"Klassiker des Verkehrsrechts": Die vorsätzliche Trunkenheitsfahrt - AG Rheine NJW 1995, 894

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 07.08.2011

Vorsatz oder Fahrlässigkeit - irgendwie wird dieser Kampf wohl immer ausgefochten. Hier ein Klassiker zu dem Thema (AG Rheine, NJW 1995, 894):

Der Angekl., ein Berufssoldat, befuhr am 24. 10. 1993 nach erheblichem Alkoholgenuß mit seinem Pkw in H. die L.-Str. in Richtung R. Seine Geschwindigkeit betrug, obwohl auf dieser Straße keine besondere Geschwindigkeitsbeschränkung gilt, nur etwa 50 km/h. Der in gleicher Richtung fahrende Zeuge M schloß auf das Fahrzeug des Angekl. auf und beabsichtigte, dieses zu überholen. Davon nahm er jedoch Abstand, weil kurz vor dem Angekl. ganz am rechten Fahrbahnrand ein Radfahrer, nämlich der später Verletzte L fuhr. Anstatt, wie der Zeuge erwartet hatte, einen Schlenker nach links zu machen, erfolgte durch den Angekl., als sich dieser etwa auf der Höhe des Radfahrers befand, ein Schlenker nach rechts, in dessen Folge der Jugendliche vom Pkw des Angekl. erfaßt, zunächst auf die Motorhaube und gegen die Windschutzscheibe, die dabei zerbarst, und dann auf das Wagendach geschleudert wurde. Der Zeuge L fiel sodann vom Dach herunter und blieb auf dem unbefestigten Seitenstreifen liegen. Der Angekl. hatte sein Fahrzeug nach dem Zusammenprall wieder in die vorige Fahrtrichtung gebracht und fuhr, ohne überhaupt die Bremse betätigt zu haben, in Richtung R. weiter, während der Zeuge M seinen Pkw durch eine Vollbremsung zum Stehen brachte, um sich um den Verletzten und darum zu kümmern, daß Polizei und Krankenwagen verständigt wurden. Kurze Zeit später näherte sich der Wagen des Angekl. wieder der Unfallstelle, ohne jedoch an ihr zu halten. Der Zeuge M schrie den Fahrer während des Vorbeifahrens an, anzuhalten, eine Aufforderung, die jedoch zunächst wirkungslos blieb. Erst etwa fünfzig Meter hinter der Unfallstelle brachte der Angekl. seinen Pkw zum Stehen. Er stieg aus, kümmerte sich aber nicht etwa um die Folgen seines Tuns, sondern wurde von Zuschauern, unter denen sich ersichtlich Bekannte befanden, in Empfang genommen und nach seinem Wohlergehen befragt. Während die Bekannten des Angekl. sich anboten, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, schaltete sich der hinzugekommene Zeuge M ein und erklärte ganz eindeutig, der Angekl. habe gefälligst an der Unfallstelle zu verbleiben. Dies scheint der Angekl. ursprünglich auch beabsichtigt zu haben, denn er lehnte die Verbringung ins Krankenhaus selbst ab, da ihm nichts fehle. Nachdem nun der Zeuge M sein Augenmerk wieder dem Unfallopfer zugewandt hatte und der jetzt eingetroffenen Polizei erklärte, wo sich der Fahrer befände, stellte man gemeinsam fest, daß der Wagen des Angekl. leer, dieser selbst aber verschwunden war. Durch andere Zeugen darauf hingewiesen, wohin sich dieser entfernt hätte, suchte der Zeuge B die Gegend ab und entdeckte den kaum sichtbaren Angekl. etwa 1 km von der Unfallstelle in einer Vertiefung einer Wallhecke, wo er sich versteckt und, ganz mit seinem Parka zugedeckt, platt auf die Erde gedrückt hatte. Da er offensichtlich deutlich unter dem Einfluß alkoholischer Getränke stand, veranlaßte die Polizei auf Anweisung der StA Münster die Entnahme zweier Blutproben, die um 15.28 Uhr und um 16.08 Uhr gezogen, Blutalkoholwerte von 1,82 und 1,73 Promille ergaben. Während der Zeuge M den Eindruck gewonnen hatte, der Angekl. sei “nicht ganz da”, beschreibt der Polizeibeamte B den Angekl. als “bedingt ansprechbar und sehr betrunken”, wohingegen der die Blutprobe entnehmende Arzt H lediglich als “leicht” unter Alkoholeinfluß stehend beschrieb. Sowohl die Finger-Finger als auch die Nasen-Finger-Probe wurden als sicher eingestuft, während der Denkablauf als geordnet, das Bewußtsein als klar und die Sprache als deutlich beschrieben wurden. Der Verletzte mußte mit dem Rettungshubschrauber in ein Spezialkrankenhaus in Osnabrück verlegt werden, wo ihm die Milz entfernt wurde. Die stationäre Behandlung konnte am 10. 11. 1993 abgeschlossen werden, doch  

zeigen sich Folgeerscheinungen, die, zumindest teilweise, lebenslänglich anhalten werden: So ist der Minderjährige auf unabsehbare Zeit gehalten, eine bestimmte Diät einzuhalten; er neigt bei starker Konzentrationsschwäche, die einen weiteren Schulbesuch ausschließt, zu erheblichen Depressionen und ist zur Zeit verurteilt, “nichts” zu tun.

Der Angekl. wurde wegen vorsätzlicher Trunkenheitsfahrt verurteilt. 

Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angekl. gem. §§ STGB § 315c STGB § 315C Absatz I Ziff. 1a, 223, 230, 142, STGB § 316, STGB § 52, STGB § 53 StGB strafbar gemacht: Er hat im Straßenverkehr ein Fahrzeug geführt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen, und er hat dadurch - fahrlässig - Leib und Leben des Zeugen B nicht nur gefährdet, sondern diesen körperlich mißhandelt und an der Gesundheit beschädigt. Durch eine weitere selbständige Handlung hat er sich als Unfallbeteiligter nach einem Unfall im Straßenverkehr vom Unfallort entfernt, bevor er zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und des Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, daß er an dem Unfall beteiligt war, ermöglicht hatte. Tateinheitlich hat er im Straßenverkehr ein Fahrzeug geführt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen.

Der Angekl. handelte insbesondere bei der Gefährdung des Straßenverkehrs vorsätzlich, denn er kannte alle Tatbestandsmerkmale und wollte sie verwirklichen: Er wußte, daß er ein motorisiertes Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr führte, ohne daß dies einer näheren Begründung bedürfte, denn: Aus der Bekundung des Zeugen M, der direkt hinter dem Angekl. fuhr und bis zum Unfall keinerlei Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler bemerkt hatte, bis dieser dann den später Verletzten förmlich “aufs Korn” nahm, kann zweifelsfrei gefolgert werden, daß er, wenn auch nur grosso modo, das Fahrzeug beherrschte und also sich über diesen Umstand nicht im Unklaren gewesen sein kann. Das einzige nämlich, was dem Zeugen auffiel, war, daß der Angekl. verhältnismäßig langsam fuhr, was erfahrungsgemäß darauf schließen läßt, daß er sich seines Zustandes sehr wohl bewußt war, so daß er sich veranlaßt sah, besonders vorsichtig zu fahren.

Da sich aus dem ärztlichen Blutentnahmebericht ergibt, daß der Angekl. bei klarem Bewußtsein voll orientiert war, darf auch eine Totalamnesie ausgeschlossen werden, so daß er auch nicht vergessen haben kann, zuvor getrunken zu haben. Diesem Befund stehen die Aussagen M und L nicht entgegen, denn erfahrungsgemäß ist ein Betroffener, bei dem eine solche Blutalkoholkonzentration gemessen wird, zumal dann, wenn er unmittelbar zuvor einen schweren Unfall verursacht hat, “nicht ganz da”, weil er das typische Bild eines stark Alkoholisierten abgibt. Aus der Tatsache, daß der Angekl. mit zerborstener Windschutzscheibe zunächst zurückkehrte, das Anerbieten, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, ablehnte und sich dann veranlaßt sah, urplötzlich zu verschwinden und sich zu verstecken, deutet so eindeutig auf ein trotz der Trunkenheit ungetrübtes Gedächtnis hin, daß feststeht, daß der Angekl. durchaus wußte, was er angerichtet hatte.

Die obergerichtliche Rechtsprechung nimmt in vergleichbaren Fällen an, nur wegen Fahrlässigkeit verurteilen zu können, weil die subjektive Seite nicht weiter aufzuklären sei, was jedoch einen erheblichen rechtsdogmatischen Fehler darstellt, weil die Frage der trunkenheitsbedingten Kritiklosigkeit in den Bereich der möglicherweise eingeschränkten Schuldfähigkeit gehört; doch dazu später. Diese Rechtsprechung verblüfft den praktischen Zeitgenossen, weil sie in offenbarem Widerspruch zur täglichen Erfahrung steht. Fahrlässig zu handeln ist in all diesen Fällen nämlich so gut wie ausgeschlossen, denn Fahrlässigkeit kann nur vorliegen, wenn die im Verkehr mögliche und erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen wird. Weniger juristisch-formelhaft formuliert ließe sich dies auch so ausdrücken: je vorhersehbarer ein Ergebnis ist, desto stärkere Argumente müssen gefunden werden, das mit völliger Sicherheit sich Ereignende nicht erkannt zu haben. Je sicherer ein Ursache-Wirkung-Nexus ist, desto höhere Anforderungen müssen gestellt werden, wenn in concreto zugunsten dessen, der einen bestimmten Erfolg verwirklicht hat, angenommen werden soll, er habe die sichere Folge seines Tuns nur irrig nicht erkannt. Weniger intelligenten Menschen versucht man komplexe Theorien dadurch zu vermitteln, daß sie in Einzelschritte aufgelöst werden, damit sie von ihnen in ihrer konkreten Lebenserfahrung wiedergefunden werden können, indem man diese Theorien auf “Wenn-Dann-Beziehungen” reduziert: “Wenn Alkohol - dann Rausch” bzw. “Wenn viel Alkohol - dann starker Rausch".

Daß der Mensch auf diese Weise die Wirklichkeit erfassen kann, ist gesichert und darf und muß deshalb auch auf die Erfahrungen mit dem Alkohol übertragen werden. Niemand kann behaupten, diese Zusammenhänge seien ihm fremd, denn dies belegt der alltägliche Augenschein: es wird allenthalben getrunken, viel getrunken, ja “gesoffen”, so daß ausgeschlossen werden kann, daß es - zumindest unter Erwachsenen - jemanden geben könnte, der, an sich selbst oder anderen, diese Erfahrungen nicht gesammelt und die Richtigkeit der o.a. Ursache-Wirkung-Verknüpfung nicht belegt gefunden hätte.

Daß dies so ist, wird durch einen Blick unter anderem in die Literatur deutlich, und so lohnt es sich, sozusagen in “Siebenmeilenstiefeln” eine tour d'horizon durch die Welt des Rausches anzutreten oder eine - wenn auch sehr kursorische - “Kulturgeschichte des Rausches” zu versuchen. Ethnologen und Historiker berichten davon, daß der Mensch, nachdem er die ärgsten Widrigkeiten des Lebens bewältigt und die nackte Notdurft befriedigt hat, der Tristesse des Alltagslebens dadurch zu entfliehen gesucht hat, daß er sich mehr oder minder starke Rauschzustände ermöglicht hat, und, nachdem er diese Erfahrungen einmal gemacht hatte, danach strebte, diese - vorsätzlich - zu wiederholen. So verwundert es nicht daß Noah (1. Mose 9, 20f.), kaum daß er die Molesten der Sintflut hinter sich gebracht hatte, “Ackermann wurde und Weinberge pflanzte", sein Produkt genoß und sich sinnlos betrank, mit wenig schicklichen Folgen, die hier der Erörterung nicht bedürfen. Nun schweigt sich die Schrift darüber aus, ob und wie oft Noah und seine Nachkommen das Ergebnis ihrer Arbeit konsumierten, aber so ganz selten dürfte es nicht gewesen sein, denn die mit dem Alkohol gemachten Erfahrungen scheinen sich verfestigt zu haben: Die Geschichte Josephs, eines unmittelbaren Nachkommen Noahs (1. Mose, 30, 23 - 50,26), von der schon Goethe gemeint hatte, sie sei im Alten Testament ein wenig mager ausgefallen, weshalb sie zur literarischen Ausgestaltung geradezuauffordere, ist bekanntermaßen von Thomas Mann so kongenial ausformuliert worden, daß wir sie wie eine authentische Quelle be

nutzen dürfen. Dort heißt es (Der junge Joseph): “Öl und Wein sind der Sonne heilig und wohl dem, dessen Stirn vom Öle trieft und dessen Augen trunken schimmern vom roten Wein." Später dann ( Joseph in Ägypten): “Am Abend schwamm die Großstadt in Sorglosigkeit und bierseligem Glauben an das goldene Zeitalter. Die göttliche Schleppmanschaft zog bekränzt, mit Öl gesalbt und schwer betrunken durch die Straßen und durfte so ziemlich alles anstellen, was sie wollte." “Bierselige Sorglosigkeit": treffender kann auch ein Jurist den Kern der eingeschränkten Schuldfähigkeit i.S. des § STGB § 21 StGB (und nicht etwa die Irrtumsregelungen) nicht wiedergeben und damit ist auch präzise der Zustand beschrieben, in dem sich angetrunkene Autofahrer befinden, mit dem Unterschied nur, daß sie eben nicht anstellen dürfen, was sie wollen.

Um sich nicht in der Fülle der möglichen Zitate zu verlieren, verlassen wir die Welt des alten Testaments und begeben uns auf die Hochzeit zu Kana (Joh. 2, 1f.), auf der wir eine offenkundig ziemlich betrunkene Gesellschaft antreffen, denn als das zu Wein verwandelte Wasser gereicht wurde, beschwerte sich der Speisemeister beim Bräutigam, weil: “Jedermann gibt zum ersten guten Wein, und (erst) wenn sie trunken geworden sind, alsdann den geringeren ..." Und schließlich können sich die die Folgen des Pfingstereignisses beobachtenden Pilger in Jerusalem das sich ihnen darbietende Schauspiel nicht anders erklären, als daß die Apostel “voll des süßen Weins” seien (Apg. 2, 13).

Um eine Zwischenbilanz zu ziehen und den Zweck dieser Darstellung nicht zu vergessen: alle hier handelnden Personen kannten selbstverständlich die Wirkung des Alkohols und wollten sie erreichen, so daß sich die Frage an sich von selbst verbietet, ob sie denn die dann eingetretene Trunkenheit nur fahrlässig nicht erkannt haben sollten.

Auch die klassische griechische Literatur läßt uns teilhaben an den wohltuenden Wirkungen leiblicher Genüsse. So wurde am Hofe des Odysseus (wenn auch hauptsächlich in seiner Abwesenheit) - man muß es schon sagen - so derbe “gesoffen”, daß man sich wundern muß, daß Generationen von Pennälern solche Texte überhaupt übersetzen durften. Man hätte vielleicht besser daran getan, zarte pubertäre Schülerseelen, die doch gerade in dieser Zeit des Maßes und der Orientierung bedürfen, vor soviel prallem Leben zu bewahren.

Wenn es zugeht “wie im alten Rom”, ist damit beispielhaft das Leben am Hofe Neros gemeint. Dort hatte nämlich der erhebliche Genuß des in Mengen hergestellten Weins eine nicht unbedeutende und den Niedergang Roms deutlich beschleunigende Wirkung gezeigt. In dieser Zeit - etwa - lagen dem Vernehmen nach die Germanen am Rhein und tranken Met, weshalb sie hinterher nur noch lagen.

Fahrende Scholaren (und später Studenten) waren ihrer Umgebung schon früh lästig gefallen, weil die Folgen übermäßigen Alkoholgenusses nicht von allen Mitbürgern goutiert wurden, wie denn auch überhaupt das Mittelalter eine Vielzahl von Polizeiverordnungen hervorgebracht hat, die den Mißbrauch des Alkohols zu steuern suchten, im Ergebnis erfolglos, denn in einem der Lieder der “Carmina Burana" aus dem 13. Jahrhundert wird schon aufgezählt:

  • “Es säuft die Herrin, säuft der Herr,

  • es säuft der Ritter, säuft der Pfaffe,...

  • Es säuft die Ahne, säuft die Mutter,

  • saufet diese, saufet dieser,

  • saufen hundert, saufen tausend."

In besonders reiner Form hatte (oder hat?) sich diese schöne Übung in deutschen Studentenverbindungen gehalten, wie uns sehr anschaulich Heinrich Mann in “Der Untertan” zu berichten weiß. Das Gericht, eher behütet aufgewachsen, erinnert sich noch der etwas verstörten Verblüffung, als es, noch als Schüler, das erste Mal das “Haus” einer Verbindung besuchte und dort als wichtigen Teil der sanitären Einrichtung ein “Spuckbecken” entdeckte, das offenbar für notwendig erachtet wurde, womit die These dieses Gerichts augenfällig belegt wird: wer ordentlich trinkt, wird ordentlich betrunken und trifft Vorkehrungen für den Fall, daß der Magen gewisse Abstoßungserscheinungen zeigt: ergo bibamus!

Zurück zur Literatur: das “Decamerone” Boccaccios liefert eine Vielzahl von (allseits bekannten und deshalb gezielt eingesetzten) Auswirkungen des Alkoholgenusses, die zu höchst amüsanten Verwicklungen führen, und auch in Shakespeares Dramen torkelt - zur Erheiterung des Publikums - öfter mal eine volltrunkene Charge über die Bühne. Da die Shakespeare'schen Werke häufig in Innenhöfen von Gasthöfen gegeben wurden, ist der Schluß nicht ganz fernliegend, daß das Publikum im durchaus trinkfreudigen elisabethanischen England sich während des Theaterbesuchs zumindest in der Nähe der 0,8 Promillegrenze bewegt haben dürfte. Das, was Shakespeare zur Erbauung des Publikums benutzte, kehrt - sehr ernst - wieder in der sozialkritischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zum Beispiel Dickens, der immer wieder Trunkenbolde und liederliche angetrunkene Frauenzimmer auftreten läßt, um die Auswirkungen des Alkohols zu geißeln, aber auch sehr deutlich macht, warum so gerne und zuviel getrunken wird, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Die deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts hält sich dagegen eher in den Höhen als in den Abgründen menschlichen Lebens auf, nicht zuletzt, weil, wie Goethe einmal in seiner “Italienischen Reise" anmerkt, es Dinge gäbe, über die man zwar sprechen, schicklicherweise aber nicht schreiben sollte. Ganz trocken spielte sich das Leben gleichwohl nicht ab, wie ein Blick in die klassische Literatur zeigt, den wir uns hier aber, um die Darstellung nicht ausufern zu lassen, schenken müssen.

Stellvertretend für vieles: Bei Soldaten - der Angekl. ist Soldat - geht es häufig nicht so zu, wie es sich für ein Mädchenpensionat schicken würde, was wir der “Kapuziner-Predigt”, die zum Selbststudium empfohlen wird, in “Wallensteins Lager" ( Schiller, 1. Akt, 8. Auftritt) mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen können.

Während sich also die deutsche Literatur eher mit Andeutungen zufrieden gab, kannte die französische diese Zurückhaltung nur eingeschränkt, während die russischen Romane dieser Zeit geradezu durch Heere von Säufern bevölkert wurden und auch die, die nicht im eigentlichen Sinne dem Trunke ergeben waren, konnten erhebliche Mengen Alkohol ohne allzu große Ausfälle in sich hineinschütten. Im Laufe der Jahre hat sich dies aber offenkundig zu einem derart massiven sozioökonomischen Problem entwickelt, daß Michael Gorbatschow noch 1985 meinte, man könne dem siechen Sozialismus durch ein allgemeines Wodkaverbot wieder auf die Beine helfen; er irrte!

Um es abzukürzen: es hört nicht auf, es wird im wirklichen Leben wie in der Literatur als dessen Spiegel gern und oft getrunken: Mark Twain berichtet in seinen Memoiren von den ungeheuren Mengen Whisky, die sein Schriftstellerkollege Brett Harte benötigte, um die richtige Betriebstemperatur zu erreichen; Marcel Proust trinkt, “um dadurch in einen ... als 'euphorisch' bezeichneten Zustand zu geraten, in welchem das Nervensystem vorübergehend weniger verletzlich sei ... ("Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”). Conrad Castiletz macht die Erfahrung: “Mit dem Geist ist es wie mit dem Weintrinken: eine neue, aber nicht ganz ungefährliche Quelle des Lebens”, um kurz danach festzustellen, “daß er nun einen Rausch habe” (Heimito v. Doderer, “Ein Mord, den jeder begeht"). Hermann Hesse läßt Harry Haller “die herbsüße, wunderlich unbekannt schmeckende Flüssigkeit, die in der Tat unendlich belebend und beglückend wirkte, als werde man mit Gas gefüllt und verliere seine Schwere” trinken ("Der Steppenwolf”), während bei Martin Walser Helmut Halm den teuersten Spätburgunder genießt, um in einer “schönen düsteren Schwere zu versinken” ("Das fliehende Pferd"). Viktor Kösling, in der Alkoholaufnahme durchaus nicht unerfahren, verleibt sich dermaßen viel Grog ein, daß anschließend “seine Glieder mit ihm machen, was sie wollen” (Günther de Bruyn, “Neue Herrlichkeit”). Eine gleiche Erfahrung macht John Franklin, der Rum trinkt, “um sich für einige brauchbare und zuversichtliche Gedanken bereitzuhalten”, der aber nur erreicht, daß der “Rum in die Beine ging” (Sten Nadolny, “Die Entdeckung der Langsamkeit”), was von Ärzten in den Blutentnahmeberichten eher spröde mit “Gang: unsicher” beschrieben wird. Auf die “Bewußtseinserweiterungen” durch Drogen oder “dem Recht auf Rausch”, so das LG Lübeck in seinem Vorlagebeschluß an das BVerfG, soll hier, wie auf die mißglückte amerikanische Prohibition nur hingewiesen werden.

Alle Religionen der Welt haben sich mit übermäßigen leiblichen Genüssen, zu denen der Mensch neigt, schwer getan und Askese gepredigt, weshalb der Prophet Mohammed den Alkohol denn auch verboten hat. Allein, es liegt in der Natur des Menschen, der “sündhaft ist von Jugend auf”, daß er schwach wird 

 und die ihm auferlegten Gebote bricht. So gelingt es Pedrillo in Mozarts “Die Entführung aus dem Serail”, den Muslim Osmin zu verführen, verbotswidrig Zypernwein zu trinken, um ihn, wie schon König David den Urias, durch Alkohol außer Gefecht zu setzen. (2. Aufzug, 7. Auftritt).

  • Osmin: “Ob ichs wage? Ob ichs trinke?

  • Obs wohl Allah sehen kann?"

  • Pedrillo: “Hör Du, Alter: trink nicht zuviel;

  • es kommt einem in den Kopf."

  • Osmin: “Trag doch keine Sorge,

  • ich bin ... so ... so nüchtern wie möglich."

Wein hat bekanntermaßen nicht nur benebelnde, sondern auch stimulierende Wirkung, wie Scheherazade dem “größten König aller Zeiten" berichtet, denn Ala ed Din, der mit der Wunderlampe, trinkt gemeinsam mit seiner Frau “bis die Sonne des Weins in ihren Köpfen schien”, was trotz des eindeutigen Alkoholverbots in den “Märchen aus 1001 Nächten” als “löbliches Tun” geschildert wird. Was dann folgte, war, um dem sich hier aufdrängenden Kalauer nicht ganz auszuweichen, jedenfalls nicht die Teilname am Straßenverkehr.

Das Gericht, durchaus kein Kostverächter, will hier nicht als Temperenzler erscheinen, sondern zum einen deutlich machen, daß es ein durchgängiges Wissen von Alkoholaufnahme und dessen Wirkungen gibt und zum anderen dafür streiten, daß bewußte Alkoholaufnahme und Teilnahme am Straßenverkehr nicht camouflierend als Fahrlässigkeit eingestuft und daß dadurch nicht die Verantwortlichkeit eskamotiert werden darf.

Zum Schluß dieses Teils noch ein Ausflug in die Welt der Musik: Daß “Wein, Weib und Gesang” in ein sehr enges Verhältnis zueinander getreten sind, gehört zum gesicherten Bestand des “Volksvermögens”. Ganze (Kommers)Bücher enthalten fast ausschließlich Trinklieder, wenn auch die wenigsten Trinker es so weit treiben werden wie Orlando di Lasso, der in einem seiner Madrigale bekannte, es sei sein “größter Wunsch, in der Kneipe zu sterben”. Wohl aber ist bekannt, daß die Kenntnis der Umdichtung des Gefangenenchores aus Verdis Oper “Nabucco” ("Ja, wir wollen noch einen heben ...) geradezu Zugangsvoraussetzung zu Veranstaltungen feucht-fröhlichen Charakters ist.

Wenn nun also auch deutlich geworden sein dürfte, daß der Ursache-Wirkung-Zusammenhang zwischen Alkoholaufnahme und Trunkenheit allgemein und damit auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diesem Angekl. bekannt ist (und auch schon bei seiner Fahrt war), so soll noch kurz darauf eingegangen werden, warum der Mensch trinkt: wenn wir die Summe ziehen, liegt die Motivation des Trinkenden darin, den euphorischen Zustand herbeizuführen, der die Begrenztheit der menschlichen Existenz und ihrer Möglichkeiten aufzuheben scheint, der ihn erleichtert, beflügelt, die Stimmung hebt und die Zunge lockert. Es soll ein Zustand erreicht werden, der den “Mühseligen und Beladenen” eben diese Molesten vergessen oder leichter ertragen läßt, und so äußert Wilhelm Busch in “Die fromme Helene" nur einen Satz allgemeinen Wissens:

  • “Es ist ein Brauch von Alters her,

  • wer Sorgen hat, hat auch Likör”

Was Goethe, der deutsche Dichterfürst weit erhabener so formuliert hat:

  • “Ich grüße dich, du einzige Phiole,.....

  • du Inbegriff der holden Schlummersäfte, .....

  • Ich sehe Dich: es wird der Schmerz gelindert,

  • Ich fasse Dich: das Streben wird gemindert.....

  • des Trinkers Pflicht, sie reimweis' zu erklären,

  • auf einen Zug die Höhlung auszuleeren,

  • erinnert mich an manche Jugendnacht. .....

  • Hier ist ein Saft, der eilig trunken macht."

  • (Faust I, Nacht)

Der “Saft, der eilig trunken macht”, wird getrunken, um dieses Ergebnis mehr oder weniger ausgeprägt zu erzielen. Das Gericht ist nicht so ganz imstande, dem BVerfG zuzustimmen, das bei der Alkoholaufnahme, anders als beim Haschischrauchen, der Erreichung des Rauschzustandes eine nicht im Vordergrund stehende Bedeutung beimißt; statistisch scheinen die Erfahrungen eher das Gegenteil zu belegen, wenn man mitbedenkt, daß zwischen dem alkoholbedingten Wohlbefinden über den “Schwips” bis zum absoluten Vollrausch mindestens eine ganze Welt liegt.

Zwar ist bekannt, daß erworbene Fähigkeiten nicht vererbt werden können, doch zeigen die Beispiele, daß es Konstanten in der menschlichen Erfahrung gibt, die allgemein und allgemein bekannt sind, weshalb die obergerichtliche Rechtsprechung sich diesem Gericht nicht erschließt, denn es gibt tatsächlich von jedem erkannte Erfahrungssätze über den Zusammenhang von Alkoholaufnahme und seiner Wirkung.

Ist nunmehr die Frage geklärt, daß der Mensch (mit hier nicht interessierenden, zu vernachlässigenden Ausnahmen) also die Wirkungen des Alkoholgenusses kennt, und ist auch geklärt, warum der Mensch trinkt und welchen Zustand er dadurch erreichen will, so ergibt sich für die rechtliche Einordnung:

1. Wer trinkt, um einen bestimmten Zustand zu erreichen, der irrt sich nicht, wenn er sein Ziel erreicht hat.

2. Wer nicht trinkt, um einen bestimmten Zustand zu erreichen, weiß doch gleichwohl, daß er diesen Zustand - notwendig - erreichen muß, wenn er bestimmte Mengen Alkohol konsumiert hat, ohne daß es darauf ankäme, daß er die Trinkmenge exakt erinnert. Er kann daher - prinzipiell - nicht fahrlässig handeln, weil dem Menschen der Zusammenhang, die “Wenn-Dann-Beziehung” nicht nur von Anfang der Menschheit, sondern auch von seinen frühesten Kindertagen zumindest durch die Beobachtung trinkender Erwachsener, später durch eigenes Tun, bekannt ist, denn:

  • “Doch siehe da, im trauten Kreis

  • sitzt Jüngling, Mann und Jubelgreis,

  • und jeder hebt an seinen Mund

  • ein Hohlgefäß, was meistens rund,

  • um draus in ziemlich kurzer Zeit

  • die drin enthaltene Flüssigkeit

  • mit Lust und freudigem Bemüh'n

  • zu saugen und herauszuziehen.

  • Weil jeder dies mit Eifer tut,

  • so sieht man wohl, es tut ihm gut.

  • Man setzt sich auch zu diesen Herrn,

  • man tut es häufig, tut es gern,

  • und möglichst lange tut man's auch ...

  • (Wilhelm Busch, “Die Haarbeutel”, Einleitung)

Obwohl also die rechtliche Einordnung auf der Hand liegt, neigen die Obergerichte dazu, sie gleichwohl von der Schuldfähigkeit (§§ STGB § 20, STGB § 21 StGB) in den Bereich der Schuldformen zu verschieben, weil es “keinen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, daß ein Kraftfahrer ab einer bestimmten BAK seine Fahruntüchtigkeit erkennt" (so in Übereinstimmung mit der fast einhelligen Rechtsprechung deutscher Oberlandesgerichte, z.B. OLG Zweibrücken, NVZ 1993, S. 241). Diese Begründung ist den Verurteilten gegenüber nicht gerade schmeichelhaft, denn sie besagt, wenn auch nicht ausformuliert: “Du bist so dumm, daß Du noch nicht einmal weißt, daß man durch den Genuß von Alkohol betrunken und fahruntüchtig wird”, wobei es auf eine “bestimmten BAK” überhaupt nicht ankommt.

Dabei irritiert, daß diese Bewertung ganz unterschiedslos vorgenommen wird und nicht differenziert wird nach Ausfallerscheinungen und sonstigen deutlichen Indizien für äußerlich erkennbare Trunkenheitsgrade: Dem OLG Koblenz reichen für eine andere Beurteilung weder ausgedehnte Schlangenlinien noch eine verwaschene Sprache (Blutalkohol 1994, 48 f.), das OLG Zweibrücken läßt sich von dem äußeren Eindruck, den ein Angekl. auf Außenstehende machte, nicht beeindrucken, weil man schließlich nicht wissen könne, ob er selbst auch diesen Eindruck von sich hatte (NJW 1993, NJW Jahr 1993 Seite 240f.), während das OLG Düsseldorf auch einen äußerlich nicht merkbar unter Einfluß Stehenden derart privilegiert (Blutalkohol 1994, 53 f.). Das OLG Karlsruhe dagegen ficht es nicht an, ob jemand mit seinem Pkw zum Zwecke des Weintrinkens in eine Straußenwirtschaft fährt, dort ca. 1,6 l Rotwein trinkt, auf diese Weise einen Blutalkoholgrad von 2,67 Promille erreicht und dann, versteht sich, fahrlässig betrunken nach Hause fährt (NJW 1993, NJW Jahr 1993 Seite 117 f.). Das LG Münster schließlich meinte in einem vor etwa einem Jahr entschiedenen Fall, sich nicht zur Bejahung des Vorsatzes durchringen zu können, in dem ein mit der ehrenamtlichen Betreuung alkoholkranker Beamter eines Landschaftsverbandes beauftragter Amtmann seine Autofahrt unterbrach, eine halbe Flasche Jägermeister (0,375 l = 

knapp 18 “Pinneken”) vollständig leerte und dann seine Fahrt fortsetzte.

Das Gericht, in erkennbarer Übereinstimmung mit einer Vielzahl anderer Erstgerichte, meint dargelegt zu haben, daß das Gegenteil sich geradezu aufdrängt! Da man ja bekanntermaßen für Geld fast alles tut, nehmen die so qualifizierten Angeklagten, immerhin Mitglieder einer Gesellschaft mündiger Bürger, auch dieses hin, ja, freuen sich sogar darüber, weil damit in der Regel eine Verringerung des Strafmaßes, die Übernahme der Verteidigerkosten durch die Rechtsschutzversicherung und ggf. eine Besserstellung bei einer eventuellen Schadensregulierung einhergehen.

Der Kunstgriff dieser Verschiebung gelingt, weil man “fragwürdige Erfahrungssätze” medizinischer Sachverständiger ( Salger, DRiZ 1993, DRIZ Jahr 1993 Seite 311ff.) zu Hilfe nimmt. Diese werden apodiktisch behauptet, ohne daß es notwendig erscheint, sie zu begründen, und wenn überhaupt argumentiert wird, dann erweisen sich die angezogenen Begründungsformeln in der Regel als Pseudoargumente, die einer näheren Überprüfung im Lichte der Lebenswirklichkeit, an der mittlerweile auch Richter teilnehmen (sollten), nicht standhalten. Die vermeintlichen Erfahrungs- bzw. Nichterfahrungssätze aus der Medizin werden dann kritiklos übernommen und so eingeordnet, wie die medizinischen Sachverständigen meinen, daß es zu geschehen habe, obwohl es genuine Aufgabe des entscheidenden Richters ist, diesen ihren richtigen Platz zukommen zu lassen.

Juristen sind an dieser Stelle an Kants Aufforderung zu erinnern. “Sapere aude!": Habe den Mut, Deinen (gesunden und juristisch geschulten Menschen-)Verstand zu gebrauchen, der nämlich zu den richtigen, allgemein verständlichen und verstandenen Denkergebnissen führen wird: Wer deutlich angetrunken ist, weiß dies (mit ganz wenigen, nur im Einzelfall Bedeutung erlangenden Ausnahmen), er verkennt nicht etwa fahrlässig, nicht fahren zu können, sondern er überschätzt sich und meint fahren zu dürfen. Dabei kommt es regelmäßig gar nicht darauf an, ob sich ein Trunkenheitstäter tatsächlich angetrunken fühlt (obwohl bekannt ist, daß ein normaler “Trinker” bei etwa 1,6 Promille schon das Vollbild eines stark Angetrunkenen abgibt und der VGH Mannheim (10 S 1568/92) davon ausgeht, daß jemand, der solche Mengen Alkohol ohne massive Ausfallerscheinungen überstehen könne, als Alkoholiker eingestuft werden dürfe), sondern es reicht völlig aus, daß er weiß, nicht unerheblich getrunken zu haben (so auch Salger, DRiZ 1993, DRIZ Jahr 1993 Seite 311). Dies kann aber ein Autofahrer mit erheblicher Alkoholkonzentration schwerlich vergessen oder verdrängt haben, es sei denn, sehr theoretisch, er sei sinnlos betrunken, was nicht zur Fahrlässigkeit, sondern zur Bestrafung wegen vorsätzlicher Rauschtat gem. § STGB § 323a StGB führt.

Der Gesetzgeber ist, wie die gesetzlichen Formulierungen unschwer ergeben, vom Vorsatz als Regelfall ausgegangen. Die Rechtsprechung dreht aber diese Regel um, denn es ist diesem Gericht in keinem Fall seiner Praxis gelungen, von seiner Berufungskammer nicht in Fahrlässigkeit abgeändert zu werden. Dabei ist das Begründungsmuster in allen obergerichtlichen Entscheidungen, die sich stets selbst oder wechselweise zitieren, prinzipiell gleich: Es habe an Hand der objektiven Merkmale nicht festgestellt werden können, daß an die Möglichkeit der Fahruntüchtigkeit gedacht und daß diese auch tatsächlich erkannt worden sei. Beispielhaft dazu das LG Münster:

“Bewußt in Kauf nehmen kann man nur etwas, an das man zumindest als Möglichkeit positiv denkt. Daß der Angeklagten die Möglichkeit, möglicherweise nicht mehr sicher fahren zu können, bewußt geworden ist, steht indes nicht fest” (5 NS 128/93).

Ein Kommentar zu dieser Rechtsprechung erübrigt sich nach dem bisher Ausgeführten. Dieses skrupulöse Herangehen an die Bejahung des Vorsatzes würde man sich bei anderen Deliktsgruppen (Hehlerei oder Betrug zum Nachteil der Arbeitsämter im Bereich der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse) öfter wünschen.

Daß für Trunkenheitsdelikte der “dolus eventualis" ausreicht, gerät dabei völlig in Vergessenheit, was auch erforderlich ist, weil sonst die Obergerichte in einen nicht zu lösenden Begründungsnotstand gerieten. Betrachtet man diese Rechtsprechung, kommt man zwingend zu dem Ergebnis, der Gesetzgeber habe etwas rechtlich Unmögliches normiert: Niedrige Alkoholisierungsgrade reichen für die Begründung des Vorsatzes noch nicht aus, höhere dagegen schließen ihn aus, eine “Zwischenzone” gibt es ersichtlich nicht, und so taucht der Begriff des Eventualvorsatzes in diesen Entscheidungen vorsorglich entweder gar nicht erst auf, bzw. wird eine intensivere Auseinandersetzung mit ihm strikt vermieden.

Daß das Gericht diese Rechtsprechung für falsch hält, hat es in einer Vielzahl von Entscheidungen dargelegt und begründet (vgl. z.B. sehr zutreffend und daher sehr lesens- und beherzigenswert: AG Rheine, DRiZ 1994, DRIZ Jahr 1994 Seite 101ff.; Der Amtsanwalt 1993, 10ff.; FAZ v. 22. 3. 1994).

Für den hier zu entscheidenden Fall ergibt sich aus dem zuvor Erörterten, daß der Angekl., der erkennbar nicht sinnlos betrunken war, ein so geübter Trinker sein muß (vgl. VGH Mannheim, 10 S 1568/92), daß er ganz sicher nicht vergessen hat, vor Fahrtantritt getrunken zu haben. Es war ihm dies auch, sonst wäre sein späteres Verhalten nicht erklärlich, bewußt, weil er sofort den oben beschriebenen Ursache-Wirkung-Zusammenhang in einer von ihm für sinnvoll gehaltenen Weise zu seiner Handlungsmaxime machte, so daß nicht zweifelhaft sein kann, daß er insgesamt vorsätzlich handelte.

IV. Zur Strafzumessung hat sich das Gericht von folgenden Überlegungen leiten lassen: Zugunsten des Angekl. hat das Gericht berücksichtigt, daß er bisher noch nicht, insbesondere nicht straßenverkehrsrechtlich, in Erscheinung getreten ist. Daß er sich zur Sache nicht eingelassen hat, ist zwar sein selbstverständliches Recht, was dem Gericht negativ zu würdigen untersagt ist, doch hätte es ihm gut angestanden, unumwunden zu seiner Tat zu stehen und deutlich zu machen, daß er sich mit seinem Fehlverhalten kritisch auseinandergesetzt habe. Sein Hinweis, sich “an nichts mehr zu erinnern”, ist eine reine Schutzbehauptung, denn sowohl in seinem Gespräch mit seinen Bekannten an der Unfallstelle, wie auch später bei der ärztlichen Untersuchung, war er zumindest hinreichend orientiert. Weiß er allerdings heute wirklich nichts mehr, so weist dies auf einen höchst bedenklichen Verdrängungsprozeß hin, der eine wirkliche Verarbeitung seines Verschuldens problemhaft verhindert.

Zu berücksichtigen waren darüber hinaus die erheblichen Verletzungen des minderjährigen Zeugen L, der sein Leben lang an den Folgen des Fehlverhaltens des Angekl. zu tragen haben wird. Schließlich war die besonders starke Alkoholisierung des Angekl. zu würdigen, die die Gefahren, die auch abstrakt von ihm ausgingen, deutlich über das Normalmaß steigen ließen. Ob der Angekl. eingeschränkt schuldfähig i.S. des § STGB § 21 StGB gehandelt hat, will das Gericht im Ergebnis offenlassen; zumindest war ihm jedoch eine erhebliche Senkung der Hemmschwelle infolge der trunkenheitsbedingten Überschätzung seiner Möglichkeiten zugute zu halten. Dies zusammen macht gleichwohl ein entschieden höheres als das “Standardstrafmaß" erforderlich, wobei das Gericht gemeint hat, dieses mit sechzig Tagessätzen schuld- und tatangemessen gefunden zu haben.

Dabei war zu berücksichtigen, daß insbesondere im Straßenverkehrsrecht unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenminimierung und der Hebung der bedauerlich laxen Moral, generalpräventive Überlegungen ein starkes Gewicht bekommen müssen. Diesen Bestrebungen wäre eine besondere Privilegierung des stark angetrunkenen Täters nicht gerade förderlich.

Was die Verkehrsunfallflucht (in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheitsfahrt) anlangt, hat das Gericht eine Anleihe bei Immanuel Kant gemacht, der gelehrt hat, die Philosophie könne vier Fragen beantworten, von denen hier nur die letzte interessieren soll: “Was ist der Mensch?" Diese Frage ist hier in einer Weise zu beantworten, der der Königsberger Professor, wenn auch sicher nicht ohne heftiges Magengrimmen, zustimmen würde: Der Mensch ist ein Fluchttier! Denn genauso verhielt sich der Angekl., wie schon weiland Adam und Eva, die sich nach dem Sündenfall auch versteckten. Zwar kannte der Angekl. selbstverständlich seine Pflichten, doch gelang es ihm, wie vielen Menschen in vergleichbaren Situationen, nicht, dem Gesetzesbefehl bzw. dem Gebot des kategorischen Imperativs zu folgen und an der Unfallstelle zu bleiben.

Diese Schwäche ist aber keine originäre, sondern eine, die sich für ein Fluchttier als Annex seines ersten Fehlverhaltens darstellt, d.h. es ist schon ein ganz erheblicher moralischer Impuls notwendig, um seiner Triebnatur nicht zu gehorchen, was nun aber gerade durch den Straftatbestand des § STGB § 142 StGB erzwungen werden soll. Ist die Flucht aber nur die Reaktion auf ein vorheriges Geschehen, so ist der Unrechtsgehalt, wenn auch moralisch in hohem Maße mißbilligenswert, gleichwohl zu relativieren. 

Dagegen zu halten war jedoch, daß der Angekl., der einen schweren Unfall verursacht hatte, von der Unfallstelle verschwand, woraus deutlich wird, daß er seinen Belange in einem unvertretbaren Maß den Vorrang gab und, prinzipiell, bereit war, den Verletzten sich selbst zu überlassen. Diesen Überlegungen folgend hat das Gericht insoweit auf eine Einsatzstrafe von “nur” vierzig Tagessätzen erkannt, und es hat aus diesen Einsatzstrafen eine Gesamtgeldstrafe von neunzig Tagessätzen gebildet ...

V. Durch sein Verhalten hat sich der Angekl. entschieden als zum Führen von Kraftfahrzeugen charakterlich ungeeignet erwiesen, so daß ihm ohne nähere Prüfung gem. § STGB § 69 StGB die Fahrerlaubnis zu entziehen war. Bei der Sperrfrist, die gem. § STGB § 69a StGB zu bemessen war, hat das Gericht die gleichen Überlegungen wie zur Strafzumessung herangezogen und daraus den Schluß gezogen, der Angekl. bedürfe einer erheblichen Zeit der charakterlichen Nachreife. Daraus folgt, daß die Straßenverkehrsbehörde anzuweisen war, diesem Verurteilten vor Ablauf von noch 12 Monaten eine Fahrerlaubnis nicht zu erteilen.

(Mitgeteilt von Richter am AG F. Kappelhoff, Rheine) 

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16 Kommentare

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Göttlich dieser Richter und seine Urteilsgründe,

Erinnert mich an einen Kölner Zivilrichter, der seine Urteile in Versform verfasste.

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selbstverliebter Richter, der nicht in der Lage war, die höchstrichterliche Rechtsprechung dazu zu verstehen und daher ein eitles Fehlurteil erließ. Eher für Karneval geeignet, als dass es denn als Klassiker dienen könnte. Vielleicht hätte er keine Nähe zu einer Verbindung suchen sollen.

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Sie sind sicherlich sehr belesen, ich ich wertschätze das sehr wohl. Was aber ist die Stoßrichtung der Diskussion, die sie entfachen wollen? Meinen Sie ernsthaft, nur weil man um die Wirkung von Drogen weiß, ist man in berauschtem Zustand gleichwohl juristisch als nüchtern zu betrachten, oder was? Es ist ja gerade die Aufgabe/Wirkung von Drogen/Alkohol ( es ging in Ihren Beispielen fast ausnahmslos um Drogen, die einfach nur schlecht übersetzt mit Alkohol gleichgesetzt wurden ) , dass sich ein Individuum so verhält, wie es das nüchtern nicht machen würde. 

 

Du Inbegriff der holden Scchlummersäfte

Du Auszug aller tödlich feinen Kräfte

Erweise deinem Meister deine Gunst!

Ich sehe dich, es wird der Schmerz gelindert,

Ich fasse dich, das Streben wird gemindert,

Des Geistes Flutstrom ebbet nach und nach

Ins hohe Meer werd`ich hinausgewiesen,

Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen,

Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.

 

Und ich wette, Goethe war besoffen, als er das geschrieben hat. Schon klar, Drogen sind den Juristen ein Graus, aber sie schlichtweg zu verteufeln? Ohne Sie wäre ein großer Teil der großen Kunst, die Sie ja anscheinend schätzen, gar nicht entstanden. Wenn man in einem derartigen Zustand Scheiße baut, muss auch Strafe her, dàccord, aber die Handlung ist gerade nicht von dem Vorsatz getragen, den man in nüchternem Zustand hat. Zudem ist zumindest Alkohol in D nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Wären alle Abstinenzler, ich will gar nicht über die Steuerausfälle nachdenken.

Ich werfe Ihnen eine Doppelmoral vor.

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  • “Ich grüße dich, du einzige Phiole,.....

  • du Inbegriff der holden Schlummersäfte, .....

  • Ich sehe Dich: es wird der Schmerz gelindert,

  • Ich fasse Dich: das Streben wird gemindert.....

  • des Trinkers Pflicht, sie reimweis' zu erklären,

  • auf einen Zug die Höhlung auszuleeren,

  • erinnert mich an manche Jugendnacht. .....

  • Hier ist ein Saft, der eilig trunken macht."

  • (Faust I, Nacht)

 

Ps: Trau keinem Zitat, das Du nicht selbst gefälscht hast.

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es sei denn, sehr theoretisch, er sei sinnlos betrunken, was nicht zur Fahrlässigkeit, sondern zur Bestrafung wegen vorsätzlicher Rauschtat gem. § STGB § 323a StGB führt.

Was aber meines Wissens schon bei 2,0 regelmäßig anzunehmen ist.

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Der Gesetzgeber ist, wie die gesetzlichen Formulierungen unschwer ergeben, vom Vorsatz als Regelfall ausgegangen.

Tolle Aussage. Der Gesetzgeber ist bei allen (ich korrigiere, fast ) allen Strafnormen von Vorsatz ausgegangen. Und aus gutem Grund.

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Ich muß Ihnen sogar Recht geben. Wenn sich Menschen in ihr Auto setzen, nehmen, sie u U billigend in Kauf, ihr Fahrzeug später betrunken zu fahren. Was Vorsatz ( 2. Grades ) ist. Aber dann sind wir doch mal konsequent: Der Grundsatz: in dubio pro reo gehört abgeschafft..

(für den undedarften Leser: ich meine das nicht so. Ich spiel advokatus diavoli.

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Und wenn wir schon mal dabei sind, ich halte diese ganzen Vorsatzregeln auch für Quatsch. Aber Sie sind Richter. Jurisdiktion. Sie haben sich an die Gewaltenteilung zu halten.

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“Bewußt in Kauf nehmen kann man nur etwas, an das man zumindest als Möglichkeit positiv denkt.

Das ist zugegebenermaßen Quatsch. Oder ( ich denke, sie verstehen Latein ) ein contradictio in adjecto.

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weil er sofort den oben beschriebenen Ursache-Wirkung-Zusammenhang in einer von ihm für sinnvoll gehaltenen Weise zu seiner Handlungsmaxime machte, so daß nicht zweifelhaft sein kann, daß er insgesamt vorsätzlich handelte.

Als Anwalt würde ich dies bis aufs bitterste bestreiten.

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IV. Zur Strafzumessung hat sich das Gericht von folgenden Überlegungen leiten lassen: Zugunsten des Angekl. hat das Gericht berücksichtigt, daß er bisher noch nicht, insbesondere nicht straßenverkehrsrechtlich, in Erscheinung getreten ist. Daß er sich zur Sache nicht eingelassen hat, ist zwar sein selbstverständliches Recht, was dem Gericht negativ zu würdigen untersagt ist, doch hätte es ihm gut angestanden, unumwunden zu seiner Tat zu stehen und deutlich zu machen, daß er sich mit seinem Fehlverhalten kritisch auseinandergesetzt habe. Sein Hinweis, sich “an nichts mehr zu erinnern”, ist eine reine Schutzbehauptung, denn sowohl in seinem Gespräch mit seinen Bekannten an der Unfallstelle, wie auch später bei der ärztlichen Untersuchung, war er zumindest hinreichend orientiert. Weiß er allerdings heute wirklich nichts mehr, so weist dies auf einen höchst bedenklichen Verdrängungsprozeß hin, der eine wirkliche Verarbeitung seines Verschuldens problemhaft verhindert.

In dubio pro reo ? Ihnen müssen die Gesetze nicht gefallen. Sie müssen sie anwenden.

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Zu berücksichtigen waren darüber hinaus die erheblichen Verletzungen des minderjährigen Zeugen L, der sein Leben lang an den Folgen des Fehlverhaltens des Angekl. zu tragen haben wird. Schließlich war die besonders starke Alkoholisierung des Angekl. zu würdigen, die die Gefahren, die auch abstrakt von ihm ausgingen, deutlich über das Normalmaß steigen ließen. Ob der Angekl. eingeschränkt schuldfähig i.S. des § STGB § 21 StGB gehandelt hat, will das Gericht im Ergebnis offenlassen; zumindest war ihm jedoch eine erhebliche Senkung der Hemmschwelle infolge der trunkenheitsbedingten Überschätzung seiner Möglichkeiten zugute zu halten. Dies zusammen macht gleichwohl ein entschieden höheres als das “Standardstrafmaß" erforderlich, wobei das Gericht gemeint hat, dieses mit sechzig Tagessätzen schuld- und tatangemessen gefunden zu haben.

 

Und dann ein derart lasches Urteil. Ich werfe Ihnen Doppelmoral vor.

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Was die Verkehrsunfallflucht (in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheitsfahrt) anlangt, hat das Gericht eine Anleihe bei Immanuel Kant gemacht, der gelehrt hat, die Philosophie könne vier Fragen beantworten, von denen hier nur die letzte interessieren soll: “Was ist der Mensch?" Diese Frage ist hier in einer Weise zu beantworten, der der Königsberger Professor, wenn auch sicher nicht ohne heftiges Magengrimmen, zustimmen würde: Der Mensch ist ein Fluchttier! Denn genauso verhielt sich der Angekl., wie schon weiland Adam und Eva, die sich nach dem Sündenfall auch versteckten. Zwar kannte der Angekl. selbstverständlich seine Pflichten, doch gelang es ihm, wie vielen Menschen in vergleichbaren Situationen, nicht, dem Gesetzesbefehl bzw. dem Gebot des kategorischen Imperativs zu folgen und an der Unfallstelle zu bleiben.

Ohne Worte. Kant würde sich im Grab umdrehen.

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Diese Schwäche ist aber keine originäre, sondern eine, die sich für ein Fluchttier als Annex seines ersten Fehlverhaltens darstell

Ohne Worte.

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