant: Die Sonntagszeitung schreibt in dem von mir zitierten Artikel:

Richter Seidling sagt: «Ich kenne die Familie nicht. Es gibt keine Nähe zwischen uns.»

Die Schweitzunger Zeitung schreibt (http://www.morgenweb.de/region/schwetzingen/20100721_mmm0000000305799.html):

 "Das alles ist schlicht nicht wahr, ich habe weder Kontakt zum Vater noch zum Opfer gehabt, noch, wie es in der Sonntagszeitung behauptet wird, mit der weiteren Verwandtschaft der Familie. Im Gegenteil, ich kenne die Leute nicht einmal!"

Wo die Sonntagszeitung angeblich behauptet, Richter Seidling habe Kontakt zum Vater oder zur Verwandtschaft gehabt, ist nicht ersichtlich. Ich finde keine solche Textpassage. Es sieht so aus, als ob die Schwetzinger Zeitung der Sonntagszeitung die "Falschmeldungen" einfach unterschiebt, die sie dann beanstandet. Sollte sich das bestätigen, wäre das schon ziemlich demagogisch.

Interessant ist auch der folgende Satz:

Den Vorwurf, dass Oftersheim und Schwetzingen benachbarte Gemeinden seien und es so enge Beziehungen zwischen der Familie Seidling und der anderen Familie geben könne und Seidling somit befangen sei, nannten zwei Rechtsexperten gegenüber der deutschen Tageszeitung, «schlichtweg infam».

Die Sonntagszeitung schreibt nicht, dass Seidling befangen sei, sondern nur:

Die Konstellation ist heikel, denn im Zentrum der Gerichtsverhandlungen wird voraussichtlich die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Kachelmann und Simone B. stehen. Sie geniesst klaren Heimvorteil.

Sie wirft den Gemeinden im Übrigen nicht vor, benachbart zu sein.

"Dass die Sachverständige tatsächlich etwas zum Narzissmus von speziell Herrn Kachelmann  geäußert hat, erscheint mir fragwürdig, da eine Untersuchung des Beschuldigten insoweit nicht stattgefunden hat."

Bei diesem Satz muß ich wieder an den Fall Herrmann denken. Herr Herrmann wurde ja seinerzeit auch vom berühmt berüchtigten münchener Psychiater Hans-Jürgen Möller per fremdanamnetischer Ferndiagnose für verrückt erklärt. Nach Aussagen Möllers sei das in der Praxis gar nichts ungewöhnliches.

Zur Erinnerung hier der Beitrag der ZDF-Sendung "Hallo Deutschland":

http://www.youtube.com/user/Gedankenverbrecher84#p/u/34/90MvDT97R5Y

 

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Frau Greuel hatte meines Wissens gar keinen Auftrag, Herrn Kachelmanns psychischen Zustand zu begutachten bzw. darüber zu spekulieren. Wenn die von Focus wiedergegebenen Passagen tatsächlich im Gutachten stehen, dann sind sie nicht nur jenseits des Auftrags, sondern auch jenseits ihrer Sachkunde geäußert - in der Tat fragwürdig.

Soeben lese ich: Kachelmanns Haftbeschwerde war erfolgreich!

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