EGMR schützt Whistleblower

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 21.07.2011

 

Der EGMR entwickelt sich – neben dem BAG und dem EuGH – immer mehr als ernstzunehmende Größe im Arbeitsrecht. Nach den Urteilen zur Kündigung von Kirchenmitarbeitern und zum Streik von Beamten befasst sich der EGMR in seinem neuesten Urteil (vom 21.7.2011, Beschwerdenummer 28274/08) mit dem auch im deutschen Arbeitsrecht kontrovers diskutierten Phänomen des „Whistleblowing“, also mit dem „Verpfeifen“ des Arbeitgebers durch einen seiner Arbeitnehmer. Das Urteil weist in eine klare Richtung: Die Straßburger Richter setzen sich für den Schutz solcher „Whistleblower“ ein. Im konkreten Fall hatte die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch ihren Arbeitgeber, den Klinikbetreiber Vivantes, des Betrugs beschuldigt. Vivantes habe zu wenig Personal und sei deshalb nicht in der Lage, die Bewohner eines Pflegeheims ausreichend zu versorgen. Teilweise, so die Vorwürfe der Pflegerin, hätten die Heimbewohner bis zum Mittag in Urin und Kot gelegen, zudem seien einige der älteren Menschen ohne richterlichen Beschluss in ihren Betten fixiert worden. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen die Klinikbetreiber ein. Dennoch hatte die Anzeige Folgen – und zwar für Frau Heinisch. Sie erhielt die fristlose Kündigung. Heinisch klagte, doch die deutschen Gerichte bestätigten die Entlassung – wegen Verletzung von Loyalitätspflichten gegenüber dem Arbeitgeber, dem Pflegeheim. Ganz anders nun der EGMR. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte keinen angemessenen Ausgleich herbeigeführt hätten zwischen der Notwendigkeit, den Ruf des Arbeitgebers zu schützen, und derjenigen, Frau Heinischs Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung zu schützen. Folglich liege eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor. Gemäß Art. 41 EMRK entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Frau Heinisch 10.000 Euro für den erlittenen Schaden und 5.000 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat. Es handelt sich um ein Kammerurteil, das nicht sofort mit Verkündung rechtskräftig wird, sondern ggf. noch vor die Große Kammer gebracht werden kann. 

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