BVerfG: Strafgefangener hat auch nach Beendigung der Maßnahme berechtigtes Interesse an der Feststellung der gegen die Menschenwürde verstoßenden Haftraumunterbringung

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 02.08.2010

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem für die Strafrechtspraxis wichtigem Beschluss vom 15.07.2010 festgestellt, dass auch nach der Inhaftierung  ein Strafgefangener ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit von Strafvollzugsmaßnahmen haben kann (Az: 2 BvR 1023/08). Das Rechtsschutzinteresse bestehe dann, wenn die Feststellung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs (Verstoß gegen die Menschenwürde) begehrt werde, gegen den nach dem typischen Ablauf wirksamer Rechtsschutz nicht vor Erledigung erlangt werden könne. Dies sei bei einer kurzfristigen Unterbringung in einem Haftraum, der mit rassistischen Äußerungen beschmiert und mit Kot verdreckt ist, der Fall.

Sachverhalt

Der  Beschwerdeführer war im Zuge von Transporten als Strafgefangener zweimal kurzzeitig im "Transporthaus" einer niedersächsischen Strafvollzugsanstalt untergebracht. Nach der zweiten Unterbringung beantragte er u.a. die gerichtliche Feststellung, dass die zuständige Justizvollzugsanstalt durch die Anordnung seiner Unterbringung in dem Transporthaus seine Menschenwürde (Art. 1GG) verletzt habe. Die Haftraumwände seien mit Hakenkreuzen und - vom Beschwerdeführer in Beispielen wiedergegebenen - rassistischen, Gewalt androhenden Texten versehen gewesen. Außerdem habe sich Kot an den Wänden befunden. Schon bei der früheren Unterbringung seien die Wände in ähnlicher Weise - insbesondere mit antisemitischen Äußerungen rohster Art - beschmiert gewesen. Das Landgericht (LG) wies seinen Antrag mit der Begründung zurück, dass angesichts der Beendigung der Unterbringung der Beschwerdeführer kein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit mehr habe. Das Oberlandesgericht (OLG) verwarf die hiergegen erhobene Rechtsbeschwerde als unzulässig.

BVerfG: Rechtsschutzinteresse bleibt bei gewichtigem Grundrechtseingriff erhalten

Das BVerfG hat die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse aufgehoben, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Die Beschlüsse des LG und des OLG verletzten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das LG habe die verfassungsgerichtlichen Maßstäbe verkannt, die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG für das Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses ergäben: Ein Rechtsschutzinteresse für die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer erledigten Maßnahme bestehe unter anderem dann, wenn die Feststellung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs begehrt werde, gegen den nach dem typischen Ablauf wirksamer Rechtsschutz nicht vor Erledigung zu erlangen sei. Das Rechtsschutzinteresse sei zudem zu bejahen, wenn eine gegen die Menschenwürde verstoßende Haftraumunterbringung in Rede stehe.

Strafgefangene dürfen nicht grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen ausgesetzt werden

Die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderte Achtung der Würde, die jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen habe, allein aufgrund seines Personseins zukomme, verbiete es grundsätzlich, Gefangene grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen auszusetzen. Dies gelte auch insoweit, als die Unerträglichkeit der Verhältnisse im Haftraum durch Verhaltensweisen anderer Gefangener bedingt sei, und betreffe auch mit physischem oder verbalem Kot beschmierte Haftraumwände. Schutz vor solchen Widerwärtigkeiten, selbst strafbarer Art, mag, wie das Niedersächsische Justizministerium geltend mache, im Haftvollzug nicht ausnahmslos und unter allen Umständen erreichbar sein. Die Strafvollstreckungskammer habe jedoch im vorliegenden Fall nicht den geringsten Anlass zu der Annahme gehabt, dass staatlicherseits alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden seien, um den vom Beschwerdeführer dargestellten Verhältnissen entgegenzuwirken oder zu vermeiden, dass er ihnen ausgesetzt wurde. Die vom Beschwerdeführer geschilderten Zustände deuteten vielmehr auf das Gegenteil hin.

Verwerfung der Rechtsbeschwerde durch das OLG verstößt gegen effektiven Rechtsschutz

Die Entscheidung des OLG verstoße ebenfalls gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Die nicht weiter begründete Annahme, die Überprüfung des landgerichtlichen Beschlusses sei weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, sei nicht nachvollziehbar. Es hätten keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass das LG seine mit der Rechtsprechung des BVerfG unvereinbare Rechtsauffassung nicht auch künftigen Entscheidungen zugrunde legen werde.

 

 

 

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Eine weitere feine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Strafvollzugssachen, die - wie die meisten anderen Beschlüsse auf diesem Rechtsgebiet -  von den Strafvollstreckungskammern und Strafsenaten ignoriert werden wird. Es gibt kaum ein anderes Rechtsgebiet, wo Gesetzestext, verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und Praxis soweit auseinanderklaffen wie im Strafvollzugsrecht.

 

Die Haftanstalten haben es längst zur Kunst entwickelt, gerichtliche Entscheidungen unter Berufung auf die entgegenstehende ministerielle Erlaßlage, nicht umzusetzen, Die Normenpyramide wurde de facto einfach auf den Kopf gestellt. Und die Strafvollstreckungsgerichte nehmen es ganz überwiegend hin, da man die Rechtspolitik der Landesregierungen auf dem Gebiet des Strafvollzuges offenbar für unterstützenswert, die Rechtsprechung des BVerfG hingegen für rechts- und sozialromantischen Unsinn hält. § 31 Abs. 1 BVerfGG ist die bei Richtern unbekannteste Norm. Und wer sie kennt, ist kein Fan von ihr, da sie die richterliche Unabhängigkeit einschränkt.

 

Mitunter maßen sich Strafvollstreckungsgerichte sogar eine eigene Verwerfungskompetenz gegenüber dem BVerfG an. Kürzlich teilte mir ein Kammervorsitzender wie selbstverständlich mit, eine bestimmte Entscheidung des BVerfG könne er schon deshalb nicht umsetzen, da sie dem GVG und der richterlichen Unabhängigkeit widerspreche. Punkt. Was soll man tun? Zetern? Den fruchtlosen Weg zum OLG beschreiten? Strafanzeige wegen Rechtsbeugung erstatten, die postwendend mit dem Standardblocksatz der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen wird und einem zu unbeliebstenten Anwalt des Gerichtsbezirks macht?

 

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